Siemens Ein deutscher Mythos wird zerlegt

Siemens-Chef Joe Kaeser spaltet seinen Konzern in kleine Einheiten auf, aus Angst vor angelsächsischen Investoren. Er selbst sieht sich als Retter - zu Recht?
Vorstandschef Kaeser in der Münchner Konzernzentrale

Vorstandschef Kaeser in der Münchner Konzernzentrale

Foto: Dirk Bruniecki/ Laif

Der gebürtige Niederbayer Joe Kaeser, 60, erklärt Gesprächspartnern seine Strategie gern mithilfe von Anglizismen. Bevor er 2006 zum Siemens-Finanzvorstand und sieben Jahre später zum Konzernchef aufstieg, hatte er längere Zeit in den USA gelebt - und von dort manche Managerweisheit mitgebracht.

"You have to hedge your bets", du musst deine Wetten absichern, antwortete er Besuchern im Herbst 2015 auf die Frage, warum er die Produktion von Gasturbinen für Großkraftwerke nicht auslaufen lasse; die seien doch im Zuge der Energiewende und des Trends zur dezentralen Versorgung kein lohnendes Geschäft mehr.

Ein Ausstieg komme nicht infrage, konterte Kaeser, die Riesenaggregate würden weiterhin gebraucht. Für den "unwahrscheinlichen Fall, dass es anders kommt", brauche man allerdings einen Plan B.

Zwei Jahre später hat Kaeser die Wette um die großen Hochleistungsgasturbinen verloren. Sie sind auf dem Weltmarkt immer weniger gefragt.

Und was fast noch schlimmer ist: Er hat sich nicht an die eigenen Vorgaben gehalten.

Denn er hat keinen Plan B.

Stattdessen will er nur im großen Stil Personal abbauen. Am 16. November verkündete der Konzern, dass er unter anderem als Folge der Energiewende in der Kraftwerkssparte in den nächsten Jahren fast 7000 Stellen einsparen wolle, darunter rund die Hälfte in Deutschland. Selbst betriebsbedingte Kündigungen seien nicht auszuschließen, räumte Personalchefin Janina Kugel ein. Dabei sind die im Konzern verpönt und an strenge Auflagen geknüpft.

Von rund einem halben Dutzend Standorten im Inland sollen bis zu drei geschlossen werden, darunter eine Fabrik in Görlitz. Die Ankündigung löste einen Sturm der Entrüstung aus. SPD-Chef Martin Schulz warf Kaeser "Manchesterkapitalismus" und "asoziales" Verhalten vor. IG-Metall-Vertreter im Aufsichtsrat drohen sogar mit Streiks. Immerhin einigten sich beide Seiten am vergangenen Donnerstag darauf, Gespräche über den Stellenabbau aufzunehmen.

Die Situation scheint auf den ersten Blick paradox. Noch vor wenigen Wochen galt Kaeser als unangefochten. Der langjährige Siemens-Mann hatte bei Deutschlands größtem und wichtigstem Industrie- und Technologiekonzern (372.000 Mitarbeiter, 83 Milliarden Euro Umsatz) nach Jahren der Lähmung unter Vorgänger Peter Löscher endlich wieder Aufbruchstimmung erzeugt. Im August erst wurde sein Vorstandsvertrag um vier Jahre verlängert.

Alles schien auf gutem Wege. Siemens hatte im vergangenen Geschäftsjahr ein Rekordergebnis erwirtschaftet. Umso größer ist der Schock über die jüngsten Ankündigungen: Die Mitarbeiter der Kraftwerkssparte versammelten sich zu Protestaktionen, veranstalteten Autokorsos, in Berlin bildeten Siemensianer eine Menschenkette als Schutzring um ihr Unternehmen.

Bisher empfanden sich die Siemens-Mitarbeiter als große Familie, der geplante Kahlschlag bei den Gasturbinen hat diese Illusion zerstört - nicht nur bei den direkt Betroffenen. Denn Kaeser hat, ganz ohne Anglizismen, angekündigt, den "schwerfälligen Tanker" Siemens zu einem "leistungsfähigen und flexiblen Flottenverband" umzurüsten. Und dazu gehört offenbar auch, Ballast abzuwerfen in Form von angeblich überflüssigem Personal.

