JUSTIZ Mäzene in Roben
Das Strafverfahren 4212 Js 1284/12 ist nicht geeignet, einen Beteiligten glücklich zu machen. Nicht die beiden Beschuldigten: einen Bundespräsidenten, der keiner mehr ist, und einen Freund, der noch immer ein Freund ist, aber kaum noch eine Hilfe. Und auch nicht den Ermittler: Oberstaatsanwalt Clemens Eimterbäumer, der seit mehr als einem Jahr Christian Wulff, David Groenewold und den finanziellen Verquickungen der beiden nachspürt.
Doch wenn alles so kommt, wie es Eimterbäumer vorgeschlagen hat, wird es demnächst womöglich wenigstens einen glücklichen Gewinner geben. Eine gemeinnützige Einrichtung als Empfänger, eine Non-Profit-Organisation als Profiteur. Gegen eine "Zahlung von Geldauflagen in Höhe von 20 000 Euro (Wulff) bzw. 30 000 Euro (Groenewold)" werde er das Verfahren einstellen, schrieb der Staatsanwalt. Gehen die beiden Beschuldigten darauf ein, wird wohl irgendwo in Niedersachsen ein Geldregen niedergehen.
Eine lange Liste potentieller Adressaten liegt der Staatsanwaltschaft Hannover vor, 2073 Einträge auf 121 Seiten. Die Ermittler müssten sich nur entscheiden, wen Wulff und Groenewold bedenken sollen. Den Anglerverein Achim oder die Gesellschaft zur Rettung der Delphine? Die Blockflötenfreunde Oldenburg oder doch die Deutsche Rheuma-Liga, Landesverband Niedersachsen? Die Staatsanwälte könnten auch eine Einrichtung wählen, die nicht auf der Liste steht, nur gemeinnützig muss sie sein.
Jedes Jahr stellt die Justiz mehrere hunderttausend Verfahren gegen Zahlung einer Geldauflage ein - in komplizierten Fällen insbesondere aus dem Wirtschaftsstrafrecht, aber auch bei mutmaßlich einfachen Vergehen. So kommen geschätzt rund 200 Millionen Euro pro Jahr zusammen, genau weiß das niemand.
Es gibt keine Behörde, die bundesweit erhebt, wie viel verteilt wird, und keine, die prüft, ob die Mittel bestimmungsgemäß verwendet werden. Vereine und Organisationen buhlen um das Geld und überfluten Richter und Staatsanwälte mit Broschüren.
1974 fasste der Gesetzgeber zur Entlastung der Gerichte den Paragrafen 153 a Strafprozessordnung neu. Mutmaßlich Kleinkriminelle sollten eine Geldauflage leisten, im Gegenzug wurde auf die Beweisaufnahme verzichtet und das Verfahren eingestellt. Der Vorteil für die Verdächtigen: Das Verfahren wird nichtöffentlich, das Risiko, verurteilt zu werden, ist vom Tisch.
Inzwischen ist der Paragraf überdehnt. Nicht nur Ladendiebe kommen glimpflich davon. Auch schwere Vorwürfe lassen sich so vom Gerichtssaal fernhalten. Helmut Kohl zahlte 300 000 Mark, um die Parteispendenaffäre hinter sich zu lassen; der ehemalige Mannesmann-Aufsichtsrat Josef Ackermann 3,2 Millionen Euro, weil er unter dem Verdacht der schweren Untreue stand.
Der ehemalige Deutsche-Bank-Chef Rolf-Ernst Breuer überwies 350 000 Euro, um ein Verfahren wegen mutmaßlichen versuchten Prozessbetrugs loszuwerden; der Radprofi Jan Ullrich zahlte 250 000 Euro, als ihm Betrug gegen seinen damaligen Arbeitgeber, den Rennstall T-Mobile, vorgeworfen wurde. Dem ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg war es 20 000 Euro wert, sich wegen seiner abgeschriebenen Doktorarbeit nicht vor Gericht verantworten zu müssen.
Auch der Staat profitiert von solchen Deals meist. Von Kohls 300 000 Mark zweigte er 150 000 ab, beim Ullrich-Verfahren blieben ihm 100 000 Euro. Allein das Land Baden-Württemberg besserte durch solche Einnahmen 2011 seinen Etat um 5,39 Millionen Euro auf, Nordrhein-Westfalen um 25,45 Millionen Euro. Das Land Berlin erhielt zwei Drittel der Geldauflagen. Viele Strafverfahren seien eben aufwendig, heißt es zur Begründung, deshalb sei es ein gutes Recht des Staates, wenn er sich etwas Geld von den Beschuldigten zurückhole.
