PROZESSE Unversöhnlich
Alles ist geregelt, nichts dem Zufall überlassen, so soll es sein in der deutschen Justiz.
Aktenzeichen 6 St 3/12, eine Verfügung des Vorsitzenden des 6. Strafsenats am Oberlandesgericht München von Anfang März, elf Seiten lang. "Zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in der Hauptverhandlung" macht der Richter detaillierte Vorgaben. Das Dokument enthält das Kleingedruckte zu einem der größten Strafprozesse der Bundesrepublik: dem Verfahren gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU).
Da ist geregelt, dass auf Verlangen der Kontrolleure am Eingang "auch Pullover und Schuhe" auszuziehen sind. Dass Pressevertreter ihre Mobiltelefone mitbringen, aber im Gerichtssaal nicht einschalten dürfen. Dass die Personalausweise von Zuschauern "zur Identifizierung etwaiger Störer abgelichtet" werden. Dass ein Sitzplatz "nicht mit zwei Zuhörern besetzt" werden darf.
Und weil dann doch noch etwas unklar blieb, gab es zweieinhalb Wochen später eine weitere Verfügung des Vorsitzenden: Seitdem wissen die Journalisten, dass sie pünktlich sein müssen. Wer seinen Platz nicht 15 Minuten vor Sitzungsbeginn eingenommen hat, ist ihn los. Und wer seinen Stuhl räumt, kommt später am Tag nicht unbedingt wieder hinein - weggegangen, Platz vergangen.
Die meisten Journalisten werden freilich überhaupt nicht in Versuchung kommen, ihr Mobiltelefon im Gerichtssaal einzuschalten oder sich zu zweit auf einem Platz zu stapeln. Sie kommen erst gar nicht hinein.
"Türkische Presse nicht erwünscht", so berichtete die türkische Tageszeitung "Hürriyet" in ihrer Europaausgabe, ausnahmsweise auf Deutsch. Das Gericht hatte mitgeteilt, welche 50 Medienvertreter einen Sitzplatz im Saal bekommen und welche nicht, und damit weltweit für Erstaunen gesorgt. Drin sind Radio Arabella und die SPD-Zeitung "Vorwärts". Draußen sind BBC, "Neue Zürcher Zeitung", "New York Times" - und alle türkischen Medien.
Die Aufregung um die Platzprobleme, die vor Ostern die deutsche Öffentlichkeit erfasste, lässt nichts Gutes ahnen. Der Streit um den Zugang offenbart so grundlegend unterschiedliche Sichtweisen auf diesen Prozess, dass sie sich kaum miteinander vereinbaren lassen werden - und weitere Enttäuschungen zu erwarten sind.
Da ist das Oberlandesgericht, das ein normales Strafverfahren führen will und muss - gemäß den Regeln, die für alle Verfahren gelten, und mit dem Ziel, ein Urteil zu sprechen. Es ist "vorrangig die Frage zu klären, ob die auf der Anklagebank sitzenden Personen der angeklagten Taten schuldig sind und wie das Strafmaß im Falle einer Verurteilung lauten wird", betonte Gerichtspräsident Karl Huber. Das Gericht sei "kein weiterer Untersuchungsausschuss", sondern habe vor allem die individuelle Strafbarkeit und Schuld zu ermitteln, "daraufhin sind die gesetzlichen Regelungen der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes ausgerichtet".
Da sind aber auch die Familien der zehn Mordopfer, die Politiker, die Bürger, die nach wie vor fassungslos sind über das Wüten einer rechtsextremen Terrorgruppe, deren Existenz den Sicherheitsbehörden fast 14 Jahre lang verborgen geblieben war; die Wiedergutmachung fordern und vom Staat, der die Opfer lange als Drogendealer, Geldwäscher oder Waffenhändler verdächtigte, eine Geste der Versöhnung. Das Vorgehen des Gerichts konterkariere, "was Bundeskanzlerin Angela Merkel angekündigt hat, nämlich Transparenz und Aufklärung", so sagt es der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der die Familien zweier Opfer vertritt.
Das sind berechtigte Anliegen, das alles aber kann dieser Strafprozess kaum leisten - jedenfalls solange Beate Zschäpe schweigt, nichts zur Wahrheitsfindung beiträgt, was ihr Recht ist, aber eben Konsequenzen hat. Die Ermittler führten bis Mitte Mai 2012 rund 800 Vernehmungen durch, vollstreckten 23 Durchsuchungsbeschlüsse und überwachten 67 Telefon- und Internetanschlüsse; sie werteten rund 3600 Beweisstücke und zehn Terabyte an Computerdateien aus.
