GESUNDHEIT Druck auf die Wartezimmer
Das Dokument, das neulich in seinem E-Mail-Fach aufblinkte, ließ Johannes Singhammer leicht erschaudern. Würde man die private Krankenversicherung abschaffen, las der CSU-Politiker dort, schrumpften die Honorare der niedergelassenen Mediziner bundesweit um 5,235 Milliarden Euro pro Jahr. Vor allem die Ärzte in Bayern wären davon bedroht. Allein im Großraum München müssten sie auf rund 198 Millionen Euro an Honoraren verzichten.
Absender: die Lobbyorganisation der privaten Krankenversicherung (PKV). Die Branche hatte ihre Adressaten mit Bedacht gewählt. Zum einen ist CSU-Mann Singhammer Vizechef der Unions-Bundestagsfraktion und damit der einflussreichste Gesundheitsexperte seiner Partei in Berlin. Zum anderen liegt sein Wahlkreis in München. In keiner anderen Metropole kommen mehr Ärzte auf jeden Einwohner. In keiner anderen Region dürfte es demnach mehr Verfechter der Privatkassen geben. Und welcher Abgeordnete wollte im Wahljahr einen Aufstand in den Wartezimmern riskieren?
CSU-Politiker Singhammer zählt von jeher zu den Unterstützern der privaten Krankenversicherung. "Da bekenne ich mich unmissverständlich", sagt er. "Der Wettbewerb zwischen privater und gesetzlicher Versicherung ist gut für die Patienten." Andere Unionsvertreter, die sich da nicht so sicher sind und immer schon mal wissen wollten, warum sie im Wahlkampf eigentlich Debeka, HUK oder Ergo verteidigen sollen, bekommen jetzt ungefragt Nachhilfe der Branche.
Der Grund: Die Privaten fürchten um ihr Überleben - und mit ihnen die Ärzteschaft. SPD und Grüne werben im Wahlkampf mit ihrer Idee der Bürgerversicherung. Demnach sollen auch Beamte und Gutverdiener künftig in eine Einheitskasse einzahlen, das Geschäftsmodell der privaten Vollversicherung wäre damit ausgehebelt.
Selbst in der Union schrumpft der Fanclub der Privaten. CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn vergrätzte die Unternehmen, als er im vergangenen Jahr sinnierte, die derzeitige Trennung privater und gesetzlicher Kassen sei "nicht mehr zeitgemäß". Bleibt als letzter fester Verbündeter in der Politik nur die FDP, die mit Daniel Bahr noch den Gesundheitsminister stellt. Dass die Liberalen aber nach der Wahl noch in der Regierung sitzen, darauf würde kein Versicherungsvertreter seine Provision verwetten.
Prompt bereiten sich die Kassen auf das schlimmste Szenario vor. Die Unternehmen, die in den vergangenen zwei Jahren vor allem mit steigenden Beitragssätzen Schlagzeilen machten, setzen nun auf eine Qualitätskampagne. Dabei spielen die Mediziner eine entscheidende Rolle: Ohne die Gelder der Privatversicherten, so die These der PKV, würde die Versorgung im gesamten Gesundheitssystem schwächeln.
Schließlich erhalten Ärzte eine höhere Vergütung und Zusatzhonorare, wenn sie Privatpatienten behandeln. Damit leisteten die Privaten für die medizinische Versorgung "einen überproportionalen Finanzierungsbeitrag", heißt es in einem Papier der Versicherer. "Dies kommt allen Bürgerinnen und Bürgern zugute."
Den geldwerten Vorteil der niedergelassenen Mediziner interpretieren die Privatkassen nun als Auftrag gesamtgesellschaftlicher Relevanz um. Dazu kursieren in Berlin bereits eilig zusammengestellte Statistiken - Schockeffekte inklusive.
Stefan Müller, parlamentarischer Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, könnte dort zum Beispiel lesen, dass sein Wahlkreis Erlangen ohne die PKV auf 656 Arzthelferinnen oder 79 neue Computertomografen verzichten müsste. Die einstige bayerische Sozialministerin Christa Stewens würde erfahren, dass in ihrem Landtagsstimmkreis Ebersberg gleich 96 Hausarztpraxen die Ausstattung fehlen könnte.
Der Hilfe der Ärzteschaft kann sich die private Krankenversicherung mit solch düsteren Szenarien sicher sein. Im Internet sammelt der PKV-Verband inzwischen Unterstützervideos. "Vorsicht, Bürgerversicherung", prangt als Motto über den Beiträgen.
Zu den ersten Bannerträgern gehören Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery ("Die private Krankenversicherung ist ein ganz wichtiger Partner"), der Präsident der Bundeszahnärztekammer Peter Engel ("Ein Pferd, das gut im Rennen liegt, sollte man nicht wechseln") und Dirk Heinrich, Vorsitzender des Verbandes der niedergelassenen Ärzte NAV-Virchow-Bund ("Ein Arzt muss schauen, dass die Praxis wirtschaftlich läuft. Das funktioniert nur mit Privatpatienten").
Die Kollegen vom Bundesverband niedergelassener Fachärzte wiederum trommeln mit einer Umfrage für die Assekuranzen. Das Ergebnis überrascht nicht: 86 Prozent aller befragten Mediziner wollen die Privatkassen unbedingt als Vollversicherung erhalten. Das sozialpolitische Fachblatt "Der Gelbe Dienst", von Ärztefunktionären und Lobbyisten gern gelesen, rechnet passend dazu vor: Würden aus den Privatpatienten plötzlich ganz normale gesetzlich Versicherte, "beläuft sich der Verlust je niedergelassener Arzt auf rund 45 000 Euro jährlich". Diese "Leistungserbringer", so heißt es dort, formierten sich "zum Widerstand".
Ein bisschen Druck kann schließlich nicht schaden. Ende Juni wollen die Spitzen von CDU und CSU ihr Wahlprogramm verabschieden. Derzeit feilen die Gesundheitsexperten noch an ihren Vorschlägen. Wie innig und ewig ihr Bekenntnis zur privaten Krankenversicherung ausfallen wird, ist längst nicht ausgemacht.