Was Kaeser mit seinem maritimen Bild im Detail meint und was der Plan für den einzelnen Mitarbeiter bedeutet, hat er bislang noch nicht klargemacht. Das will er erst im Frühsommer tun, wenn er sein neues Strategiekonzept vorlegt.

Dennoch hat Kaeser im Vorgriff schon mit den Umbauarbeiten begonnen. Bereits im April wurde der Windkraftableger in die Nähe von Bilbao verlagert und mit dem spanischen Anbieter Gamesa zusammengelegt. Das Zuggeschäft will Kaeser in eine Gemeinschaftsfirma mit dem französischen Konkurrenten Alstom eingliedern und an die Börse bringen. Und im ersten Halbjahr 2018 soll die in Healthineers umbenannte Medizintechnik an den Kapitalmarkt gehen. Allerdings will Kaeser bis auf Weiteres die Mehrheit behalten. Auch mit der Wahl von Frankfurt am Main als Platzierungsort kommt er den Arbeitnehmern entgegen.

Konglomerate alten Stils seien nun mal überholt, rechtfertigt der Siemens-Chef sein Voranpreschen. Im Zuge der Digitalisierung änderten sich die Anforderungen an die Unternehmen so schnell, dass sie in kleinere Einheiten zerlegt werden müssten. Nur so könne die jeweilige Führung flexibel auf den Wandel reagieren.

Es ist das Glaubensbekenntnis internationaler Investoren, Analysten und Investmentbanker, das Kaeser da herunterbetet. Ihre Unterstützung hat der Siemens-Chef. "In Teilen wird Konzernen wie Siemens die Strategie somit durch den von angelsächsischen Investoren dominierten Kapitalmarkt und durch aggressive Wettbewerber aus China diktiert", sagt Christoph Niesel, Portfoliomanager bei der deutschen Fondsgesellschaft Union Investment. Das sei zwar schmerzhaft, aber alternativlos, wenn ein Unternehmen nicht vom Kurszettel verschwinden wolle, weil Wettbewerber profitabler seien und mehr Geld anlockten. "Deshalb ist es besser, wenn Kaeser handelt, solange es dem Konzern gut geht, noch hat er Zeit zu reagieren."

Ein hochrangiger Investmentbanker sieht Siemens ebenfalls auf dem richtigen Weg und argumentiert: "Konglomerate können auf die rasanten Veränderungen durch Digitalisierung und Globalisierung nicht schnell genug reagieren."

Mitarbeiterin der Medizintechniksparte: "Wo soll die Zerlegerei denn enden?"

Mitarbeiterin der Medizintechniksparte: "Wo soll die Zerlegerei denn enden?"

Foto: Siemens AG

Gemischtwarenläden wie noch vor 20 Jahren üblich sind im heutigen Finanzkapitalismus auch deshalb nicht mehr gern gesehen, weil Fondsgesellschaften oder Pensionsfonds ihre Anlagen meist strikt nach Branchen ausrichten. Konglomerate passen nicht in dieses Anlagemuster. Zugleich treten jedoch aktivistische Aktionäre wie Trian, Third Point oder Cevian Capital auf den Plan, die gezielt in Konglomerate investieren und sie dann unter Druck setzen, sich aufzuspalten, um so schnell den Kurs nach oben zu treiben.

Der IG-Metall-Funktionär Jürgen Kerner will sich dieser angeblich zwingenden Logik nicht beugen. Er fungiert als Finanzchef der IG Metall und sitzt nebenher seit vielen Jahren im Siemens-Aufsichtsrat.

"Spätestens wenn die Konjunktur lahmt, kommt die Renaissance der Konglomerate, weil sie mehr Sicherheit bieten", prophezeit er. Mit Konzernchef Kaeser geht er hart ins Gericht. "Wo soll die Zerlegerei denn enden, wo bleibt der industrielle Kern, und was ist der Kitt, der den Konzern am Ende noch zusammenhält?", fragt er stellvertretend für viele Mitarbeiter. Ein früherer Siemens-Vorstand fürchtet sogar, die neuen Ableger könnten ein Eigenleben entwickeln, kaum noch zu kontrollieren sein und das Ende von Siemens als Europas größtem Technologiekonzern heraufbeschwören.

