Außenminister Gabriel zur Zukunft der SPD Sehnsucht nach Heimat

Rechte Demonstranten im September in Finsterwalde
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Außenminister Gabriel
Foto: Michael Kappeler/ dpaDie deutsche Sozialdemokratie ringt mit der Frage, ob sie sich den Eintritt in eine erneute Große Koalition mit CDU und CSU zutrauen oder sich dem verweigern soll. Zugegeben keine einfach zu beantwortende Frage angesichts des zweimaligen Verlustes von Bundestagswahlen nach derartigen Koalitionen 2009 und 2017. Und es gibt auf beiden Seiten - Befürworter und Gegner einer nochmaligen Regierungsbeteiligung unter der Führung von Angela Merkel - gewichtige Argumente. Aber diese schwierige Frage darf nicht den Blick darauf verstellen, dass die Probleme tiefer liegen. Denn angesichts vieler sozialdemokratischer Wahlniederlagen in unseren europäischen Nachbarländern - egal ob in der Regierung oder der Opposition - reicht der Verweis auf einzelne Regierungskonstellationen als Ursachenerklärung nicht aus.
In Wahrheit geht es um viel grundlegendere Fragen, die etwas mit dem fundamentalen Wandel im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung zu tun haben. Die Idee der Sozialdemokratie fußt seit mehr als 150 Jahren auf gemeinsamer Interessenvertretung, auf kollektivem Handeln und einer auf Solidarität ausgerichteten Gesellschaft. Wenig davon ist übrig. Individualisierte Lebensvorstellungen sind weit prägender als früher. Und der Nationalstaat kann seine Wohlfahrtsversprechen nicht mehr einlösen. Zugespitzt: Fast alle Bedingungen für den sozialdemokratischen Erfolg in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sind verschwunden. Wenn wir auf diese Fragen und Herausforderungen keine überzeugenden Antworten finden, dann allerdings wird sich der Abstieg der Sozialdemokratie auch in Deutschland fortsetzen - innerhalb einer erneuten Regierung mit der CDU/CSU, aber auch außerhalb in der Opposition.
Der Aufstieg des rechten wie des linken Populismus wird oft als Reaktion auf die Errungenschaften der Moderne begriffen, gewissermaßen als antimoderne Auflehnung gegen den Status quo. Ich wage eine Gegenthese, die auf den ersten Blick kurios wirken mag: Der Rechtspopulismus ist keine Gegenbewegung zu dieser Moderne, sondern im Gegenteil Ausdruck einer Sehnsucht nach genau dieser Moderne.
Er ist weitaus eher eine Gegenbewegung gegen die Ende des vergangenen Jahrhunderts entstandene Postmoderne.
Der moderne National- und Wohlfahrtsstaat geriet bereits Ende des vorigen Jahrhunderts unter Druck. Gleichzeitig verloren die Familie und die bis dahin gesellschaftlich dominante Ordnung der Geschlechterverhältnisse durch Individualisierung und Emanzipation an Kraft und Relevanz. An meiner eigenen Familiengeschichte habe ich erfahren, wie befreiend das wirkte. Aber auch diese Freiheit war eine doppelte: Es verschwanden nicht nur die Autoritären, sondern auch die Autoritäten. Von Lehrern bis zu Polizisten, von Unternehmern bis zu Gewerkschaftsvorsitzenden, vom Sport über Medien bis zur Kirche. Der Schlachtruf der Postmoderne "Anything goes" egalisierte nicht nur, sondern er entzog auch Sicherheit und Orientierung. Die Ablösung dieser nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Moderne durch die Postmoderne geschah auf breiter Front und mit einer Dynamik, die ihren französischen Vordenkern niemals in den Sinn gekommen wäre. Sie vollzog sich im Gleichtakt mit einer radikalen Liberalisierung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse, die die letzten 30 Jahre charakterisiert hat. Der Keynesianismus verlor gegenüber dem Neoliberalismus an Boden. So löste der "Shareholder Value" in Deutschland den "rheinischen Kapitalismus" ab. Verbindlichkeit und Verbindendes galten auf einmal als Hindernis für die Entfaltung der für den Wettbewerb in der Globalisierung notwendigen Flexibilität und Mobilität.
