Letzte Runde
Ein Mann sitzt in einem Restaurant und lauscht in die Gespräche der anderen Gäste hinein. Frauen reden über ihre Kinder, ein verliebtes Paar spricht über das Klavierspielen, eine junge Frau erzählt ihrer Freundin, dass sie hundert Jahre alt werden und bis zu ihrem Tod verheiratet sein möchte.
Der Mann will wissen, was sie bewegt, was sie antreibt, woher sie die Kraft nehmen, jeden Morgen aufzustehen. Denn er selbst hat beschlossen, sich an diesem Tag den goldenen Schuss zu setzen. Nun gibt er dem Leben eine letzte Chance, ihn davon zu überzeugen, dass es besser ist als der Tod.
Der norwegische Regisseur Joachim Trier erzählt in seinem Film "Oslo, 31. August" die Geschichte des 34-jährigen Ex-Junkies Anders (Anders Danielsen Lie), der nach mehreren Jahren in einer Entzugsklinik in die Wirklichkeit entlassen wird. Die Ärzte sagen, er sei clean. Er selbst fühlt sich leer.
Mit Mitte zwanzig nahm er jede Droge, die er bekommen konnte. Sein Leben war ein einziger Rave, er war berühmt, begehrt und viel schneller als seine Freunde. Heute haben sie Job, Frau und Kinder. Sie haben ihn überholt. Anders fühlt sich wie das Schlusslicht seiner Generation.
Der Film erzählt von einem, der ausgenüchtert in eine Welt zurückkehrt, die er im Vollrausch verlassen hat. Trier zeigt seinen Helden als Mann, dessen Sinne frisch geschärft sind. Wenn Anders die Passanten beobachtet, die an ihm vorbeieilen, nimmt er auch ihre fast unmerklichen Gesten wahr, noch aus weiter Ferne hört er Gesprächsfetzen.
Durch die Jahre in der Klinik ist in Anders ein Vakuum an Erfahrungen entstanden; nun strömt das Leben mit Macht wieder in ihn hinein. Trier inszeniert Oslo als warme, von den Strahlen der Spätsommersonne durchflutete Stadt. Für Schwermut scheint hier kein Platz.
Kann es wirklich sein, dass Anders in dieser Welt voller großartiger, ungenutzter Möglichkeiten mit jedem Schritt dem Tod zustrebt?
Triers Film beruht auf dem Roman "Das Irrlicht", den der französische Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle 1931 veröffentlichte und der 1963 von Louis Malle erstmals verfilmt wurde. "Das Leben", heißt es an einer Stelle im Buch, sei "ein schreckliches Gift". Das Gegengift, so Drieu, sei Opium.
Sein Buch ist das Manifest eines Dandys, der das "erhabene Gefühl der Verachtung" pflegt und sich als antibürgerlicher Rebell dünkt. "Jedes Wesen mit wirklicher Sensibilität steht an der Grenze von Tod und Wahnsinn", schreibt Drieu. Ein Feigling, wer es nicht wagt, sie zu überschreiten. Kleinlich, wer am Leben hängt.
Dieses Lebensgefühl aus dem Paris der dreißiger Jahre versucht Trier im Oslo von heute wiederzufinden. In dem Blick seines großartigen Hauptdarstellers entdeckt er die Überheblichkeit eines Mannes, der glaubt, jedes Hochgefühl hinter sich zu haben, der auf das normale Leben herabblickt wie auf eine öde Niederung.
Anders schaut sich seinen besten Freund Thomas (Hans Olav Brenner) an, mit dem er sich früher durch die Nächte treiben ließ. Nun klagt Thomas darüber, dass seine Frau nicht mehr mit ihm schläft und der Beißring seines neugeborenen Sohns verschwunden ist. Thomas beschwört Anders, sich nicht umzubringen. Der hört ihm zu und begreift: So werden wie sein Freund will er auf keinen Fall.
Dieser Film erzählt auch von einer Gesellschaft, in der die Menschen vom Wunsch besessen sind, ewig jung zu bleiben und sich alle Optionen für ihr Leben möglichst lange offenzuhalten. Der Berufsjugendliche Anders kehrt zurück in eine Welt der Erwachsenen. Eine Welt, in der die Weichen gestellt sind und er sich wie ein Irrläufer fühlt. Vielleicht ist das ein trauriges Schicksal. Vielleicht ist das heroisch.
Oft zeigt Trier die Gleise der Straßenbahnen, die durch Oslo verlaufen. Die alten Bahnen wieder aufzunehmen bereite "missmutiges Behagen", schreibt Drieu in seinem Roman. Anders kreuzt diese Gleise ständig, er geht über sie hinweg, in einem ruhigen, gleichmäßigen Gang, der von einem inneren Taktgeber gesteuert scheint. Anders, niemand sonst, bestimmt das Tempo seiner Schritte.
Geradezu empörend entspannt folgt Trier den Spuren eines Verzweifelten. Federnd geht Anders seinem Ende entgegen. Das macht "Oslo, 31. August" zu einer so qualvollen wie eindringlichen Erfahrung. Immer wieder lässt Trier seinen Helden aus dem Dunkel ins Licht treten, aus Tunneln in die grelle Sonne, und doch sucht Anders das Dunkle.
Am Ende des Films sitzt er in den ersten Strahlen der Morgensonne am Pool eines Freibads, ein wunderschönes Mädchen schwimmt im Wasser und lockt ihn hinein. Doch Anders bleibt am Rand sitzen. Selten zuvor hat ein Film seinen Zuschauern ein Gefühl dafür gegeben, wie überwältigend es sein kann, mitten ins Leben zu springen.