Und dennoch: Es wird den Anklägern schwer genug fallen zu beweisen, dass Beate Zschäpe sowie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt eine terroristische Vereinigung gebildet haben, die für den Tod von neun Männern - acht mit türkischen Wurzeln, einem mit griechischen - und einer Polizistin verantwortlich ist. Und dass jeder der vier mutmaßlichen Unterstützer von den Terroraktionen wusste.
Da wird es im Zweifelsfall nicht um die volle Wahrheit gehen und nicht um jedes Detail der 14 Jahre im Untergrund, so interessant es auch wäre.
"Ob es vollständig gelingt, mit den Mitteln des Strafprozessrechts die historische Wahrheit zu ermitteln, kann man nie sagen", sagte Generalbundesanwalt Harald Range und gab sich optimistisch: "Aber das Gerichtsverfahren war von jeher der einzige Ort, wo man der Wahrheit sehr nahe kam - ich habe großes Vertrauen, dass uns das auch in diesem Verfahren gelingen wird."
In erster Linie aber wird im Sitzungssaal A 101 in München das Beweisbare wichtig sein, Belege für die Richter, damit diese über die Schuld der Angeklagten befinden können. Die Angeklagten stehen im Mittelpunkt des Verfahrens, die Opfer nur am Rande; sosehr manche dies bedauern, sosehr die Rechte der Opfer und deren Hinterbliebenen auch gestärkt wurden, etwa durch erweiterte Möglichkeiten der Nebenkläger seit 2009.
Es ist gerade die Errungenschaft des Rechtsstaats, dass die Justiz nach Regeln funktioniert und Richter nach Gerechtigkeit streben - und nicht jedermann Selbstjustiz übt. Der Münchner Strafverteidiger Werner Leitner, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im Deutschen Anwaltverein, warnte einmal davor, "den Gerichtssaal zur therapeutischen Anstalt zu machen". Und zugleich beobachtete Leitner, bevor der NSU auch nur enttarnt war, dass Richter unter wachsendem Druck stehen, "die wirkliche, echte, letzte Wahrheit herauszufinden".
Wie heikel es ist, die Justiz mit solchen Erwartungen zu konfrontieren, zeigte sich in einem anderen Fall. Am Landgericht München II wurde vor vier Jahren dem KZ-Wachmann John Demjanjuk - einem Greis, bei Prozessbeginn 89 Jahre alt - der Prozess gemacht.
Der deutsche Staat spürte nicht nur der Beteiligung eines Einzelnen an der Ermordung Zehntausender europäischer Juden nach. Er demonstrierte darüber hinaus, dass er, mehr als 60 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft, auch die Mittäter und Helfer niederen Ranges verfolgt, die den Massenmord erst möglich machten. Und die Ankläger betraten rechtliches Neuland, indem sie Demjanjuk Beihilfe am Massenmord vorwarfen, ohne ihm eine konkrete Beteiligung am Tod einzelner Menschen nachweisen zu können.
Man konnte das als den Versuch einer Wiedergutmachung sehen, der Prozess war ein Zeichen an die Angehörigen der Opfer. In der Verhandlung wurden aber die Tücken deutlich, die ein Verfahren hat, wenn damit Ziele über den Einzelfall hinaus verfolgt werden. So blieb unklar, warum Demjanjuk als Angeklagter eines solchen Verfahrens vor Gericht landete und aus den Vereinigten Staaten eingeflogen wurde, während im Prozess gegen ihn ein anderer Wachmann geladen war, der einen höheren Dienstrang hatte als Demjanjuk - und zunächst nur als Zeuge gehört wurde. Er wurde dann später angeklagt.
Wenn die Justiz in einem Prozess beides vereinen soll, die Ahndung einer Straftat und die Wünsche nach Aufarbeitung, ist besondere Feinfühligkeit gefragt. Und nicht ein Schild mit dem Aufdruck "Demjanjuk Sammelzone", gut gemeint als Kennzeichnung des Treffpunkts vor dem Gericht und doch schrecklich nahe an der Wortwahl der Nazis.
Die aktuelle Entscheidung des Münchner Gerichts, im NSU-Prozess viele internationale und alle türkischen Medien außen vor zu lassen, berührt nicht solche Untiefen der deutschen Geschichte. Aber ist sie nicht ebenfalls mindestens eine Ungeschicklichkeit, womöglich ein Skandal?
Die Antwort hängt davon ab, ob das Gericht anders hätte entscheiden können als nach dem Prinzip: Wer zuerst kommt und eine Akkreditierung beantragt, bekommt den Platz - und jeder andere eben nicht. Radio Arabella vor "New York Times", basta. Bis Redaktionsschluss war kein Abrücken von dieser Entscheidung erkennbar. Gerichtspräsident Huber verteidigte seine Richter, Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) bat um Respekt vor der richterlichen Unabhängigkeit und regte eine Gesetzesänderung an. Andere Juristen üben heftige Kritik. Dass türkische Medien ausgeschlossen blieben, sei "verfassungsrechtlich bedenklich", sagt etwa der Bonner Presserechtsexperte Gernot Lehr. Der Münchner Strafrechtsprofessor Klaus Volk spricht von "fehlendem Fingerspitzengefühl".
