SÜDAFRIKA Thambisas Trauma
Die Männer kamen nachts, zu dritt. Sie rissen Thambisa aus dem Schlaf, stopften ihr Taschentücher in den Mund, niemand sollte ihre Schreie hören. Dann vergewaltigten sie das Mädchen, einer nach dem anderen. Danach ließen sie es einfach liegen. Thambisa hat bis heute nicht verstanden, was die Männer mit ihr machten. Sie ist sieben Jahre alt.
Elf Wochen sind seit dieser Nacht vergangen. Thambisa spielt mit einem Teddy auf der rosafarbenen Decke ihres Bettes in einem Frauenhaus in Johannesburg. Sie trägt ein Sommerkleid aus Cord, die Haare zu Zöpfen geflochten, auf ihrem Schienbein klebt ein buntes Kindertattoo, ein Schmetterling. Vor vier Wochen mussten die Ärzte ihre Gebärmutter entfernen.
Thambisa hat Glück gehabt, sie hat die Qualen ihrer Peiniger überlebt. Andere Kinder werden aufgeschlitzt auf Müllkippen gefunden oder verbluten innerlich; manche sind erst wenige Monate alt.
Wie verbreitet sexuelle Gewalt in Südafrika ist, offenbart der jüngste Polizeibericht: 55 201 Vergewaltigungen wurden in zwölf Monaten landesweit angezeigt, das sind 151 Fälle pro Tag, eine Vergewaltigung alle neun Minuten. Rund 40 Prozent aller Sexualdelikte werden an Kindern und Jugendlichen verübt. Vier von zehn Mädchen unter 18 Jahren wurden schon einmal missbraucht. Und das sind nur die offiziellen Statistiken.
Das Forschungsinstitut Medical Research Council geht davon aus, dass nur eines von neun Opfern zur Polizei geht. "Wir befinden uns im Ausnahmezustand", sagt die Oppositionsabgeordnete Patricia Mokgohlwa. Und spricht von einem "Krieg gegen die Frauen".
Auch in Indien gibt es diesen Krieg. Aber nach der Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Medizinstudentin im vergangenen Dezember wurde er zumindest öffentlich. Das Verbrechen sorgte für Empörung und Proteste in Indien wie im Ausland. Zehntausende Menschen zogen allein in Delhi auf die Straßen.
In Südafrika spricht noch niemand darüber, was mit Thambisa geschehen ist. Die Tragödie der Grundschülerin stand in keiner Zeitung, denn Schicksale wie ihres sind Alltag am Kap. Thambisas Mutter will das nicht mehr hinnehmen, sie will, dass die Welt erfährt, was mit ihrer Tochter geschehen ist. "Damit das alles mal ein Ende hat", sagt Shirley.
Die 37-Jährige kauert auf einer Bettkante in dem kahlen Frauenhauszimmer, das jetzt ihr Zuhause ist. Ihr Blick ist müde, das Gesicht von Gram gezeichnet. Sie streichelt Thambisa übers Haar, bittet sie, mit den anderen Kindern auf dem Flur zu spielen.
Als ihre Tochter den Raum verlassen hat, schlägt sie die Hände vors Gesicht. "Sie haben mein Baby zerstört", sagt Shirley. Und weint. Dann erzählt sie.
Sie beginnt mit ihrer eigenen Geschichte, denn Shirley kennt den Schmerz ihrer Tochter. Sie selbst hat ihn erfahren.
Shirley wuchs als ältestes von neun Kindern in Mpumalanga, einer Provinz im Nordosten Südafrikas, auf. Mit 10 Jahren kochte und wusch sie für die ganze Familie, mit 15 verkauften ihre Eltern sie an einen alten Bekannten in Swasiland. "Für 15 Kühe haben sie mich weggegeben", sagt Shirley. Sie erinnert sich noch genau an den Moment, als das Auto ihrer Eltern wegfuhr. Wie sie dastand, ohne Umarmung des Vaters, ohne Kuss der Mutter, in einer Hütte, Stunden von zu Hause entfernt. Schon in der ersten Nacht nahm sich ihr Mann sein Recht.
