Mathias Énards großartiger Roman "Kompass" Verliere nicht den Orient

Autor Énard
Foto: JOEL SAGET/ AFPIn seiner kleinen, mit Büchern, Aufsätzen, Briefen und Dokumenten vollgestopften Wohnung beginnt der Wiener Unidozent Franz Ritter, ein verkannter Spezialist der orientalischen Einflüsse auf die westliche Musik, eine einsame Reise durch die Nacht. Acht schlaflose Stunden liegen vor ihm, Zeit genug, um seine Erinnerungen und Obsessionen in einem endlosen Selbstgespräch vorbeiziehen zu lassen. Es sind 17 Jahre seines Lebens, die er aus seinem Gedächtnis zurückholt, bis zur ersten Begegnung mit der Pariser Orientalistin Sarah, seiner großen unvollendeten Liebe, mit der er die Leidenschaft für die Kultur des Nahen und des Mittleren Ostens teilt.
Franz und Sarah, zwei Pole, verbunden und getrennt: Die komplizierte Beziehung zwischen den ungleichen Liebenden ist das Spiegelbild der nicht minder komplexen und spannungsgeladenen Verbindung zwischen Orient und Okzident.
"Kompass", der neue Roman des französischen Schriftstellers Mathias Énard, der mit dem Prix Goncourt, dem höchsten Literaturpreis Frankreichs, ausgezeichnet wurde, ist eine poetische Hymne an die Wunder und Herrlichkeiten des Morgenlands. So altmodisch-romantisch sollte man hier jene orientalische Welt bezeichnen, die viel mehr als ein geografischer und kultureller Raum, eine intellektuelle und emotionale Erfindung des Westens ist. Sie ist das Andere des Abendlands, ein mit Imaginationen und Projektionen prall gefüllter Koffer, den der Westen mit sich schleppt.
Énard ist ein gelehrter und verliebter Orientalist, sprachkundig und weit gereist, er kennt die islamische Welt seit seinen Studienjahren, bevor der 11. September 2001, der Tag des Anschlags auf das World Trade Center in New York, den Zyklus der Gewalt in Gang setzte, der sein Ende immer noch nicht erreicht hat. Aus der Märchen- und Schatztruhe des Ostens sei das Schreckenskabinett der Enthaupteten geworden, wie Énard dem Besucher in seinem Sommerhaus erläutert. Mit seiner spanischen Frau, auch sie Arabistin, hat er in dem Weiler Cramchaban, nicht weit von La Rochelle, ein verfallenes Pfarrhaus herrichten lassen, sein noch immer nicht ganz fertiges Ferien- und Schreibrefugium.
Der Terror, die Gräuel und die Angst vor den fanatischen Islamisten haben seinen Blick nicht trüben können. Er schaut durch die Lupe der Hoffnung auf die westöstliche Dialektik, die schon viele "Formen von Wahn" durchlaufen habe. Statt schwärmerischer Orientalisten führen heute Islamwissenschaftler und Terrorexperten in der Öffentlichkeit das große Wort. Sein Roman setzt den absoluten Kontrapunkt zum medialen Kriegs- und Panikgeschrei.
Énards dichterisches Ich ist orientalisch, es sei sein Ziel gewesen, sagt er, "gegen das billige Zerrbild eines islamistischen und feindlichen Orients anzukämpfen und zu zeigen, was Europa dem Nahen Osten alles verdankt".
In Frankreich, wo sein Roman ein Bestseller wurde, hat die Literaturkritik aus ihm einen Anti-Houellebecq gemacht. Das ist eine grobe Vereinfachung. "Kompass" und "Unterwerfung" sind nicht zu vergleichen, denn Houellebecqs Vision einer islamischen Machtübernahme in Frankreich ist eine Satire, ein Spiel mit den Niedergangsängsten einer Nation, die sich vom Feind im Inneren bedroht fühlt. Énards "Kompass" handelt nicht vom Zusammenstoß, sondern vom Austausch der Kulturen und von der enormen Vielfalt des Orients.
Wie seine gespaltenen Helden Franz und Sarah sieht sich Énard, der islamische Kunst, Arabisch und Persisch studiert hat, in der Tradition jener Gelehrten des 19. Jahrhunderts, die er mit überbordendem Wissen wiederauferstehen lässt. "Kompass" ist auch eine Enzyklopädie der orientalischen Kultur in der Form einer doppelbödigen Liebeserklärung, eine atemberaubende Vermählung von Bildung und Romantik.