Konkrete Antworten auf diese und andere Fragen blieb Kaeser bislang schuldig. Was ihn antreibt, ist wohl tatsächlich die Angst vor aggressiven Investoren oder einer feindlichen Übernahme. Aber das kann und mag er so deutlich nicht sagen. Vor zehn Jahren wäre es fast schon einmal so weit gewesen. Damals war es Kaeser, der Siemens vor einer möglichen Zerschlagung bewahrte.

Der Konzern wurde zu dieser Zeit von einer heftigen Schmiergeldaffäre erschüttert und dümpelte weitgehend führungslos dahin. Aggressive Investoren sollen die Situation genutzt haben, um eine am Markt gehandelte Wandelanleihe von Siemens aufzukaufen. Sie erlaubte dem Inhaber, die Papiere später in Aktien zu tauschen, und diente einem Angreifer offenbar als Einfallstor. Kaeser durchschaute das Spiel. Mithilfe der Deutschen Bank gelang es ihm, den Einstiegsversuch zu vereiteln, indem er die Anleihe vorzeitig zurückkaufte. Die traumatische Erfahrung prägt ihn noch heute. Deshalb versucht er, sich gegen unerwünschte Eindringlinge zu wappnen.

Siemens gilt ohnehin als besonders verwundbar. Das Unternehmen hat im Gegensatz zu VW oder BMW keinen stabilen Ankeraktionär. Größter Anteilseigner ist der US-Fondsgigant Blackrock mit knapp sechs Prozent, die Masse der Aktionäre besitzt weit unter einem Prozent. Es sind Investoren wie die Investmentbank J.P. Morgan oder der Pensionsfonds von Kalifornien, die ebenfalls jene Lehre vom Shareholder-Value inhaliert haben, die von Aktivisten oft aggressiv vertreten wird.

Zudem liegen die Einstiegshürden für eine Attacke heute niedriger als früher. Noch vor wenigen Jahren musste sich ein aktivistischer Hedgefonds mindestens zehn Prozent der Anteile an einem Unternehmen sichern, um Einfluss zu bekommen und zusammen mit Gleichgesinnten die Mehrheit bei der Hauptversammlung zu erringen. Heute reicht mitunter schon ein Prozent, um das Management unter Druck zu setzen, zum Verkauf von Firmenteilen zu drängen und Kasse zu machen. Die Masse der Investoren läuft aktivistischen Rädelsführern nach, wenn sie sich davon einen höheren Kurs verspricht. Exemplarisch ist das am Beispiel von zwei der größten Siemens-Rivalen, General Electric (GE) und ABB, zu studieren.

Bei GE hatte sich vor gut zwei Jahren der New Yorker Investor Nelson Peltz mit seinem Trian Fonds eingekauft. Er und seine Mitstreiter stellten ein 80-Seiten-Papier ins Internet, in dem sie darlegten, wie sich Gewinn und Börsenkurs durch Abspaltungen innerhalb kürzester Zeit nahezu verdoppeln ließen. Zwar trat das ursprünglich erhoffte Szenario nicht ein. GE verfehlte Kostenziele, der Kurs sackte dramatisch ab. Stattdessen musste im August der langjährige Chef Jeffrey Immelt gehen, Trian erhielt bald darauf einen Sitz im Verwaltungsrat, und der Konzern kündigte den Verkauf von Geschäftsbereichen im Wert von 20 Milliarden Dollar an.

Gegen eine solche Radikalkur wehrt sich der Schweizer Siemens-Konkurrent ABB noch. Dort ist seit einiger Zeit der schwedische Finanzinvestor Cevian Capital als Aktionär an Bord und im Aufsichtsrat vertreten. Er fordert beharrlich eine Aufspaltung des von dem Deutsch-Schweizer Ulrich Spiesshofer geführten Konzerns.

Kaeser will nicht wie Immelt oder Spiesshofer enden. Für ihn ist die Vorstellung, nach 37 Jahren im Konzern von aggressiven Investoren unter Druck gesetzt oder gar vom Hof gejagt zu werden, ein Albtraum. Deshalb will er ihnen möglichst wenig Angriffsflächen bieten. "Wer zu träge ist, wird angreifbar für Aktivisten", sagt Fondsmanager Niesel. Er hält es für richtig, dass sich beispielsweise die Gesundheitssparte über einen Börsengang selbst das nötige Geld beschafft, um den digitalen Wandel zu finanzieren. Die einzelnen Geschäftsbereiche müssten wie Profitcenter geführt werden, argumentiert er.