Shirley erhebt sich von der Bettkante, zieht ihr grünes abgewetztes Rugbyshirt hoch, die Jeans runter. Die Metallstangen, mit denen ihr Mann sie schlug, haben Narben hinterlassen.
Noch im selben Jahr wurde Shirley schwanger. Sie bekam eine Tochter, danach einen Sohn. Ihre Kinder versorgte sie nebenbei, in erster Linie musste sie ihrem Mann und seiner Familie dienen. 2002 ziehen sie nach Johannesburg. Drei Jahre später kommt Thambisa zur Welt. Schon zuvor hatte Shirleys Mann sie aufgefordert, eines der älteren Kinder zu töten. "Er glaubte, wenn wir Gott ein Kind opfern, werden wir reich", sagt Shirley.
2008 flüchtet sie mit den Kindern zu ihren Eltern. Diese nehmen sich ihrer Enkel an, die Tochter aber schicken sie weg. Sie wollen keinen Ärger mit dem Schwiegersohn.
Und so fährt sie allein nach Johannesburg zurück, um sich einen Job zu suchen, 15 Kühe will sie kaufen. Doch niemand gibt ihr Arbeit, und ohne Geld traut sie sich nicht nach Hause zurück. Sie lebt auf der Straße, ernährt sich von dem Wenigen, was sie in Mülleimern findet. Ruft sie zu Hause an, um zu fragen, wie es den Kindern geht, legt ihre Mutter auf. Shirley hinterlässt eine Handynummer, falls etwas mit einem ihrer Kinder sein sollte. Das Telefon klingelt nie. Bis zum 13. Januar 2013.
Thambisa gehe es nicht gut, sagt Shirleys Mutter da. Sie weine beim Baden, schreie, wenn sie auf die Toilette gehen müsse. Shirley bittet sie, zum Arzt zu gehen, und verspricht, Geld zu schicken. Der Arzt verschreibt Thambisa Antibiotika. Er vermutet eine Blasenentzündung.
Jeden Tag ruft Shirley an, will wissen, wie es Thambisa geht. Am vierten Tag antwortet ihre Mutter: "Thambisa blutet." Shirley blickt auf den Nachttisch, auf ihre wenigen Habseligkeiten: zwei Zahnbürsten, ein Stück Seife, eine Bibel. "Thambisa blutet", wiederholt sie leise.
Sie habe erst gar nicht verstanden, was ihre Mutter ihr damit sagen wollte. "Ich dachte, sie sei vielleicht hingefallen, habe Nasenbluten. Aber dann sagte meine Mutter: Sie blutet aus der Vagina." Shirley verstummt.
Sie habe ihre Mutter angefleht, Thambisa sofort in eine Klinik zu bringen. Stunden später ist ein Sozialarbeiter am Apparat. "Ihre Tochter wurde vergewaltigt", teilt er ihr mit. "Kommen Sie, bitte."
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Gruppenvergewaltigungen in Südafrika stetig angestiegen. Kriminologen sprechen von "gemeinsamen Männlichkeitsritualen", mit denen vor allem jüngere Männer versuchen, Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden. In den Slums werden Schulmädchen auf offener Straße missbraucht und auch Lesben, um sie wieder zu "richtigen" Frauen zu machen. Sogar Kleinkinder und Säuglinge werden vergewaltigt - in dem absurden Aberglauben, sich durch Sex mit Jungfrauen vor Aids schützen zu können.
Es gibt jemanden, der die Männer in diesem Handeln noch bestärkt: Jacob Zuma, ihr Präsident, der empfahl, nach dem Geschlechtsverkehr heiß zu duschen, um einer HIV-Ansteckung vorzubeugen.
Thambisa wird in eine Klinik eingeliefert, etwa drei Autostunden von Johannesburg entfernt. Zum ersten Mal nach fünf Jahren sieht Shirley ihre Tochter wieder. Nur durch eine Glasscheibe darf sie mit ihr reden. "Sie lag am Tropf, in diesem Bett, mit angewinkelten Beinen, und weinte", erinnert sich Shirley. "Ich habe immer wieder gerufen: Thambisa, ich bin es, deine Mama. Ich bin hier. Ich bleibe hier. Ich passe auf dich auf. Ich gehe nie wieder weg."
