Kanzlerkandidat Sebastian Kurz Der Zocker

Kanzlerkandidat Kurz: "Ich sag, was ich denk"
Foto: Iris Kivisalu / DER SPIEGELDie Reisegesellschaft auf Flug OS 87 von Wien Richtung New York ist bunt gemischt: Zwischen plärrenden Babys und orthodoxen Juden mit Schläfenlocken führt im Gang ein Mann seinen Zwergpinscher Gassi.
Mittendrin im Getümmel, auf Fensterplatz 25A, sitzt Österreichs Außenminister Sebastian Kurz.
Er fliegt Economy auf eigenen Wunsch, auch jetzt, unterwegs zur Generalversammlung der Uno. Klaglos verstaut er seine Einssechsundachtzig im rückwärtigen Teil der Boeing 767. Zerkleinert mit Plastikbesteck sein Hühnchengericht, döst zwischendurch und schildert dann, auf Höhe der Südspitze Grönlands, seine Stimmungslage: Er findet, dass es derzeit verdammt gut für ihn laufe.
Am 15. Oktober wird in Österreich ein neues Parlament gewählt, und Kurz ist auf dem besten Weg, das Kanzleramt zu erobern.
"Wir haben jetzt 150.000 Unterstützer - die meisten waren nie zuvor auf einer Wahlveranstaltung", sagt er. "Und nun kommen da 4000 Leute unter dem Motto: 'Schauen, gesehen werden, dabei sein.'"
Erst im Juli zum Parteichef gewählt, hat der Außenminister das Kunststück vollbracht, die christsoziale Volkspartei (ÖVP) von Rang drei an die Spitze der Umfragen zu katapultieren. Bis zu zehn Prozentpunkte beträgt der Vorsprung auf die Sozialdemokraten um Kanzler Christian Kern sowie auf die Freiheitlichen von Heinz-Christian Strache, die zuvor lange in Front gelegen haben.
Wer den 31 Jahre jungen Kurz begleitet, ob in Wien, beim EU-Treffen in Tallinn oder auf großer Bühne in New York zwischen Donald Trump und Henry Kissinger, der erlebt einen Politprofi, der seinen Willen zur Macht hinter makellosen Manieren verbirgt und seinen harten Kern hinter weichgezeichneten Konturen. Kurz denkt wie ein Schachspieler mehrere Züge voraus, erwünschtes Medienecho inklusive.
Lässig betritt er mit US-Vizepräsident Mike Pence das New Yorker Uno-Hauptquartier, wo er später seine Rede mit den Worten eröffnen wird: "Ladies and Gentlemen, die Welt war nie unsicherer als heute - zumindest seit ich geboren bin." Kurz redet, ohne sich zu verhaspeln, spricht über Dschihadismus und die Koreakrise, ganz so, als wäre das kleine Österreich längst Wortführer am Tisch der ganz Großen.
Während er in New York Donald Trumps wüsten Drohungen gegen Nordkorea und Iran lauscht, hat Kurz bereits seinen eigenen Coup geplant - den von Österreich maßgeblich mitbetriebenen Atomwaffenverbotsvertrag, der bisher von 53 Ländern weltweit unterzeichnet wurde. Dass die Nato den Vorstoß als unwillkommen kritisiert, ja als Versuch, die Weltgemeinschaft zu spalten? Stört ihn wenig. "Dafür fehlt mir jedes Verständnis", sagt der junge Herr Kurz kühl.
Gerade mal 28 war er bei seinem ersten Auftritt vor der Uno in New York 2014 und doch schon gerissen genug, sich nicht in eine Gruppe mit Rednern aus Kiribati und Andorra vor fast leeren Rängen einteilen zu lassen. Stattdessen hielt er zur Primetime einen beherzten Vortrag, in dem er unter anderem vor radikalem Islamismus warnte. Die Nachrichtenagentur Reuters schrieb danach, der Österreicher habe einen Auftritt hingelegt, "wie es ihn während des jährlichen Treffens der Mächtigen der Welt selten gegeben hat".
Nun also, drei Jahre später, wieder New York, wieder großes Kino: Während zu Hause in Wien gestritten wird, ob ums Kanzleramt ein Anti-Terror-Mäuerchen gezogen werden soll, gibt Kurz den Mann von Welt. Debattiert mit Irans Präsident Hassan Rohani, trifft den Uno-Generalsekretär António Guterres und lässt sich zum 94 Jahre alten früheren US-Außenminister Henry Kissinger chauffieren. Der Fotograf hat dann 30 Sekunden Zeit, das Treffen zu verewigen. Wenig später ist das Bild vom Staatsmann Kurz schon online.