Aus diesem Grund scheut Kaeser auch vor dem geplanten drastischen Personalabbau in der Kraftwerkssparte nicht zurück. Würde der Bereich in die Verlustzone rutschen und der Börsenkurs sinken, käme das einer Einladung an Firmenspekulanten gleich, sich günstig bei Siemens einzukaufen. "Wenn unsere Performance nicht stimmt, werden sie irgendwann kommen, da bin ich mir ganz sicher", warnte Kaeser schon vor zwei Jahren.

Unternehmensteile, die potenzielle Angreifer verwerten könnten, bringt er in vorauseilendem Gehorsam lieber gleich von sich aus an die Börse. Man wolle die Veränderungen "selbst gestalten und nicht durch Dritte bedrängt werden", erläuterte er vor Kurzem seine Strategie.

Der Siemens-Chef ist nicht der einzige Manager, der sein Unternehmen zerlegt, damit er selbst und die Firma überleben. ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger bringt auf Druck seines Investors Cevian das Stahlgeschäft in ein Joint Venture mit der indischen Tata-Gruppe ein. Der Handelskonzern Metro vollzog kürzlich seine Realteilung in einen Lebensmittelanbieter und die neue Konsumelektronikkette Ceconomy. Der Pharmakonzern Bayer brachte sein Kunststoffgeschäft unter dem Kunstnamen Covestro an die Börse und finanziert mit den Erlösen den Einstieg beim US-Saatguthersteller Monsanto.

In der Regel steigt nach derartigen Transaktionen der Börsenkurs beider Unternehmen. Die Summe der Einzelteile, so das Kalkül der Kapitalmärkte, ist bei Mischkonzernen wertvoller als das ursprüngliche Konstrukt.

Das Nachsehen haben nicht selten die Mitarbeiter, ihnen wird ihre oft über viele Jahre gewachsene Verbundenheit mit dem Arbeitgeber geraubt und zuweilen auch ein Stück der eigenen Identität. In manchen Fällen, wie etwa beim deutsch-spanischen Windkrafthersteller Siemens Gamesa, fallen als Nebenwirkung des Neuzuschnitts von Firmen sogar im großen Stil Jobs weg.

Kaeser weiß das. Er nimmt Kollateralschäden und die Verunsicherung seiner Belegschaft in Kauf, weil er glaubt, anders habe das 170 Jahre alte Unternehmen angesichts des globalen Wandels und der Digitalisierung keine Zukunft.

Im Kreise der Aktionäre wird schon darüber spekuliert, dass die Abspaltungen und Partnerschaften, die Kaeser eingeht, nur der erste Schritt vor noch drastischeren Maßnahmen sind. "Eines Tages könnte die Medizintechniksparte komplett eigenständig sein, das Kraftwerksgeschäft mit einem Partner betrieben werden und Siemens ein reiner Technologiekonzern sein", mutmaßt Finanzexperte Niesel.

Andere Anteilseigner wie der amerikanische Investor Blackrock unterstützen Kaesers Taktik ebenfalls, mahnen aber, er solle kurzfristigen Forderungen von Aktivisten nicht vorauseilend nachgeben und die Belegschaft bei notwendigen Veränderungen einbinden. Für Kaeser sollte das eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Schließlich hat er es vor nicht allzu langer Zeit selbst gefordert.

Vor gut vier Jahren, im Sommer 2013, war der Siemens-Konzern schon einmal in einer ähnlichen Situation wie heute. Kaesers Vorgänger Peter Löscher hatte seit geraumer Zeit großspurig angekündigt, das Unternehmen solle seinen Umsatz von rund 76 auf 100 Milliarden Euro steigern. Mit welchen Produkten und in welchen Märkten ließ er weitgehend offen. Die Belegschaft war rat- und orientierungslos.

Kaeser, damals noch Finanzchef, übte im kleinen Kreis heftige Kritik an seinem Vorstandskollegen. Löscher, echauffierte er sich, nehme die Mitarbeiter bei seinen Plänen nicht mit und erkläre ihnen nicht, was genau er vorhabe und wie er das Ziel erreichen wolle.

"Siemens braucht ein Gesicht, es muss für etwas stehen", forderte Kaeser damals. Er selbst ist von diesem Anspruch heute weit entfernt.

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