In der Faszination des Orients will Énard neben der Furcht, die immer auch dazugehört, die Anziehungskraft wiederentdecken, die so viele Dichter, Maler, Musiker erfasste: "In Wahrheit gibt es keinen Graben zwischen Ost und West", sagt er, "dieser Gegensatz ist eine Illusion. Sobald man nach dem Graben sucht, verschwimmt die Grenze." Die Neugier auf das Fremde ist die Brücke zum Unbekannten und das Gegengift zur akuten Abstoßungsreaktion, die heute die Gesellschaften in Ost und West in fiebrigen Alarm versetzt.
Den Schauplatz seines Romans hat Énard in Wien angesiedelt, der kosmopolitischen Stadt, die Hugo von Hofmannsthal als "Porta Orientis", als Tor des Orients, bezeichnete. Wien ist der Ausgangspunkt einer Reise, die Franz und Sarah nach Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra und schließlich Teheran führt.
"Und wenn Wien das Tor zum Orient ist, zu welchem Orient hin öffnet es sich dann?", fragt Sarah. Ob man in beide Richtungen durch das Tor hindurchgehen könne, das ist die Frage, die den Romancier Énard, der immer auch ein literarischer Essayist bleibt, umtreibt.
Die mythischen und mystischen Orte, die er beschreibt und deren Geschichte er erzählt, hat Énard alle selbst besucht. Er hat drei Jahre in Damaskus, zwei in Beirut und ein Jahr in Teheran (wo die französischen Diplomaten im Keller ihrer Botschaft heimlich Wein kelterten) gelebt. Den Arabischen Frühling, den Bürgerkrieg in Syrien hat er dennoch nicht vorausgesehen, wie er im Gespräch erzählt. Einig seien sich die Kenner der Region allerdings stets in der Erwartung gewesen, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad niemals, wie 1979 der Schah von Persien, 2011 der tunesische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali und der ägyptische Staatschef Husni Mubarak, kampflos aufgeben und die Flucht ergreifen würde, wenn es zum Aufstand käme. Schließlich habe schon Assads Vater Hafis eine Rebellion der Muslimbrüder im Blut erstickt; 1982 ließ er die Stadt Hama, eine Hochburg der sunnitischen Islamisten, aus der Luft bombardieren und am Boden mit Panzern und Artillerie beschießen; Zehntausende starben.
Syrien, ein Schlüsselland des Nahen Ostens mit Grenzen zur Türkei, zum Libanon, zu Israel, Jordanien und zum Irak, sei heute entlang sämtlicher konfessioneller, ethnischer und politischer Linien zerbrochen, die es von Anfang an durchquerten, zugleich aber auch seinen kulturellen Reichtum ausmachten.
Die Situation des Landes sei so abscheulich und verfahren, sagt Énard, dass sie auf ihn aus der Distanz nur noch irreal wirke, er finde keine Sprache dafür, auch wenn die aktuellen Ereignisse gelegentlich in den Erinnerungsstrom des Musikwissenschaftlers Franz Ritter hereinbrechen.

Hotel Baron in Aleppo
Foto: Marc Steinmetz / VISUMIn den Abschnitten, die von Franz' und Sarahs Reisestationen Aleppo und Palmyra handeln, hat Énard kleine Geschichten in die große Erzählung eingefügt, Schmuckstücke klassischer Reiseliteratur, wunderbare Exkurse über das legendäre Hotel Baron in Aleppo, in dem Gäste wie Lawrence von Arabien, Agatha Christie oder die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach, eine Freundin von Klaus und Erika Mann, logierten. Und ebenso über das Hotel Zenobia in Palmyra, das in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts von der französischen Abenteurerin Marga d'Andurain geführt wurde. Diese "Gräfin", die in ihrem Leben mehrmals unter Mordverdacht geriet und am Ende selbst ermordet wurde, hatte sich vorgenommen, als erste Europäerin nach Mekka vorzudringen; sie landete, mit der Todesstrafe bedroht, in einem Gefängnis in Dschidda, aus dem sie 1933 nach zwei Monaten mithilfe des französischen Konsuls herauskam.