Außenminister Kurz mit dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger in New York
Foto: Dragan Tatic/ dpaBreites Bubenlächeln, schmal geschnittener Anzug, sorgsam gegelt der Haarschopf: Kurz wirkt stets gut gelaunt und wie frisch gebadet. Fixiert mit wasserblauen Augen forschend sein Gegenüber, beugt sich vor, hört zu und gibt das Gefühl, wichtig zu sein. "Darf ich Ihnen ein Wasser bringen?", fragt Kurz, kaum dass man sitzt. Oder: "Geht's Ihnen gut?" Der Kandidat gibt sich volksnah und furchtlos: "Ich sag, was ich denk." Zusammen mit seiner Freundin wohnt er noch immer in Wien-Meidling, wo er geboren und aufgewachsen ist; in einem Stadtteil, reich an Sonnenstudios und Döner-Imbissen. Die bodenständige Herkunft wird erst jetzt, im Wahlkampf, zum Thema: dass die Mutter, eine Lehrerin, die Oma in Niederösterreich pflegt; dass der Vater, ein Ingenieur, arbeitslos war; oder dass der bosnische Nachbar "auszuckt", wenn seine Tochter von einem afghanischen Flüchtling belästigt wird. Anfang der Neunziger hatten Kurz' Eltern selbst bosnische Flüchtlinge bei sich aufgenommen.
Mit 27 Außenminister, mit 31 Regierungschef? Die Karriere des ÖVP-Kandidaten verläuft in rasendem Rhythmus. Dass sich da ein Lernender ums höchste Regierungsamt bewirbt, ist unverkennbar. "Absurd", sagt Kurz gern, wenn er etwas noch nie gehört hat. Oder: "Sachen gibt's." Aber er lernt schnell. Unter vier Augen hört der Außenminister mehr zu, als er spricht, und saugt Wissen auf wie ein Schwamm.
"Ich wollte definitiv nie Berufspolitiker werden", behauptet Kurz. Ganz so, als sei ihm seine Karriere irgendwie passiert. Doch bei seiner strategischen Versiertheit und eisernen Disziplin darf das ruhig bezweifelt werden.
Die Operation Kanzleramt sei durch Kurz und seine Mitarbeiter seit Langem geplant worden, titelte das Wiener Stadtmagazin "Falter" und veröffentlichte vertrauliche ÖVP-Dokumente, die sich lesen wie das Drehbuch zur Machtübernahme. Von ersten erklärenden "Wordings" über "Interviews mit Journis" bis hin zum radikalen Umbau der Partei und zu den Namen möglicher Spender ist darin der Schlachtplan der Kurz-Truppe penibel aufgelistet.
Als er von der Veröffentlichung erfährt, wartet der Außenminister gerade in "Wolfgang's Steakhouse" in New York auf sein Filet Mignon. Er telefoniert mit Wien, zieht die Echtheit der Papiere in Zweifel und schimpft über parteinahen Kampagnenjournalismus. Dass er sich gedanklich gerüstet habe für den Parteivorsitz, sei ja wohl kein Verbrechen, sagt Kurz schließlich. Von einem Putsch gegen Parteichef Reinhold Mitterlehner und von mutwillig herbeigeführten Neuwahlen - nein, davon könne keine Rede sein.
Seine Kandidatur für die Parteispitze machte der Außenminister von sieben Bedingungen abhängig, vor allem verlangte er freie Hand in allen wesentlichen Fragen. Die mächtigen Landesfürsten, Bauernbündler und Wirtschaftsfunktionäre der ÖVP warfen sich vor dem Jungstar in den Staub und stimmten ihrer Entmachtung zu. Seither kommt die Kampagne der traditionell schwarzen Konservativen in Türkis daher; die Partei nennt sich jetzt "Liste Sebastian Kurz - Die neue Volkspartei".

"Dass einer, dessen Partei seit 30 Jahren an der Regierung ist, auf seine Wahlplakate 'Zeit für Neues' schreiben lässt, ist skurril", sagt der Politikberater Thomas Hofer. "Aber Kurz hat, anders als Kanzler Kern, eine Strategie und in der ÖVP durch die von ihm eingeschleusten Leute längst eine Hausmacht. Wenn er keine gravierenden Fehler macht, ist ihm Platz eins sicher." Wie ein Boxer, der in der letzten Runde nach Punkten uneinholbar vorn liegt, bewegt sich Kurz nun durch die politische Arena. Er wirkt wie der Titelverteidiger, nicht wie der Herausforderer. "Seine Taktik erinnert mich an Angela Merkel", sagt Hofer. "Erst mal alles abprallen lassen und anschließend einen kleinen Schritt auf die Kritiker zugehen."
