Wucher Wie Schlüsseldienste ihre Kunden abzocken

Eigentlich lief alles nach Plan, als Jascha Gionkar und seine Mitbewohnerin einen Schlüsselnotdienst um Hilfe baten. Mittags angerufen, stand 40 Minuten später ein Monteur vor ihrer Leipziger Wohnung. Nach 30 Sekunden war die Tür geöffnet, ein neues Schloss nach nicht einmal 20 Minuten eingebaut.
Der Schock kam, als der Monteur seine Rechnung präsentierte. "617,81 Euro, allein das neue Schloss sollte 300 Euro kosten", sagt Gionkar. Fällig sofort. "Dann hielt er uns auch schon ein EC-Kartengerät unter die Nase."
So wie Gionkar geht es Kunden von Schlüsselnotdiensten deutschlandweit. Immer wieder müssen sich Gerichte mit überzogenen Rechnungen beschäftigen. Anfahrt, "Werkzeugpauschale", "Fahrzeugbereitstellung", Wochenendzuschläge von 150 Prozent und ähnliche Posten addieren sich schnell bis zu 1000 Euro auf. Besonders trickreiche Monteure führen außerdem Arbeiten aus, die nicht nötig sind, oder sie beschädigen Schlösser absichtlich, um neue zu überhöhten Preisen zu verkaufen.
Die Abzocke hat offenbar System, wie Recherchen von SPIEGEL und SPIEGEL TV zeigen.
Oft täuschen Anbieter nur vor, aus der Region zu kommen. Tatsächlich gehören sie zu Netzwerken, die mit ihren fragwürdigen Methoden deutschlandweit operieren.
Überrumpelt zahlen viele Kunden erst einmal. Versuche, die Monteure später aufzuspüren, laufen häufig ins Leere. Telefonnummern führen ins Nichts, Adressen stellen sich als falsch heraus. Der Wildwuchs ist schwer zu stoppen: Verbindliche Standards existieren in der Branche nicht, das Öffnen von Schlössern ist in Deutschland kein Handwerk.
Im nordrhein-westfälischen Kleve versucht die Staatsanwaltschaft nun, die Geschäfte eines besonders aktiven Rings von Schlüsseldiensten aufzuklären. Am 3. August ließ sie den 56-jährigen Karl-Leo S. und den 37-jährigen Christian S. festnehmen, seitdem sitzen beide in Untersuchungshaft. Den Männern wird vorgeworfen, von 2007 an ein "auf Betrug ausgerichtetes Schlüsseldienstunternehmen aufgebaut" zu haben.

Mutmaßlicher Betrüger Karl-Leo S. in einer seiner Immobilien, einem ehemaligen Frauengefängnis
Foto: Jürgen Lukaschek / MZDie Ermittler haben den Verdacht, dass die beiden über ein Netz von Firmen in ganz Deutschland Kunden in großem Stil abkassierten. Dutzende Unternehmen sollen daran beteiligt gewesen sein. 750 Anzeigen sind bisher bei der Staatsanwaltschaft Kleve eingegangen. "Es kommen praktisch täglich neue hinzu", sagt Oberstaatsanwalt Günter Neifer. Der angezeigte Schaden beläuft sich bisher auf über 500.000 Euro. Dazu kommt der Verdacht der Steuerhinterziehung und des Sozialversicherungsbetrugs. Fast sieben Millionen Euro sollen die beiden Männer dem Staat und der Rentenkasse vorenthalten haben.
Zwölf Immobilien wurden durchsucht, darunter Häuser in Österreich und Portugal. Fahnder stellten einen Luxusfuhrpark mit 19 Autos sicher, unter anderem mehrere Porsche und eine Corvette. Karl-Leo S., einst Eigentümer eines ehemaligen Frauengefängnisses und weiterer Immobilien, ist für sie ein alter Bekannter: Mit seinem Schlüsseldienst war er bereits 2004 wegen Betrugs und Steuerhinterziehung in mehreren Fällen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nun gerät er wieder in den Fokus der Behörden.