In Palmyra, erzählt Énard, waren die alten Steine so zahlreich, dass das Gartenmobiliar des Hotels Zenobia aus nichts anderem bestand: Kapitelle als Tische, Säulenschäfte für die Bänke, Bruchsteine für die Rabatten, und für die Gestaltung der Terrasse hatte man sich reichlich bei den angrenzenden Ruinen bedient. Den Baaltempel hatte man in Sichtweite.
Dagegen das moderne Palmyra: "Ein wohlgeordnetes Viereck von niedrigen Häusern aus nacktem Beton, im Norden und Nordwesten von einem Flughafen und einem finsteren Gefängnis begrenzt, dem berüchtigtsten von ganz Syrien, einem schwarzen und blutroten Gefängnis in den warnenden Farben der syrischen Flagge, die die Dynastie der Assads über das gesamte Territorium verbissen ausgebreitet hatte: In seinen Kerkern gab es täglich die grausamsten Folterungen, mittelalterliche Martern wurden systematisch angewandt, eine Routine, die kein anderes Ziel hatte als den allgemeinen Schrecken, wie Dung sollte die Angst über das ganze Land verteilt werden."
Das Hotel Zenobia stehe anscheinend noch, glaubt Énard, es habe sogar wieder eröffnet. Die Kämpfer des "Islamischen Staats" (IS) hätten es demnach verschont, anders als manche der antiken Ruinen, die sie vor den entsetzten Augen der Welt sprengten und zerschlugen. Was bedeutet schon den Strenggläubigen von heute das Andenken an die falschen Götter von gestern? Die IS-Kämpfer hätten aus ihrer Sicht mehrere gute Gründe gehabt, dieses Welterbe der Unesco anzutasten, erklärt der Schriftsteller: Über die provozierende Machtdemonstration gegenüber dem Westen hinaus sei es ihnen um die Zerstörung von Palmyra als Symbol des syrischen Nationalstaats gegangen, zu dem das Assad-Regime die antike Stätte erhoben hatte. Den Dschihadisten ist der arabische Nationalismus, der mit der staatlichen Unabhängigkeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als politisches Herrschaftsinstrument aufkeimte, eine ketzerische Verirrung. Es gibt keine Gemeinschaft außer derjenigen der Rechtgläubigen.
Für die Islamisten gehöre alles, was vorislamisch sei, nicht zu ihnen, sondern zu einer anderen Ordnung, einer anderen Welt. Die westlichen Archäologen in ihrer Grabungswut seien immer auch Sendboten des kolonialen Herrschaftssystems gewesen: "Europa hat den Syrern, Irakern und Ägyptern die Antike unter dem Hintern weggegraben; unsere glorreichen Nationen haben sich kraft ihres Monopols in Wissenschaft und Archäologie des Universellen bemächtigt und mit diesem Raub den kolonisierten Völkern eine Vergangenheit entwendet, die deshalb von ihnen leicht als ortsfremd erlebt wird: Die hirnlosen islamistischen Zerstörer steuern die Abrissbagger in den antiken Stätten umso leichter."

Palmyra nach der IS-Zerstörung
Foto: JOSEPH EID/ AFPÉnard hätte aus seinem depressiven Protagonisten Franz einen Archäologen machen können. Aber das hätte seiner Figur die Unschuld genommen, die der Sprache der Musik und der Poesie eigen ist. Im 19. Jahrhundert waren Europas Dichter begierig darauf, im Orient neue Inspirationsquellen zu finden, auch ohne jemals selbst dort gewesen zu sein. Goethe, der Dichter des "West-östlichen Divans", kam lediglich nach Italien, Victor Hugo hat den Orient nie besucht, in seiner Wahrnehmung blieb er Traum und Wunsch, für Lord Byron waren schon Griechenland und die türkische Belagerung der Heldenstadt Mesolongi die Erfüllung seiner orientalischen Sehnsüchte. Die Archäologen indes suchten nach der verschütteten Größe des westlichen Selbst nach biblischen, griechischen, römischen Spuren; in ihren Funden erkannten sie eine Bestätigung der zivilisatorischen Überlegenheit des Okzidents. Der Orientalismus war eben auch ein Spross der expandierenden europäischen Kolonialpolitik, nicht nur Ausdruck des Verlangens nach Tausendundeiner Nacht.
Énards Roman ist gespickt mit historischen Aperçus und philosophischen Abschweifungen. Die Flut der Erkenntnis und des Wissens, kanalisiert durch eine gewählte Sprache, überwältigt den Leser und doch bekommt er Hinweise und kulturelle Elemente angeboten, die eindringlich beweisen, dass dem Kampf der Kulturen auch eine Begegnung innewohnt, die das schwache Licht der Versöhnung am Leben erhält.
