Medizin Altlasten im Krankenbett
Ihm komme es vor wie "eine mittlere Katastrophe", sagt der Hautarzt. In seiner Erfurter Praxis hat der Mann seit 25 Jahren kaum je soviel Andrang erlebt wie in den letzten Wochen.
Scharenweise warteten die Patienten vor dem Untersuchungszimmer. Mal zeigten sie häßliche Pusteln auf dem Dekolleté, mal kratzten sie sich ständig an knallrot verfärbten Ohrmuschelrändern, dann wieder entstellten pickelige Ringe um die Augen ihr Gesicht.
Beinahe jeder zweite Praxisbesucher wies derlei Symptome auf. Der Erfurter Hautarzt, der aus Rücksicht auf seine Patienten nicht genannt werden will, stellte stets die gleiche Diagnose: Photodermatitis pigmentaria, landläufig Sonnenallergie genannt.
Das Leiden taucht vornehmlich in Hitzeperioden auf. Daran, daß es neuerdings so viele Ostdeutsche plagt, ist jedoch nicht allein die Sonne schuld. Experten bringen die Krankheit auch in Zusammenhang mit den politischen Umwälzungen der letzten Jahre - stärker noch als das Wetter wirke die Wende.
Zu DDR-Zeiten war die Pickelplage ein Exotikum. Doch etwa seit 1990, berichtet der Erfurter Hautarzt, habe sich - "vorsichtig geschätzt" - die Anzahl der Fälle "mindestens verdoppelt". Gleiches beobachten Wissenschaftler bei Asthma und Heuschnupfen, auch diese Allergien breiten sich derzeit rapide im Osten aus.
Solcherart Phänomene sind kuriose Spätfolgen der Einheit. Nach Währungsunion, Lohnanpassung und Mietenharmonisierung gleichen sich allmählich auch die Krankheitsbilder an. Ob Hautekzeme oder Hämorrhoiden, Magersucht oder Heuschnupfen: immer häufiger fallen im Osten Krankheiten auf, die bislang vornehmlich im Westen verbreitet waren. Hingegen nehmen alte Ostgebrechen wie Lungenleiden und Bronchitis in manchen Regionen merklich ab. Deutschland rückt zusammen - im Krankenbett.
Im Zeitraffer holen die Ostdeutschen jetzt Entwicklungen nach, die im Westen im Laufe von Jahrzehnten vonstatten gingen. Ursache sind die Veränderungen in Umwelt und Lebensstil seit dem Zusammenbruch der DDR.
Da wendet sich nicht alles zum Besseren, manch einer fühlt sich von der neuen Zeit überrollt. Psychosomatisch ausgerichtete Krankenhäuser, die nach der Wende in Ostdeutschland eröffnet wurden, sind ausgelastet. Der Psychoanalytiker Reinhard Plassmann, Chef der Burg-Klinik im thüringischen Stadtlengsfeld, beobachtet bei seinen Patienten "eine massenhafte Welle des depressiven Rückzugs".
Wie auf einer behüteten Arche waren die Ostdeutschen lange Zeit von im Westen grassierenden Zivilisationskrankheiten verschont geblieben. Beim Fall der Mauer ließen sich die wenigen Aidskranken in der DDR fast an zwei Händen abzählen, es gab kaum Drogensucht und wenige Neurosen. Ostdeutsche Frauen litten seltener an Brustkrebs, die Männer erkrankten weniger häufig an bösartigen Dickdarmgeschwüren.
Andererseits waren Schnapskonsum und Tablettenmißbrauch weit verbreitet. Im Vergleich zu Westdeutschland gab es sehr viel mehr Fälle von Bluthochdruck und Atemleiden, die Leute starben öfter an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Und generell war die Lebenserwartung der Ostdeutschen mit durchschnittlich 70 (Männer) und 76,3 Jahren (Frauen) um mehr als zweieinhalb Jahre kürzer als die der Bundesbürger im Westen.
Gleich nach der Wende schwärmten die ersten Gesundheitsforscher in den Osten aus. In den ostdeutschen Innenstädten installierten sie Staubsonden und stellten unter Alleebäumen Pollenfallen auf; sie zapften das Blut von Grundschülern ab und ließen Erwachsene in Lungenprüfgeräte blasen.
Die ersten Befunde, 1992 ausgewertet, schienen verblüffend. Zwar litten die ostdeutschen Probanden häufiger an Bronchitis. Doch waren sie trotz dreckiger Luft, verseuchten Wassers und teils vergifteter Äcker offenbar weniger anfällig für Allergien als die Westbürger. Ob im Vergleich zwischen Erfurt und Hamburg oder Leipzig und München, stets klagten nur etwa halb so viele Ostdeutsche über Asthma oder Heuschnupfen.