Auch einer der Anwälte, deren Mandantin mit ihrem Schweigen oder ihren Aussagen diesen Prozess stark beeinflussen könnte, sieht "offene Fragen" bei der jetzigen Lösung. "Natürlich muss ein Sitzungssaal gewählt werden, der den besonderen Erfordernissen dieses Prozesses entspricht", sagt Zschäpes Anwalt Wolfgang Heer. Die Verteidigung habe "Verständnis dafür, dass auch die internationale Presse aus erster Hand berichten will".
Winfried Hassemer, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, wirft den Münchner Richtern vor, sie hätten "zu wenig pragmatisch und politisch gedacht". Er beschreibt die Notlage des Gerichts, er spricht von einem "Dilemma zwischen rechtlichen Kriterien auf der einen und politischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite". Die vorgeschriebene Öffentlichkeit des Verfahrens bedeute unter anderem, dass der "Zugang auf Zufall beruht", das sei "an sich auch vernünftig". Doch der Wunsch, auf die Opfer zu achten und deshalb türkischen Journalisten oder dem türkischen Botschafter einen Sitzplatz zu reservieren, "widerspricht genau diesem Prinzip".
Hassemers Fazit: "Egal was das Gericht da macht, es ist im Grunde falsch." Und dennoch hätte das Gericht "Regelungen für einen solchen Ausnahmefall finden können", meint der Ex-Verfassungsrichter.
Anwalt Lehr etwa schlägt vor, "einzelne Körbe zu bilden und dabei zu differenzieren, ob es sich um Print-, elektronische, ausländische und insbesondere türkische Medien handelt". Die Auswahl wäre nur innerhalb dieser Körbe getroffen worden, so dass Medien jeder Kategorie im Gerichtssaal vertreten wären. Dieses Procedere hatte das Landgericht Mannheim im Verfahren gegen den Wetterexperten Jörg Kachelmann gewählt.
Das Wer-zuerst-kommt-Prinzip hält Strafrechtsprofessor Volk für ungerecht: Es sei unrealistisch zu glauben, dass die ausländischen Medien die gleichen Chancen hatten wie lokale Reporter mit vermutlich deutlich besseren Kontakten zum Gericht.
Nun ist es wohl zu spät. Die Akkreditierungsregeln dürfen nachträglich nicht einfach geändert werden. Und die Verhandlung in einem anderen Saal stattfinden zu lassen ist jedenfalls jetzt utopisch. Die Münchner Justiz verfügt über keinen größeren, und die logistischen Probleme an anderen Orten wie einem Theater oder einer Universität erschienen dem Oberlandesgericht schon zu groß, als noch Zeit für Umbauten gewesen wäre - ganz abgesehen von der Sorge vor einem Massenspektakel.
Und eine Video-Übertragung in einen anderen Gerichtssaal? "Diese technisch lösbare und für die Medien und die Öffentlichkeit sicher zufriedenstellendste Lösung hätte mir und vielen anderen auch gut gefallen", teilte Gerichtspräsident Huber Mitte März in einer Stellungnahme mit. Allein: "Derartige Übertragungen würden eindeutig gegen Paragraf 169 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes verstoßen und könnten einen Revisionsgrund darstellen."
So eindeutig ist die Lage nicht. "Das Verfahren darf natürlich nicht in Public Viewing ausufern", sagt Anwalt Leitner. "Ich denke aber, das geltende Recht lässt eine solche Übertragung sehr wohl zu, wenn im zweiten Saal die gleichen Bedingungen erfüllt sind wie im Sitzungssaal" - also etwa, dass dort niemand die Übertragung abfilmen kann, auch nicht mit einem Handy.
Bei einer solchen "virtuellen Vergrößerung des Sitzungssaals" müssten zwar wohl auch Plätze an Zuschauer vergeben werden, und eventuelle Ordnungsmaßnahmen des Vorsitzenden müssten auch dort greifen - "mit einem in dieser Sache vertretbaren Aufwand lässt sich das technisch machen", so Leitner. Dass der Vorsitzende Richter nicht im Blick habe, was dort passiert, sei kein Gegenargument. "Auf der Presseempore kann er ja auch nicht alles sehen", sagt der Anwalt.
Auch Hassemer hält eine Video-Übertragung in einen anderen Saal für möglich. Das Bundesverfassungsgericht überträgt schon seit langem seine Verhandlungen in den dortigen Presseraum - ohne Bilder, aber immerhin den Ton.