Eine fragwürdige Praxis. Während Geldstrafen am Ende eines Gerichtsverfahrens in die Staatskasse fließen, ist die Verteilung der Geldauflagen nach Paragraf 153 a nicht zwingend vorgeschrieben. In einem Kommentar zur Strafprozessordnung steht immerhin, dass die Auflagen "irgendeinen Zusammenhang mit der Straftat haben müssen".
Mathias Kröselberg hat vor vier Jahren untersucht, wie es tatsächlich läuft. Er ist Geschäftsführer von "Pro Bono Fundraising", sein Spezialgebiet ist das Marketing beim Akquirieren von Geldauflagen. Kröselberg fragte die Beteiligten, wem sie das Geld zuweisen, und erhielt Antworten aus 180 Amtsgerichten, 39 Landgerichten und 64 Staatsanwaltschaften, insgesamt von 30 Prozent der Befragten.
Das Ergebnis der Untersuchung: 71 Prozent wiesen die Auflagen vornehmlich einer gemeinnützigen Einrichtung zu, die einen Bezug zum vermuteten Delikt hatte. Für 87 Prozent der Befragten war es wichtig, dass die geförderte Organisation "in meiner Nähe tätig ist". Kröselbergs Untersuchung ergab auch, dass 26 Prozent der Entscheider zugaben, eine Einrichtung zu bevorzugen, zu der sie einen "persönlichen Kontakt" hatten.
Der Grat zur Günstlingswirtschaft ist damit schmal. Der wohl schlimmste Fall von Missbrauch, der öffentlich wurde, endete mit dem Suizid des Hamburger Oberstaatsanwalts Günther von Below. Der Chef der Wirtschaftsstrafabteilung hatte 1971 das Verfahren gegen einen Fleischgroßhändler eingestellt, gegen 400 000 Mark Geldbuße - obwohl die Vorwürfe in der 180-Seiten-Anklage, die ein Kollege geschrieben hatte, schwer wogen.
Below hatte offenbar seine Gründe, so wie ein Amtsrichter, der die Einstellung abnickte. Beide waren Mitglied im "Bund gegen Alkohol im Straßenverkehr", Below als Hamburger Sektionschef. Und beide verdienten prächtig an Honoraren, die sie für Vorträge bei ihrem Verein kassierten. Ebendiesen Verein hatten sie aus der Geldauflage für den Fleischhändler üppig bedient, mit 100 000 Mark. Als die Verbindung aufflog, erschoss sich Below.
In der Hansestadt wurde als Konsequenz das "Hamburger Modell" ersonnen. Danach werden Geldauflagen nicht nur direkt vergeben, sondern können auch in einem von vier Sammeltöpfen landen. Welcher Verein sich freuen kann, darüber entscheidet bei jedem der vier Fonds ein dreiköpfiges Team: ein Richter, ein Staatsanwalt, ein Mitarbeiter der Justizbehörde. Dazu kommen noch zwei Berater aus der Sozialbehörde, die wissen, welche Einrichtung das Geld besonders nötig hat. Wer die Entscheider sind, verrät die Justizbehörde nicht. Vereinslobbyisten sollen keine Chance haben, sie zu bearbeiten.
Hier die Richter und Staatsanwälte mit ihrem Verfahren, dort die Verteiler, die damit nichts zu tun haben - für Holger Schatz, den Leiter des Vollzugsamtes in der Hamburger Justizbehörde, steht fest: "Wir haben eines der besten Systeme."
Andernorts herrschen andere Bräuche, und zuweilen bleibt ein fader Beigeschmack. Der Stendaler Domchor-Verein etwa freute sich über 2500 Euro, die bei der Anschaffung eines gebrauchten Steinway-Flügels halfen. Das Geld kam aus einem Verfahren, in dem die Staatsanwaltschaft Stendal ermittelt hatte. Einer der Strafverfolger, wenn auch nicht der für den Fall zuständige, ist Vorstand im Domchor-Verein.
In Bayern, berichtet der Münchner Strafverteidiger Ulrich Ziegert, gebe es einen Richter mit einem Faible für die Dresdner Frauenkirche: "Bei der Verteilung spielen persönliche Vorlieben der Richter schon eine Rolle", so Ziegert. Ein anderer Richter, sekundiert ein Anwaltskollege, segle gern: "Da gehen die Geldauflagen meistens an die DLRG."
Mitunter mischen die Verteidiger mit, etwa im Verfahren gegen den Manager Thomas Ganswindt, der als Siemens-Vorstand bei korrupten Geschäften des Konzerns angeblich nicht hart genug eingegriffen hatte. Im April 2011 begann in München der Prozess, im Mai endete er abrupt. Ganswindt hatte stets seine Unschuld beteuert, aber als das Gericht anbot, das Verfahren gegen 175 000 Euro einzustellen, zahlte er lieber, als noch Jahre gegen die Ankläger zu kämpfen.
