13.03.1995
„Alle wissen nichts“
Als es die DDR noch gab, ließ sich Erich Mielke einmal pro Jahr gründlich von Kopf bis Fuß untersuchen, durch den "Medizinischen Dienst" seines eigenen Ministeriums. Am Ende des Drei-Tage-Checks versammelten sich auf Wunsch des Patienten alle Beteiligten rund ums Bett. Dann meldete der Stasi-Generalarzt Klaus-Wolfgang Klein, Hände stramm am weißen Kittel: "Genosse Minister, Sie sind voll dienstfähig."
Das freute den alten Mann so sehr, daß er sich die frohe Botschaft von allen Anwesenden gleich ein dutzendmal bestätigen ließ. Selbst die jüngste Krankenschwester wurde um ihr Urteil gebeten. "Und was sagst du?" - "Voll dienstfähig, Genosse Minister."
So gut waren die Nachrichten zuletzt am Donnerstag, dem 26. Januar 1989. Seither stimmen seine zahllosen Begegnungen mit Heilkundigen den Betreuten eher mürrisch.
Erich Mielke, Deutschlands ältester Gefangener, war zugleich auch der meistuntersuchte. Seit seiner Inhaftierung am 8. Dezember 1989 hat er sechs Krankenstationen von innen kennengelernt und mehrere Dutzend Ärzte ertragen müssen. Hunderte von Befunden sind an ihm erhoben worden.
Als erster revidierte Generalarzt Klein, Herrscher über gut 2200 hauptberufliche Stasi-Weißkittel, sein Urteil. Befragt, ob der gerade entlassene Minister Mielke haft- und vernehmungsfähig sei, verneinte Klein für den "mir langjährig bekannten Patienten". Mielke zeige, schrieb er am 6. Dezember 1989, "deutliche Zeichen der Alterung an den Gefäßen" und habe deshalb Durchblutungsstörungen. Diese seien früher "in seinem gewohnten Arbeitsmilieu kompensiert" gewesen. Aber: _____" Durch den Wechsel des Milieus und die verschiedenen " _____" psychischen Belastungen ist es zu einer Dekompensation " _____" der durch diese Alterungsvorgänge an den Gefäßen " _____" bedingten Durchblutungsstörungen gekommen, was sich in " _____" zumindest zeitweiliger Verwirrtheit widerspiegelt. "
Das hinderte die Deutsche Volkspolizei nicht, den Mann am nächsten Morgen in Wandlitz festzunehmen. Einen Tag später lag er, gut bewacht, schon im Leipziger Krankenhaus des Strafvollzugs.
Die sächsischen Ärzte besahen sich den "82jährigen Patienten in altersentsprechendem Allgemein- und Ernährungszustand" zwei Tage lang. Dann waren sie sicher, daß Mielke "in einem guten Gesundheitszustand ist", weder verwirrt noch depressiv oder gar selbstmordgefährdet, also ohne weiteres haft- und vernehmungsfähig. Ab mit ihm nach Berlin.
In der Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße im Ost-Berliner Stadtbezirk Mitte nahmen neue Ärzte den prominenten Häftling unter ihre Fittiche. Täglich wurden ihm der Puls gefühlt - 60 bis 70 Schläge pro Minute, regelmäßig, gut gefüllt - und der Blutdruck gemessen. Der hat sich in den Gefängnisjahren nicht geändert; die Durchschnittswerte betragen 130 / 80 mm Quecksilbersäule. Um diese Werte können die meisten Gleichaltrigen den Häftling Mielke nur beneiden.
Wegen seines leicht erhöhten Harnsäurespiegels und der dadurch bedingten Neigung zur Gicht wurde Mielke auf fleischarme Diät gesetzt. Die bekommt ihm. Der kleine Mann - 1,63 Meter groß, 70 Kilogramm schwer - hat sein Gewicht gehalten. Nichtraucher ist er seit Jahrzehnten, Alkohol hat er nie gemocht. Das zahlt sich jetzt aus. Solange er Minister war, begann Mielke jeden Tag mit Frühsport und einem halbstündigen Schwimmtraining, auch noch als 81jähriger.
Daß er vom 9. März bis 26. Juli 1990 von der Untersuchungshaft verschont wurde, verdankte der robuste Gefangene nicht seinen Gebrechen, sondern der Regierung des CDU-Mannes Lothar de Maiziere ("IM Czerni"). Die DDR-Militärstaatsanwälte gaben aber keine Ruhe. Im Juni 1990 mußte sich Mielke zwölf Tage lang von zwei internistischen Koryphäen untersuchen lassen, anschließend sondierten drei Psychiater und zwei Psychologen sein seelisches Befinden.
Die Internisten - beide mit Professoren-, Chefarzt- und Medizinalrattiteln ausgestattet - erkannten eine "generalisierte Arteriosklerose", einen kleinen Nierenkelchstein links und eine Neigung zu vorübergehenden Herzrhythmusstörungen, der sie jedoch keine Bedeutung beimaßen.
Ihr Urteil: "Aus internistischer Sicht ist der Patient haftfähig." Dabei spielte keine Rolle, daß die beiden Heilkundigen eine leichte Verbiegung der Wirbelsäule nach rechts ("Skoliose") übersahen, die früher Mielkes Uniformschneidern viel Kummer gemacht hat. Die Professoren: "Wirbelsäule ohne Befund".