Énard, 44, ist in der westfranzösischen Kleinstadt Niort aufgewachsen, näher am Atlantik als am Mittelmeer. Nach seinen Studien hatte er sich im Jahr 2000 in Barcelona niedergelassen, wo er als Übersetzer und Arabischlehrer arbeitete. Am Mittelmeerraum, der Wiege der europäischen Zivilisation, fesselten ihn die Pluralität und die fruchtbare Mischung der Kulturen. Zugleich war das Mittelmeer immer eine Zone der Kriege und der Gewalt, von Homers Troja bis in die syrische Gegenwart, dazwischen Athen, Rom, Karthago, Konstantinopel, die zwei Weltkriege, der Spanische Bürgerkrieg, Jugoslawien, Israel und Gaza das Mittelmeer ist "das Hoheitsgebiet der erzürnten und wütenden Götter".
So schrieb Énard in seinem großen Roman "Zone", der 2010 auf Deutsch erschien. Auch dieses Buch ein monumentaler innerer Monolog eines Versehrten. "Kompass" ist in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung oder vielmehr eine andere Version, in der die Gewalt nicht mehr im Mittelpunkt steht, nicht mehr alles, sondern nur ein Teil der Geschichte ist. Aus dem Orient ist entgegen allen Verlautbarungen nicht nur Hass und Zerstörung zu erwarten. "Kompass" breitet die kulturellen Schätze des Nahen Ostens aus und zeichnet eine orientalische Renaissance.
Die Nadel des Kompasses zeigt nicht nach Norden in die öde Kälte, sondern nach Osten in die Brutstätte der Zivilisation, in die Richtung jenes Fruchtbaren Halbmondes, aus dem Morgen- und Abendland gleichermaßen hervorgingen. "Das Wesentliche ist, den Osten nicht zu verlieren. Verliere nicht den Osten, Franz", mahnt Sarah, die ihrem Gefährten einen Kompass mit zwei Nadeln geschenkt hat, von denen die eine, im rechten Winkel auf die magnetische gesetzt, stets die Ost-West-Achse anzeigt.
Ost und West sind kulturelle Zwillinge, die Politik und Machtinteressen zu konträren Identitäten entfremdet haben. Wer einem anderen eine Identität als Etikett aufdrücke Christ, Jude, Muslim , begehe einen Akt der Gewalt, als spräche er eine Verurteilung aus, so Énard. Wer sich selbst in seiner Identität einschließt, um sich vom anderen zu trennen, freilich nicht minder. Wenn die Identität sich über die Feindschaft zum anderen definiert, scheitert jede Begegnung, sie wird, in den Worten von Martin Buber, zur "Vergegnung". An genau diesem Punkt konzentriert sich die Panik, welche die gegenwärtige Migrationskrise schürt. In der gelungenen Begegnung dagegen, die zu einem Dialog führt, verschmelzen der Horizont und die Lebenswelten in gemeinsamer Verständigung.
"Zone" und jetzt "Kompass" bilden ein Diptychon, das in seiner epischen, bildungsgesättigten Breite nicht an Houellebecq, wohl aber in mancher Hinsicht an "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell erinnert. Die beiden Autoren kennen sich aus Barcelona. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Bösen in uns, dem Irrsinn der Gewalt. Haben nicht alle Europäer das Morden im Blut, kehrt es nicht aus dem Orient nach Europa zurück? War nicht Napoleon Bonaparte, dieser "schreckliche Mittelmeermensch", so Énard, "der Erfinder des Orientalismus?", denn im Gefolge seiner Armee kam die Wissenschaft nach Ägypten.
Der Musikliebhaber Franz sieht überall nur die Ruinen seiner gescheiterten Beziehung mit Sarah, die schmerzliche Unmöglichkeit, wieder in den gleichen Takt, die gleiche Melodie zu finden. Doch dann, der Tag in Wien bricht an, empfängt er die letzte Mail von der Geliebten, und er schöpft wieder Mut: "Man muss alles durch die Brille der Hoffnung sehen, den anderen in sich lieben." Dem Menschen bleibt immer die Möglichkeit, sich dem Schlimmen zu verweigern.

Mathias Énard:
Kompass
Hanser Berlin; 432 Seiten; 25 Euro.
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