FÖDERALISMUS „Bei Strafe untersagt“
Wößmann, 39, Professor an der LMU München und am Ifo-Institut, steht dem bildungsökonomischen Ausschuss des "Vereins für Socialpolitik" vor. Das Gremium, in dem deutschsprachige Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler vereint sind, hat einen offenen Brief an die Kultusministerkonferenz verabschiedet. Darin heißt es: "Wir fordern die Kultusminister der Länder auf, der Wissenschaft Bundesländervergleiche uneingeschränkt zu gestatten und ihr freien Zugang zu Bundeslandinformationen in allen Bildungsdatensätzen zu gewähren."
SPIEGEL: Herr Wößmann, was kritisieren Sie und Ihre Fachkollegen am Umgang mit Bildungsdaten in Deutschland?
Wößmann: Dass uns der Zugriff nicht vollständig möglich ist. Die Nutzungsverträge verbieten uns, Bundesländer zu vergleichen - teilweise unter Androhung von bis zu 300 000 Euro Geldbuße oder bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Dabei könnte man aus solchen Ländervergleichen lernen, wie unser Bildungssystem zu verbessern wäre.
SPIEGEL: Um welche Daten geht es genau?
Wößmann: Um die sogenannten Pisa-E-Studien, die Bildungsstandardstudien und das Nationale Bildungspanel.
SPIEGEL: Wer zensiert den Zugriff?
Wößmann: Letztlich regelt die Kultusministerkonferenz den Zugang. Paradoxerweise höre ich gleichzeitig von einigen Ministern den Vorwurf, die Bildungsforscher würden nur Datenberge anhäufen, aber keine Erklärungen liefern. Dabei ist es die Politik, die der Wissenschaft solche Analysen bei Strafe untersagt.
SPIEGEL: Die Kultusministerkonferenz verweist auf ihre besondere Verantwortung für das Schulwesen. Müssen nicht gerade so sensible Daten wie Schülerleistungen geschützt werden?
Wößmann: Alle Daten sind anonymisiert. Und selbst im kleinen Saarland gibt es über 130 000 Schülerinnen und Schüler. Wenn ich also weiß, dass eine Stichprobe aus dem Saarland kommt, dann gefährdet das auf keinen Fall die Anonymität der Befragten. Mit Datenschutz hat die Zugangsverweigerung definitiv nichts zu tun. Menschen haben Persönlichkeitsrechte, Bundesländer nicht. Arbeitsmarktzahlen werden auch detailliert veröffentlicht.
SPIEGEL: Auf welche Hindernisse sind Sie als Forscher konkret gestoßen?
Wößmann: Einer meiner Doktoranden wollte anhand der Pisa-Daten überprüfen, wie sich die Einführung der sechsstufigen Realschule in Bayern ausgewirkt hat. Der Antrag wurde vom Forschungsdatenzentrum am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen in Berlin nach sieben Monaten Wartezeit ohne Begründung abgelehnt - die zuständige Kommission der Kultusministerkonferenz hatte ihre Zustimmung verweigert. Der Doktorand behalf sich dann mit gröberen Daten, und die warfen bezeichnenderweise kein gutes Licht auf die Reform.
SPIEGEL: Sind solche Bescheide die Regel?
Wößmann: Eine weitere Doktorandin aus meinem Institut, die sich mit der Einführung zentraler Prüfungen in einzelnen Bundesländern beschäftigte, bemühte sich um Daten zur Umsetzung der Bildungsstandards, die nach 2006 den Pisa-Ländervergleich ersetzten. Nach über zehn Monaten wurde uns vom Generalsekretär der Kultusministerkonferenz mitgeteilt, dass wir wegen Regeländerungen den Antrag neu stellen müssten, und das im laufenden Verfahren. Meine Mitarbeiterin hatte zwischenzeitlich schon promoviert und die Wissenschaft verlassen, auch aus Frust über diese Bedingungen.
SPIEGEL: Fühlen sich Forscher anderer Institute ähnlich gegängelt?
Wößmann: Der niederländische Soziologe Jaap Dronkers wollte sein Land zu belgischen Regionen, Schweizer Kantonen und deutschen Bundesländern in Bezug setzen. Ihm wurde untersagt, Tabellen mit Bundesländervergleichen zu veröffentlichen. Wilfried Bos, Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung in Dortmund, wollte Ganztagsschulen nach Bundesländern vergleichen: abgelehnt. Und aus einer Stellungnahme einer Landesregierung im vergangenen Jahr geht hervor, dass seit 2007 alle sieben Forschungsanträge auf neuartige Ländervergleiche abgelehnt wurden.
SPIEGEL: Die Bildungspolitiker sind stolz auf die vielen Schulstudien seit der ersten Pisa-Untersuchung 2000. Zu Unrecht?
Wößmann: Ich will gar nicht alles schlechtreden. Der sogenannte Pisa-Schock hat ja das Interesse der Kultusminister an belegbaren Verbesserungen gesteigert, doch inzwischen ist eine gewisse Ermüdung eingetreten. Manche Landespolitiker wollen vor der nächsten Landtagswahl lieber keine schlechten Nachrichten.
SPIEGEL: Sitzen die Bremser in Bundesländern wie Bremen, Hamburg oder Berlin, die bei Vergleichen schlecht abschneiden?
Wößmann: Ich weiß es nicht. Es heißt, die Kultusministerkonferenz habe immer mit den Stimmen aller 16 Bundesländer abgelehnt. Die schwächeren Länder müssten zusätzliche Vergleiche nicht unbedingt fürchten. Viele Leistungsdifferenzen haben ja nichts mit Schulpolitik zu tun, sondern mit der sozialen Herkunft der Schüler, und die ist in Berlin oder Bremen eben zum Teil unvorteilhafter als etwa in Bayern. Wenn dies genauer untersucht würde, gäbe es weniger Hysterie um jede einzelne Studie.
Interview: Jan Friedmann