Irgendwann lächelte Thambisa. "Sie sagt, sie habe mich an der Stimme erkannt", erklärt Shirley. Nach zwölf Stunden lassen die Ärzte Mutter und Tochter gehen.
Im Haus ihrer Eltern erfährt Shirley erstmals, was passiert ist. Ihr Mann hatte Thambisa in den Weihnachtsferien abgeholt, um mit ihr zu seiner Familie nach Vosman in Mpumalanga zu fahren. Am 12. Januar brachte er Thambisa zurück. Angeblich ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass mit der Kleinen etwas nicht in Ordnung war.
"Ich habe ihn angeschrien: Was ist mit ihr passiert? Warum hast du nichts gesagt? Er antwortete nur: Ich wusste von nichts. Sie war bei ihrer Tante", sagt Shirley. Die ganze Nacht lang klammert sich Thambisa an ihre Mutter, schreit, strampelt. "So ist es seitdem jede Nacht."
Wieder einmal kann Shirley nicht bei ihren Eltern bleiben. Doch dieses Mal entscheidet sie, Thambisa mitzunehmen. Sie will ihre Tochter nicht mehr verlassen. Dafür müssen Shirley und Thambisa zurück in die Hölle, aus der sie geflüchtet sind. Zurück zum Mann, zurück zum Vater.
In all dieser Zeit hat Thambisa noch immer Schmerzen. Sie kann nicht laufen, krümmt sich, wenn sie auf die Toilette gehen muss, blutet, immer wieder. Am 18. Februar entfernen die Ärzte in einer Johannesburger Klinik ihre zerstörte Gebärmutter.
Shirley weicht ihrer Tochter seither nicht mehr von der Seite. Jeden Morgen bringt sie sie zur Schule, mittags wartet sie am Tor. "Ich habe sie immer wieder vorsichtig gefragt, was passiert ist, aber sie wollte nicht darüber sprechen", sagt Shirley. "Ich habe ihr immer wieder gesagt: Die Männer durften das nicht tun. Eines Tages kommen sie dafür ins Gefängnis." Nur einmal habe Thambisa darauf reagiert. "Kannst du sie nicht erschießen, Mama?", fragte sie.
Vor vier Wochen, auf dem Schulweg, nahm die Siebenjährige dann plötzlich die Hand ihrer Mutter. "Wie aus dem Nichts erzählte sie, was geschehen war."
In einer Nacht in den Ferien habe sie im Haus ihrer Tante geschlafen, nur mit ihren beiden Cousinen, acht und zwölf Jahre alt. Plötzlich seien da die Männer mit den Taschentüchern gewesen. Einer habe sie festgehalten, gesagt: "Ich bin dein Vater, ich darf das." Am nächsten Morgen habe ihre Cousine das Blut aus ihren Kleidern gewaschen.
Thambisa sagt, sie habe die Männer nicht gekannt. Auf die Frage, ob einer davon ihr Vater war, antwortet sie nicht. Am Telefon danach befragt, verweist der Vater nur auf die Ermittlungen der Polizei. Dann legt er auf.
27,6 Prozent der südafrikanischen Männer haben, einer repräsentativen Umfrage zufolge, schon einmal eine Frau vergewaltigt. Die Täter kommen häufig aus der eigenen Familie oder dem Verwandten- und Bekanntenkreis, es sind Brüder, Cousins, Onkel, Großväter, Freunde. Viele von ihnen gehören zum Heer der Arbeitslosen, das sich seit dem Ende der Apartheid 1994 auf 7,6 Millionen verdoppelt hat. Die Regierung hatte ihnen nach der Wende ein besseres Leben versprochen, doch darauf warten sie noch immer vergebens. Stattdessen hängen sie ohne Aufgabe in den Townships herum, verlieren ihr Selbstwertgefühl, weil sie die Rolle als Ernährer nicht übernehmen können.