"Es wurden 1780 Aktenordner sichergestellt, die nun aufgearbeitet werden, außerdem muss eine Vielzahl an beteiligten Monteuren vernommen werden", sagt Neifer. Mit dem Prozess sei frühestens im Frühjahr zu rechnen. Einfach wird es für die Staatsanwälte nicht. Erstaunlich viele Schlüsseldienste kommen vor Gericht ungeschoren davon.
Bisher gebe es keine "fundierte Rechtsprechung eines Oberlandesgerichts" zum Thema Wucher und Schlüsseldienste, sagt einer der Anwälte von Karl-Leo S. Zunächst müsse bei jeder Anzeige geprüft werden, ob sich der Monteur an der Haustür strafbar gemacht habe. Selbst wenn, dann sei die Rolle ihrer Mandanten als mutmaßliche Hintermänner immer noch nicht erwiesen, sagen die Verteidiger. Den Vorwurf der Steuerhinterziehung bestreiten sie wie überhaupt jedes strafbare Verhalten.
Ein ehemaliger Mitarbeiter berichtet über merkwürdige Praktiken im Callcenter von Karl-Leo S. Im Schichtdienst habe man Anrufe aus ganz Deutschland entgegengenommen. "Sie sollten denken, dass wir direkt um die Ecke sitzen", sagt er. "Dabei kamen die Monteure manchmal aus 200 Kilometer Entfernung." Wenn Kunden erneut anriefen, um sich über die hohen Preise zu beschweren, "sollten wir so tun, als ob wir von nichts wussten". Die Betroffenen seien regelmäßig "aus den Latschen gekippt", wenn sie die Rechnungen erhalten hätten.
Auch Druck sei aufgebaut worden: Werde nicht gezahlt, werde die Tür halt wieder geschlossen. Außerdem habe es die Anweisung an Mitarbeiter gegeben, Unternehmen, die ebenfalls einen 24-Stunden-Dienst anbieten, mit Scheinaufträgen anzurufen. "Wenn die nicht ans Telefon gegangen sind, wurden sofort Abmahnungen verschickt." So sei versucht worden, Wettbewerber vom Markt zu drängen.
Wie viele Schlüsseldienste zu den dubiosen Anbietern gehören, ist schwer zu sagen. Erk Schaarschmidt, Jurist bei der Verbraucherzentrale Brandenburg, schätzt, dass sich nur ein Prozent der geschädigten Kunden hinterher bei ihm oder seinen Kollegen meldet. "Und trotzdem haben wir jede Woche mit Vorwürfen gegen Schlüsseldienste zu tun."
Inzwischen hat der Potsdamer Verbraucherschützer Hunderte Beschwerden über eine Firma, die in Brandenburg aktiv ist, gesammelt. Die beauftragten Monteure kassierten bis zu 966 Euro. Mahnschreiben konnten nicht zugestellt werden, die Bank, bei der das Unternehmen sein Konto führt, wurde informiert. Und wie die Staatsanwaltschaft Kleve hat die Verbraucherzentrale Brandenburg den Verdacht, dass unnötige Dienste ausgeführt wurden. "Die verlangten Preise sind nach unserer Auffassung sittenwidrig und teilweise strafrechtlich relevant", sagt Schaarschmidt.
Weil sich kaum jemand mit Schlüsseldiensten beschäftigt, wenn die Tür keine Probleme macht, und alle wieder schnell in ihre Wohnung wollen, bezahlten sie selbst absurd hohe Preise.
"Erst im Nachhinein ist mir aufgefallen, wie unseriös die Rechnung war", sagt Jascha Gionkar aus Leipzig. So fehlten die Kontaktdaten des beauftragten Unternehmens. "Die Vermittlung hat mir dann am Telefon gesagt, sie fänden meinen Namen und meine Adresse nicht, sie seien nie bei mir gewesen."
Nach der Empfehlung des Bundesverbands Metalltechnik hätte Gionkar nur etwa 160 Euro bezahlen müssen. Kassiert wurde fast das Vierfache.
Verbraucherschützer Schaarschmidt hat einen einfachen Rat: "Manchmal ist es günstiger, für eine Nacht im Hotel zu schlafen und sich die Tür am nächsten Morgen öffnen zu lassen."
SPIEGEL TV Magazin über die dreiste Abzocke von Schlüsseldiensten (6.11.2016)