Doch letzten Herbst, als die Untersuchungen in Hamburg und Erfurt wiederholt wurden, bot sich ein anderes Bild (siehe Grafik). Unter den Bewohnern der thüringischen Landeshauptstadt war die Anfälligkeit für Allergien plötzlich enorm gestiegen, um 20 bis 50 Prozent.
"Solche Steigerungsraten sind eigentlich viel zu hoch", erläutert Heinz-Erich Wichmann, der als Chef des Instituts für Epidemiologie im Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit (GSF) in Neuherberg die meisten Ost-Untersuchungen aus der Ferne überwacht: "Zu erwarten wäre eine sanftere Anpassung." Deshalb hat der Professor gewisse Zweifel, "ob das ein echter Effekt ist". Möglich sei auch, daß manch simple Erkältung, nur weil es Mode ist, jetzt als Heuschnupfen bezeichnet wird.
Das wollen die Forscher mit weiteren Studien klären - zum Beispiel mit einem großangelegten Gesundheitstest unter Kindern aus Bitterfeld und den sachsen-anhaltinischen Kleinstädten Hettstedt und Zerbst.
Vor drei Jahren waren die Kleinen schon einmal untersucht worden, damals hatten die Forscher einen Teil des Blutserums eingefroren. Unterm Mikroskop sollen alte und neue Proben nun verglichen werden, um etwaige Fehlentwicklungen im Immunsystem aufzuspüren.
Doch viele Veränderungen bei den mittlerweile 11- bis 13jährigen Kindern sind auch ohne Mikroskop erkennbar, manches fällt schon ins Auge, wenn die Forscher nur in die Wohnungen der Probanden gehen.
Wo die Kinder früher beispielsweise brav warteten, bis sie an der Reihe waren, da rütteln jetzt viele aggressiv an der Tür des Untersuchungsbusses. Wenn die Kids in den Lungenapparat blasen, sind die Atemwege nicht von einer durchgestandenen Bronchitis belegt, sondern von den Resten der letzten Zigarette.
"Rauchen in dem Alter, das gab''s früher nicht", meint kopfschüttelnd eine ostdeutsche Mitarbeiterin, und "so nervös" seien die Kinder auch nicht gewesen. Daheim bei den Eltern stehen jetzt Stereoanlagen und Videorecorder in der Schrankwand. Häufig sind die alten zugigen Fenster durch dicht schließende Plastikrahmen ersetzt, der Fußboden ist mit neuer Teppichware ausgelegt.
"Beste Bedingungen für Schimmelpilz und Hausstaubmilbe", resümiert GSF-Forscher Joachim Heinrich. Dem Epidemiologen, Leiter der Untersuchungen in Hettstedt, Zerbst und Bitterfeld, erscheint es naheliegend, daß manch schöne neue Wohnwelt die Allergieanfälligkeit im Osten fördere. Hingegen halten Leipziger Forscher den stark angestiegenen Autoverkehr für einen Hauptauslöser der neuen Ost-Allergien.
Bei Schadstoffmessungen und Gesundheitstests in der Messestadt haben sie festgestellt, das Bewohner verkehrsreicher Stadtregionen fast doppelt so häufig an Asthma leiden wie solche, die in ruhigeren Zonen leben. Indessen haben Kinder aus Gegenden, wo noch in vielen Wohnungen Braunkohle in den Zimmeröfen schwelt, um das Eineinhalbfache häufiger Bronchitis.
Nach den ersten Tests vor drei Jahren hatten Forscher die Hypothese aufgestellt, die seinerzeit auffällig geringe Allergieneigung im Osten könne mit den DDR-typischen Kinderkrippen zusammenhängen. Kinder in großer Zahl lebten in diesen Einrichtungen auf engem Raum zusammen; durch entsprechend häufige und frühe Infektionen, so die Mutmaßung der Wissenschaftler, sei das Immunsystem der Kinder regelrecht trainiert worden. Mangels übertriebener Hygiene hätten die Kleinen bereits allerlei Angriffen von Parasiten widerstanden und seien dadurch abgehärtet.
Für diese sogenannte Urwald-These sprach zunächst, daß im Blut vieler Ostkinder der Gesamtimmunwert erhöht war. Doch wissen die Forscher bis heute nicht, welchen Einfluß dieser allgemeine Blutwert auf die spezielle Allergie-Anfälligkeit hat. Denn im Zusammenhang mit Asthma oder Heuschnupfen werden andere, spezielle Immunsensoren aktiviert. Die These blieb umstritten.
Einflüsse von Autoabgasen und Schadstoffen in den Wohnungen erscheinen den Forschern plausibler. In Westdeutschland wird seit der Ölkrise Mitte der siebziger Jahre ein drastischer Anstieg von Asthma, Heuschnupfen und allergischen Hautekzemen beobachtet: Damals kamen Isolierfenster und luftdichte Wanddämmungen in Mode, in den Jahren danach schnellte der Autoverkehr gewaltig hoch.