Fünf Organisationen bekamen jeweils 35 000 Euro, der Epilepsie-Verband Bayern, die Behandlungsinitiative Opferschutz in Pforzheim, die Tabaluga Kinderstiftung in Tutzing, die Behindertenzeitschrift "Handicap" und das Hilfswerk des Lions Clubs Alt-Schwabing. Zufällig, wie es scheint, war die Auswahl nicht: Aus der langen Liste, die das Gericht der Verteidigung geschickt hatte, hatte diese sechs Organisationen herausgepickt. Zwei davon akzeptierte die Richterin: die Epilepsiehilfe, die Ganswindt besonders am Herzen lag, und die Behandlungsinitiative Opferschutz - bei der einer der beiden Ganswindt-Verteidiger Mitglied ist.
Es geht deshalb weniger um die Frage, ob Geld aus den Auflagen in dunkle Kanäle fließt, vergeudet oder verprasst wird. Sondern mehr darum, wer Gutes damit tun darf, wo doch so viele Gutes tun wollen. Die Konkurrenz der Wohlwollenden ist hart - und das System, wer etwas bekommt und wer nicht, dann eben doch nicht immer so fair, wie es sein sollte.
"Klar ist, dass es ohne Kontakte nicht geht, da steckt ganz viel Beziehungsarbeit drin", sagt François De Keersmaeker, Geschäftsführer von Handicap International, einer Organisation, die sich um behinderte oder kriegsversehrte Flüchtlinge kümmert.
Seit der Belgier einen Richter kennenlernte, der sich über den Einsatz von Landminen empörte, steht Handicap International bei dem Juristen hoch im Kurs - und erhält Geld aus abgekürzten Strafverfahren. Dennoch glaubt De Keersmaeker, dass weniger Nebel über dem Verteilmodus guttun würde: "Die Kriterien sind nicht sehr klar, man brauchte mehr Offenheit, mehr System."
Die Verwendung des Geldes ist eine Grauzone, in der Zufälle und inoffizielle Zugänge entscheiden, wer den Jackpot knackt. Wie der Fall Ganswindt zeigt, haben auch Strafverteidiger ihre Vorlieben. Der Frankfurter Hanns Feigen etwa, einer der renommiertesten Rechtsanwälte in Wirtschaftsstrafsachen, schlägt gern das Institut für Deutsches und Europäisches Strafprozessrecht in Trier vor.
Feigen ist dort Mitglied im Förderverein, er hält große Stücke auf die Arbeit des Institutsdirektors Mark Zöller. Warum also nicht etwas unterstützen, von dem man weiß, dass es gut ist?
Früher hatte Feigen auch mal die Welthungerhilfe vorgeschlagen, weil seine damalige Frau dort die Pressearbeit machte. 300 000 Euro gingen so an das Projekt eines indischen Pfarrers, der in Mülltonnen nach neugeborenen Mädchen suchte.
Seit dem Fall Lichtinghagen, beobachtet Feigen, sind solche Geldvergaben mit persönlicher Färbung indes schwieriger geworden. Die Bochumer Staatsanwältin stand eine Zeitlang im Verdacht, Geld an die Universität Witten/Herdecke geschleust zu haben, weil ihre Tochter dort studierte. Der Fall erregte auch deshalb so viel Aufsehen, da Margrit Lichtinghagen als Spezialistin für Steuerstrafsachen besonders viel Geld zum Verteilen einspielte. Bekannt war sie für die Formel "Hinterzogene Summe mal zwei plus Steuernachzahlung ergibt 153 a".
"Der Fall hat das Klima verändert", sagt Rechtsanwalt Feigen. Die 100 000 Euro, die vor Jahren an den Förderverein der juristischen Fachbibliothek der Uni Rostock gingen, würden heute vielleicht nicht mehr fließen: Ein Anwalt aus dem Verfahren fühlte sich der Universität besonders verbunden, seit er dort zum Ehrendoktor ernannt worden war.
Die erhöhte Sensibilität im Geschäft mit der Wohlfahrt musste in einem aktuellen Fall auch ein Steuersünder in Hamburg einsehen. Das Amtsgericht hatte seine Strafsache gegen Zahlung einer Auflage von 2500 Euro eingestellt. Die eine Hälfte war für die Staatskasse vorgesehen, die andere für einen Verein für frühkindliche Musikerziehung.
Es sollte eine Direktzuweisung sein, am Fonds vorbei. Doch dann bemerkten die Mitarbeiter der Verteilstelle, dass der Angeklagte im Vorstand des Vereins sitzt. Der Richter stoppte den Geldfluss.