Einer davon ist Kanzler Kern: Der letzte Strohhalm der ÖVP sei Kurz, sein Programm klinge nach "Freibier für alle" und seine Forderung, die Flüchtlingsroute über das Mittelmeer zu schließen, sei "Vollholler", Blödsinn. Kern teilt wuchtig aus, wohl weil er selbst angeschlagen ist. Die Affäre um den mittlerweile gefeuerten Berater Tal Silberstein, der unter Geldwäscheverdacht verhaftet wurde, schadet dem Premier zusätzlich. Unter Silbersteins Regie ließ die SPÖ offenbar verleumderische Facebook-Profile von Kurz erstellen.
Dabei sind sich der Kanzler und sein Außenminister auf den ersten Blick nicht unähnlich: beide redegewandt, gut aussehend und eitel; Galionsfiguren ihrer inhaltlich ausgebluteten Volksparteien in einem hochgradig personalisierten Wahlkampf.
Österreichs Hallen und Plätze füllt der Kanzlerkandidat Kurz wie keiner sonst seit den Glanzzeiten Jörg Haiders. Junge und Alte, Männer und Frauen, sie alle laufen ihm zu Tausenden zu, viele davon wie Jünger in Erwartung des Erlösers. Anhänger sehen in Kurz den ersehnten Drachentöter, der verspricht, was lange nur Rechtspopulisten versprachen: dass er die "Zuwanderung ins Sozialsystem" stoppen und anerkannten Asylbewerbern die Mindestsicherung kürzen wolle. Gegner kritisieren den konservativen Kandidaten als "Prinz Eisenherz", weil er in der Flüchtlingskrise früher und lauter als andere ein Ende der Willkommenskultur forderte.
Unstrittig sind Flüchtlinge das Thema, ohne das die Karriere des Sebastian Kurz anders verlaufen wäre. Zum Staatssekretär für Integration ernannt wurde er mit 24, obwohl er bis dahin vor allem bekannt dafür war, dass er sich mit einem "Geilo-Mobil" getauften Geländewagen und leicht bekleideten Frauen durch die Stadt hatte fahren lassen, um Jungwähler zu ködern. Eine "Verarschung" sei die Berufung von Kurz zum Staatssekretär, schrieb damals der "Standard". Vereinzelt spuckten Passanten vor dem Jungpolitiker aus. Bei der Mutter zu Hause flossen Tränen.
Kurz mag über diese Zeit nicht sprechen. Aber die Arbeit, die er damals leistete, die Formeln, die er erfand - "Fordern und Fördern" oder "Integration ist ein Geben und Nehmen" -, die findet er bis heute richtig. In Sachen Migration, und überhaupt. Der Satz "Wer arbeitet und Leistung erbringt, darf nicht der Dumme sein" zählt zu seinen Wahlkampfschlagern.
Ab dem August 2015 "entdeckte Kurz die Flüchtlingskrise" als sein Thema, so die Autoren des Sachbuchs "Flucht - Wie der Staat die Kontrolle verlor". Der Außenminister verschickte angesichts des Zustroms über den Balkan Brandbriefe an seine EU-Kollegen. Und kritisierte, statt wie einige Ministerkollegen Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof zu begrüßen, das verlogene "Weiterwinken nach Deutschland".
"Nicht nur strategisch, auch moralisch richtig" sei seine Politik gewesen, sagt Kurz heute. Er denkt dabei vor allem an die ab Anfang 2016 diskret organisierten Schritte zur Schließung der Balkanroute. Kurz nutzte Kontakte nach Deutschland, zu Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Innenminister Thomas de Maizière und zur CSU, um sein Husarenstück abzusichern. Am 9. März 2016 um Mitternacht war die Route aus der Türkei über den Balkan nach Österreich und weiter nach Deutschland tatsächlich dicht, gegen den Willen von Angela Merkel.
Kurz hatte gezockt. Und gewonnen.
"Hat Merkel sich schon bedankt?", wurde Österreichs Außenminister später im Vorbeigehen von Wolfgang Schäuble gefragt.
Hat sie, Herr Außenminister? Kurz lächelt die Frage weg. Hat sie natürlich nicht.
