PIRATEN Unter Zombies
Die Zombies verfolgen Bernd Schlömer nun, am Dienstag sogar bis in die Kantine. Die Frau hinter der Theke hat den Piraten-Chef erkannt, sie grinst. "Können Sie mir mal die Sache mit den Zombies erklären?", fragt sie. Schlömer lächelt schmal. Gut möglich, dass er die Berliner Piraten-Fraktion gerade ins Reich der Untoten wünscht.
"Ist Berlin für den Fall einer Zombie-Katastrophe gerüstet?" - mit dieser parlamentarischen Anfrage fielen die Hauptstadtpiraten vergangene Woche auf. Es sollte kein Blödsinn sein, in den USA hatte die Seuchenschutzbehörde einen Zombie-Comic veröffentlicht, um Jugendliche für den Katastrophenschutz zu interessieren. Doch am Ende blieb der Eindruck, die Berliner Piraten seien eine Nonsens-Fraktion. Bernd Schlömer steht in der Kantine, er seufzt. Nicht alles, was ihre Landtagsabgeordneten täten, diene unbedingt der Sache der Piraten, sagt er.
Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl hat die Entfremdung zwischen Landtagsfraktionen und Parteivorstand einen Höhepunkt erreicht. Im bundesweiten Piraten-Hype war die Partei zwischen September 2011 und Mai 2012 in Berlin, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und im Saarland ins Parlament eingezogen, mit großen Erwartungen. Die Landtagsfraktionen sollten "Kraftwerke der Partei" werden, hatte Schlömer damals gesagt, mit Schubkraft auch für die Bundespartei. Inzwischen sieht er kaum noch Impulse, die über das jeweilige Bundesland hinausweisen. Die Idee ist im parlamentarischen Alltag zerbröselt.
Umgekehrt lassen auch die Fraktionsmitglieder kaum Gelegenheiten aus, zur Parteispitze auf Distanz zu gehen. Aus ihrer Sicht ist der verkrachte Bundesvorstand schuld an den seit Monaten miesen Umfragewerten. "Die Leute haben den Eindruck, die streiten sich doch nur", sagt Patrick Breyer, Fraktionschef in Schleswig-Holstein. Immer deutlicher grenzen sich die Parlamentspiraten vom Bund ab, sie regionalisieren sich. Die Macht, die sie in den Ländern ergattert haben, wollen die Piraten halten, zur Not auch gegen die Bundespartei. Im Jahr der Bundestagswahl ähneln die Piraten den Freien Wählern, die bestenfalls dort stark sind, wo Bundespolitik keine Rolle spielt.
Der Kieler Landtag ist ein schöner Ort, er liegt direkt am Wasser, vom gläsernen Plenum aus blicken die Abgeordneten weit über die Förde. Vergangenes Wochenende lud die Piraten-Fraktion ihre Kollegen aus den Ländern hierher zum Workshop. Bei Erdnüssen und Apfelsaft wurde bald klar, dass die Länderpiraten in grundsätzlichen Fragen mit der Parteispitze über Kreuz liegen. Während sich Parteichef Schlömer seit Monaten zur Schuldenbremse bekennt, geißelte Torge Schmidt, Abgeordneter aus Kiel, die "brandgefährliche Haushaltspolitik von Wolfgang Schäuble". Am Ende lehnten die Fraktionen den Begriff Schuldenbremse per Erklärung ab.
Joachim Paul, Chef der 20-köpfigen NRW-Fraktion, stellte in Kiel gar die gesamte politische Ausrichtung der Partei in Frage. Schlömer und andere Vorstandsmitglieder sehen die Piraten als sozial-liberale Kraft. "Wollen wir das wirklich sein?", fragte Paul und guckte zweifelnd in die Runde. "Wir als Praktiker in den Landtagen sollten selbst unser Programm schärfen, das geht zur Not auch ohne Bundespartei. Ich will nicht mehr rumeiern, wenn ich gefragt werde, was wir wollen."
Welche Richtung die Piraten dabei ansteuern, ist jedoch längst nicht klar. Die Partei zerfasert, jede Landtagsfraktion macht ihr eigenes Ding. Die Schleswig-Holsteiner wollen mit Datenschutz und Bürgerrechten auffallen, die NRW-Piraten sehen ihren Schwerpunkt bei Haushalt und Bildung. Die Berliner wollen ein Transparenzgesetz vorantreiben, und für die kleine Fraktion im Saarland ist es schon ein Erfolg, wenn eine Anfrage beim Innenministerium zum Thema Drohnen in der Regionalpresse auftaucht.
Eine Ideenwerkstatt für den Bund sind die Fraktionen nicht geworden. Das monatliche Mumble, in dem die Mitglieder der Landtagsfraktionen sich in einer Art Telefonkonferenz mit dem Bundesvorstand besprechen, hat kaum noch Relevanz. Zum Treffen der Fraktionen in Kiel reiste Schlömer gar nicht erst an.
Der Plan, die Landtagsfraktionen als Blaupause für eine künftige Bundestagsfraktion zu nutzen, ist nicht aufgegangen. Eine schlüssige Strategie für die Bundestagswahl erwächst aus dem Themenwirrwarr der Landespiraten nicht. Doch vom Ziel, im Herbst in den Bundestag einzuziehen, sind manche der Parlamentarier ohnehin längst abgerückt.
"Damit rechne ich eher in einem Zeitraum von 20 Jahren", sagt der Berliner Abgeordnete Martin Delius, der selbst seit eineinhalb Jahren im Parlament sitzt. "Wir sind noch keine Partei, wir sind ein langfristiges Projekt."
Parteichef Schlömer hat seine Erwartungen an die Parlamentarier auch drastisch heruntergeschraubt. Er sieht ihre Aufgabe darin, die Parteifreunde im Fall einer Wahlniederlage zu trösten. Sollten die Piraten nicht in den Bundestag kommen, werde eine Depressionsphase eintreten, sagt Schlömer. Dann müssten die Landtagsabgeordneten die anderen auffangen.