Psychologen haben noch andere Erklärungen, warum die Vergewaltigungsraten in südafrikanischen Townships höher sind als in vergleichbaren Elendszonen der Welt: Junge Männer könnten ihre Aggressionen nicht mehr wie früher gegen das weiße Unrechtsregime richten. Ihre Wut wende sich deshalb nun nach innen, gegen die eigene Gemeinde, die Familie.
Außerdem seien sie noch immer von traditionellen Werten geprägt, besonders in den Volksgruppen der Zulu und Xhosa: Männer müssen hart, stark und allmächtig sein, das wird ihnen schon im Knabenalter eingebläut. Andernfalls kommen sie sich "entmännlicht" vor. Viele von ihnen fangen an zu trinken, prügeln ihre Frauen und Kinder. Aber auch sogenannte Sugar Daddies, ältere, bessergestellte Männer, missbrauchen minderjährige Mädchen. Laut einer Statistik ist fast ein Drittel aller Schulmädchen HIV-positiv. Der südafrikanische Gesundheitsminister macht die Sugar Daddies dafür mitverantwortlich. Auch Lehrer nötigen ihre Schülerinnen zum Sex. Und Polizisten vergewaltigen noch auf der Wache die Opfer, die sie schützen sollten.
Erst vor zwei Wochen wurde ein wegen Vergewaltigung festgenommener Pastor gegen eine Kaution von umgerechnet 250 Euro wieder auf freien Fuß gesetzt. Er hat nicht viel zu befürchten, die Polizei ist korrupt und inkompetent, die meisten Ermittlungen verlaufen im Sand.
Nachdem Shirley ihre Tochter in der Schule abgeliefert hat, rennt sie zurück nach Hause. Sie schreit ihren Mann an, er schweigt, weicht ihrem Blick aus und bittet sie: "Erzähl meiner Schwester nichts."
In dem Moment, sagt Shirley, habe sie verstanden, dass ihr Kind in diesem Haus nicht sicher sei. Sie ruft die Polizei in Witbank an. Das Aktenzeichen des Falls hat sie in ihr Handy eingespeichert: 357/1/2013. Shirley bittet den Beamten, nach den zwei Mädchen, den Cousinen, zu sehen, die noch im Haus von Thambisas Tante leben. "Doch den hat das gar nicht interessiert."
Wieder einmal packt sie einen kleinen Koffer, holt Thambisa von der Schule ab. Dann stehen sie da, auf der Straße. Mutter und Tochter. Ohne Obdach, ohne Geld. Sie versuchen Zuflucht zu finden in den Frauenhäusern Johannesburgs. Aber entweder wollen die nur die Mutter aufnehmen oder nur die Tochter, nicht beide. Erst nach zwei Tagen öffnet sich eine Tür. Höchstens sechs Monate können sie hier nun bleiben. Geht es Thambisa vorher besser, stehen sie schon früher wieder auf der Straße.
"Manchmal sitzt Thambisa nur da und starrt vor sich hin", sagt Shirley. "Manchmal isst sie nicht, spricht nicht." Sie würde sie gern zu einem Psychologen bringen, weiß aber nicht, wie sie den jemals bezahlen soll.
Shirley holt einen Eimer unter dem Bett hervor. Seit dieser Nacht im Januar kann Thambisa sich nicht mehr zurückhalten, wenn sie zur Toilette muss. Shirley kramt in ihrer alten Handtasche, zeigt ein Fläschchen. Dreimal am Tag nimmt Thambisa davon einen Löffel. Der Sirup soll eigentlich Fieber senken.
Ein leises Knarzen. Thambisa schleicht ins Zimmer. Sie klettert auf den Schoß ihrer Mutter, schmiegt sich an sie.
"Ich werde ihr eines Tages erklären müssen, dass sie nie Kinder haben kann - und warum", sagt ihre Mutter.
Viel mehr Angst hat Shirley jedoch vor einem Arzttermin in zwei Wochen. Dann wird Thambisa noch einmal Blut abgenommen. Dann werden sie endgültig wissen, ob einer der Männer sie mit HIV infiziert hat.