Noch einmal zockte Österreichs Außenminister, noch einmal brachte er die Deutschen in Verlegenheit: In diesem Sommer, als er forderte, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen - damals waren die SPD-Spitze und Merkel noch dagegen, doch wenig später schwenkten sie um. "Natürlich komme ich ins Schmunzeln", sagt Kurz in Tallinn bei Ginger Ale und Chips, "wenn der deutsche Außenminister mir vor Monaten noch Populismus vorwirft, und nun ist die deutsche Position in der Türkeifrage identisch mit der unseren." Kurz weiß: Wer es schafft, die Deutschen zu ärgern, der hat in Österreich die Boulevardmedien auf seiner Seite.
Was die Berichterstattung über ihn betrifft, ist der Außenminister Kontrollfreak. Die Protestanrufe seiner Mitarbeiter in den Redaktionen sind berüchtigt. Wenn nötig, meldet sich Kurz auch persönlich. Schriftliche Interviews für kleinere Zeitungen erledigen seine Mitarbeiter mit vorgefertigten Antwortbausteinen, um Patzer zu vermeiden. Was auf Facebook und Twitter über ihn geschrieben wird, behält Kurz selbst im Blick. Beim Landeanflug auf New York schaltet er sein Handy bereits auf mehr als tausend Höhenmetern ein.

Außenminister Kurz mit dem französischen Staatsräsidenten Emmanuel Macron in New York
Foto: Dragan Tatic/ dpaKurz gilt als nachtragend, Gegner merkt er sich. Wenn ihm ein führender Publizist "zivilisierten Orbanismus" oder "Strachismus mit rosigem Teint" vorwirft, dann erwidert er das so: "Der hat noch immer Schaum vor dem Mund, weil ich ihn bei einer öffentlichen Veranstaltung mal vorgeführt habe." Und wenn ein früherer ÖVP-Parteichef spöttelt, Kurz könne ja im Falle des Scheiterns erst mal fertig studieren, dann lässt der Außenminister durchsickern, da sei einer sauer, dem er einen Versorgungsposten abgeschlagen habe.
Wofür ein Kanzler Kurz stünde? "Für Freiheit, Eigenverantwortung, Solidarität", sagt der Kandidat. Das heißt: weniger Staat, mehr Wirtschaft, dazu Steuersenkungen in Höhe von bis zu 14 Milliarden Euro. Außenpolitisch solle Österreich sich "wohldefinierte Nischen" zwischen den Großmächten suchen. Doch die Floskeln verdecken nur dürftig, dass vor allem die Person Kurz selbst das ÖVP-Programm ist.
Auf der von ihm mit Parteilosen bestückten Bundesliste finden sich hauptsächlich Menschen, gegen die keiner was haben kann: eine querschnittsgelähmte Ex-Stabhochspringerin, ein ehemaliger Grüner mit türkischen Wurzeln, die Organisatorin des Wiener Opernballs, ein Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde und der Ex-Präsident des Rechnungshofs. Hinzu kommt, im Unterstützerkomitee, der frühere Formel-1-Weltmeister Niki Lauda.
Würde er mit der rechtspopulistischen FPÖ regieren, wie es ihm unterstellt wird? Kurz bejaht das nicht und schließt es nicht aus. Er sagt, rechts und links seien für ihn "Schubladen des vergangenen Jahrhunderts", er könne sich aber auch eine Minderheitsregierung vorstellen. Mithilfe etwa der Grünen müsste er sich dann wechselnde Mehrheiten besorgen. Das wäre ein Novum im Land der Großen Koalitionen. Die SPÖ unter Christian Kern will als Juniorpartner nicht zur Verfügung stehen.

Wahlkämpfer Kurz in Wien
Foto: Georges Schneider/picturedesk/Action Press"Sebastian Kurz spielt All In" - er pokere hoch, so sagt es einer, der Kurz nahesteht. "Er weiß, dass er gewinnen muss, sonst ist er weg, sonst heißt es in der Partei: 'Du hast deine Chance gehabt.'"
Kurz aber hat erkennbar Freude am Zocken. "Lassen S' uns um eine Kiste Wein wetten", sagt er unvermittelt abends in der Bar eines Tallinner Hotels. - "Auf was?" - "Na, aufs Wahlergebnis." Dann tippt der Außenminister, und zwar so, dass ihm damit sämtliche Optionen offenstünden: das Regieren mit einer der beiden großen Parteien, mit SPÖ oder FPÖ, aber notfalls auch ohne die beiden.
So hätte er es am liebsten.