Auf den Straßen und in den Wohnzimmern Ostdeutschlands wird nun seit der Wende zielstrebig aufgeholt - und folgerichtig wohl auch in den Krankenbetten.
Dichte Schwefelschwaden hatten die Oststädte zu DDR-Zeiten eingenebelt. Doch nach neuesten Erkenntnissen von Erfurter Forschern um den GSF-Mann Heinrich ist nicht einmal ausgemacht, ob die vergleichsweise saubere Westluft wirklich gesünder ist. Mit ihren Staubsonden fangen die Erfurter nun schon seit Jahren die Dreckpartikel aus der Umgebung ein.
Ihr Befund: Die dicken Rußklumpen von einst gingen zwar auf die Bronchien, doch sie waren zu groß, um in der Lunge ernsthafte Schädigungen hervorzurufen. Hingegen können die winzigen Partikel, die jetzt zu Millionen und Abermillionen als Rückstände von Auto- und Industrieabgasen vom ostdeutschen Himmel rieseln, bis in die hintersten Lungenbläschen vordringen und dort irreparable Schäden anrichten.
Beobachtungen, Laborwerte, Arbeitsthesen - Beweise aber gibt es nicht. "Letztlich ist das Stochern im Blauen", sagt GSF-Forscher Heinrich. Seinen Kollegen in den anderen Disziplinen geht es kaum anders: Viele Befunde aus dem Großbiotop Ex-DDR sind den Gesundheitsforschern kaum erklärlich.
So war nach der Wende zunächst die Lebenserwartung der Ostmänner noch einmal um etwa zweieinhalb Monate gesunken - mit dem Anstieg der Verkehrsunfälle allein konnte das nicht zusammenhängen, doch eine andere Erklärung haben die Statistiker nicht.
Den Zahnmedizinern gibt die Entwicklung der Karies bei Kindern Rätsel auf. In den ersten Jahren nach der Einheit häuften sich bei den ganz Kleinen die Löcher in den Milchzähnen. Das war erklärbar, mit den süßen Fertigtees aus dem Westen.
Nachdem die zu DDR-Zeiten übliche Beimengung von Fluor im Trinkwasser gestoppt worden war, rechneten die Forscher sogar mit einem generellen Anstieg der Karies im Osten. Doch nun belegen neueste Zahlen das Gegenteil: Der böse Zahnfraß nimmt in Ostdeutschland weiter ab, auch ohne Vorsorge.
Noch schwieriger ist es für Analytiker und Psychologen, die verborgenen Verletzungen in den Seelen der Menschen zu ergründen. In der Burg-Klinik Stadtlengsfeld beobachtet der Krankenhauschef Plassmann ein Leiden, das in immer neuer Verkleidung daherkommt. Patienten klagen über chronische Kopf- und Rückenschmerzen, Schlafstörungen und Angstpsychosen.
Dahinter steckt zumeist ein krankheitsauslösender "innerer Rückzug", wie ihn Plassmann nennt: "Die Patienten glauben nicht mehr, daß sie ihr Leben bewältigen können, wollen möglichst gleich in Rente oder gar sterben." Der Psychologe, der neben seiner Tätigkeit in Thüringen auch als Professor in Kassel arbeitet, schätzt, daß diese Art Depressionen im Osten derzeit etwa viermal häufiger auftaucht als in Westdeutschland.
Betroffen sind oftmals Arbeitslose und Langzeitkranke, aber auch tatkräftige Berufstätige und jüngere Leute. Der von vielen Ostdeutschen erlebte "Selbständigkeitsstreß" (Plassmann) löse bei Frauen überdies immer häufiger Magersucht aus, eine Krankheit, die es in der DDR praktisch nicht gab.
Zunehmend haben die Psychoärzte jetzt auch mit Spielsüchtigen zu tun. Es sind meist junge Leute, die in den allerorten neu errichteten Spielsalons "ihre innere Trostlosigkeit kompensieren", wie Plassmann meint.
Seinem Kollegen Hans-Joachim Maaz aus Halle ist noch ein anderes Krankheitsmuster aufgefallen. In seine Klinik kommen viele Patienten, bei denen längst vernarbte Psychowunden wieder aufgebrochen sind. Ob frühkindliche Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung, unverarbeitete Verlustängste oder gar die Erfahrung von erlittenem Kindesmißbrauch - plötzlich werden Situationen erneut durchlebt, die lange verdrängt und vergessen waren.
Bei solchen Menschen, glaubt der Ostdeutsche Maaz, habe "der Wendestreß" in der Seele "längst abgelegte Traumata wachgerüttelt". Neue Verunsicherungen hätten alte Kränkungen ans Licht gebracht, die nur mit ärztlicher Hilfe bewältigt werden können.
"Der Westen hat eine Ost-Altlast geöffnet", erläutert der Psychoanalytiker Maaz, "mit der die Leute jetzt nicht fertig werden."
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Zunahme der Atemwegserkrankungen bei Ostdeutschen
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