Mit mehr Liebe zum Detail machten sich die fünf Seelenheilkundler ans Werk. Angesichts der körperlichen Robustheit des Patienten war die Frage, ob er womöglich seelisch ein Wrack sei, von prozeßentscheidender Bedeutung. In den fünf Jahren, die der gefürchtete Geheimpolizist hinter Gittern verbracht hat, sind ihm viele Psycho-Diagnosen attestiert worden, jedem Doktor fiel irgend etwas anderes auf.
Mal erschien Erich Mielke den Psycho-Gutachtern als "reaktiv verstimmt" (also mürrisch, weil er eingesperrt ist), mal als "subdepressiv" (leicht schwermütig), einigen auch als "suizidal" (selbstmordgefährdet). Eine im Osten beheimatete Gerichtspsychologin nannte ihn schlicht "Simulant".
Mielke hat von Anfang an die Psychokarte gespielt, nur beherrscht er - weil er ja kein erfahrener Knastbruder ist und vor seinem 82. Lebensjahr niemals einem Psychologen Rede und Antwort stehen mußte - die Spielregeln nicht. "Meine Person geht niemanden etwas an", herrschte er im alten Kommandoton seine Charite-Gutachter an. Einmal in Fahrt, offenbarte er seine konspirative Planung in drei Sätzen voller Kraft: "Niemand weiß etwas über mich. Niemand erfährt etwas über mich. Alle wissen nichts."
Nachdenklich einigten sich die fünf Psycho-Weisen am 20. Juni 1990 darauf, daß ihr Patient ein "widersprüchliches Gesamtbild" biete, jedoch: _____" In bezug auf das biologische Alter finden sich " _____" Hinweise für eine Hirnleistungsschwäche, die das " _____" Altersmaß überschreiten und sich in der reduzierten " _____" Dauerbelastbarkeit, der erschwerten Umstellfähigkeit und " _____" den herabgesetzten mittelfristigen Gedächtnisfunktionen " _____" manifestieren. Psychisch können innere Unruhe und " _____" Erregungszustände sowie Mißtrauensverstärkung, " _____" Gereiztheit sowie Abwehr und Spannungsphänomene " _____" auftreten. "
Trotz dieser Diagnose wurde er wieder eingesperrt und sitzt seither ohne Unterbrechung. Der Internist Dr. med. Frank Mielke, Sohn des Arrestanten, urteilt kurz und knapp: "Mein Vater leidet unter Altersschwachsinn."
Der nächste Gutachter - ein Universitätsprofessor für Rechtsmedizin, erstmals ein West-Arzt - konnte diese Diagnose "aus eigener Sicht nicht bestätigen". Neben den bekannten organischen Leiden hörte der Rechtsmediziner jedoch zusätzlich ein auffälliges Atemgeräusch, hervorgerufen durch eine mäßiggradige Vergrößerung der Schilddrüse.
Im übrigen gewann der Professor nach vielen Besuchen bei Herrn Mielke den Eindruck einer "stabilisierten gesundheitlichen _(* In Zelle 207 des Haftkrankenhauses ) _(Plötzensee. ) Situation". Bei der Verschlossenheit des alten Mannes handele es sich überwiegend um einen "steuerbaren und gesteuerten Rückzug". Andererseits: _____" Auch ohne eine innere Beziehung zur Haftsituation " _____" kann es ohne weiteres jederzeit zu schwerwiegenden akuten " _____" gesundheitlichen Störungen kommen, die angesichts des " _____" Alters des Herrn Mielke grundsätzlich mit einer Gefahr " _____" für das Leben verbunden sind. Dasselbe gilt natürlich für " _____" jede Vernehmungs- bzw. Verhandlungssituation. "
Dieses "nicht ganz zu vernachlässigende Risiko", der über 80jährige könne "im Sinne einer Gelegenheitsursache einen akuten, auch tödlichen Zusammenbruch erleiden", schwebte seither über dem alten Tschekisten und seinen Richtern.
Das Berliner Kammergericht als Haftprüfungsinstanz hat ihn trotzdem nicht freigelassen, obwohl der grantelnde Alte Jahr für Jahr von weiteren Gutachtern abgeklopft und ausgehorcht wurde. Der Angeklagte, erkannten die Richter aus eigener Urteilskraft, sei als "Minister für Staatssicherheit mit den Regeln konspirativer Lebensweise und den Verhaltensstrategien für Personen in Haft und vor Gericht vertraut". Die vielen ärztlichen und psychologischen Diagnosen blieben unbeachtet.
Die mittlere Lebenserwartung seiner ehemaligen Untertanen hat der Sicherheitsminister inzwischen um 17 Jahre übertroffen. Nach der "Absterbeordnung" der Lebensversicherer bleiben dem 87jährigen noch 3,9 Jahre, statistisch gesehen. Doch die Statistik erlaubt keine Vorhersage des Einzelschicksals: Mielke kann morgen sterben - oder 100 Jahre alt werden.
* In Zelle 207 des Haftkrankenhauses Plötzensee.
DER SPIEGEL 11/1995
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