Die eigentliche Moderne dagegen hatte sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem durch klare soziale Spielregeln zum Beispiel in Deutschland durch die Soziale Marktwirtschaft ausgezeichnet. Das sozialdemokratische Aufstiegsversprechen war eines der wichtigsten Kennzeichen dieser Moderne überall auf der Welt. Vor allem hier in Europa. Und in der Tat ist es ja möglich gewesen, nationale Bedingungen zu schaffen, die den Kapitalismus zähmten und ihm eine Gemeinwohlorientierung aufzwangen. Und in genau diese Zeit wünschen sich zunehmend mehr Menschen zurück. Kurioserweise also in eine Zeit, die vor allem durch die Sozialdemokratie und ihre nationalen Erfolge geprägt war. Wären da nicht die rassistischen und antieuropäischen Ausfälle rechter Populisten, könnte man ironisch zugespitzt sagen: Die Anti-Postmoderne sehnt sich nach der guten alten sozialdemokratischen Zeit zurück.
Es ist aber immer weniger möglich, mit nationaler Gesetzgebung den globalen Kapitalismus zu zähmen. Er erpresst die Nationalstaaten mit seiner Flexibilität. Er sucht sich immer neue preiswerte Standorte mit niedrigen Löhnen, niedrigen Steuern und schwacher Sozial- und Umweltgesetzgebung. Und notfalls weicht er in Steuerparadiese aus, die in Wahrheit Gerechtigkeitswüsten sind. So gesehen ist der Aufstieg des Rechtspopulismus eine Revolte gegen einen Liberalismus, der als übersteigert und gefährlich für die Gemeinschaft wahrgenommen wird. Deshalb ist er auch für die Anhänger der Progressiven und Sozialdemokraten so verführerisch.
Der Zerfall von Familien, Vereinen und anderen Gemeinschaften durch die Atomisierung von Arbeits- und Lebenswelten wird eben in einem nicht geringen Teil unserer Gesellschaft als traumatischer Abschied von der Moderne begriffen, nicht als ihre Vollendung, wie es manche Vordenker von Grünen und Liberalen sehen. Die offenen Grenzen von 2015 stehen in Deutschland für nicht wenige Menschen deshalb als Sinnbild für die Extremform von Multikulti, Diversität und den Verlust jeglicher Ordnung. Unter ihnen viele vormals sozialdemokratische Wählerinnen und Wähler. Diversität, Inklusion, Gleichstellung, Political Correctness - all das sind deshalb jetzt auch die Zielscheiben der Neuen Rechten. Sie sind im Kern kein Produkt der Moderne, sondern einer Postmoderne, die zur radikalen Dekonstruktion der Moderne angetreten war, dabei erstaunliche Erfolge feierte und jetzt Opfer ihres eigenen Erfolgs wird. Auch die Moderne versprach den Menschen Individualität, Vielfalt, Freiheit und Wohlstand - aber eben geregelt und in Maßen. Das Übermaß, die Radikalität der Postmoderne ist es, die das Unbehagen nährt.
In der Vergangenheit haben alle sozialdemokratischen Parteien Europas bei ihren Antworten auf diesen globalen Postmodernismus ähnliche Fehler begangen. Auch wir in Deutschland. Wir haben uns eher in unseren nationalen Wirtschaftsdebatten an den Wettbewerbsdruck dieser postmodernen Globalisierung angepasst. Wettbewerbsfähigkeit war uns wichtiger als Löhne und Renten, mit denen man nicht nur leben, sondern gut leben kann, auch wenn die SPD in der letzten Legislaturperiode vieles ins Werk gesetzt hat, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Hinzu kommt: Auch wir haben uns kulturell als Sozialdemokraten und Progressive oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten. Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit, und die Ehe für alle haben wir in Deutschland fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht und nicht genauso emphatisch die auch von uns durchgesetzten Mindestlöhne, Rentenerhöhungen oder die Sicherung Tausender fair bezahlter Arbeitsplätze bei einer der großen Einzelhandelsketten. Ein Blick auf die Entwicklung der Demokraten in den USA zeigt, wie gefährlich diese Konzentration auf die Themen der Postmoderne sein kann. Wer die Arbeiter des Rust Belt verliert, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht mehr helfen.
Ich weiß, das ist alles sehr holzschnittartig und provokativ. Und ich weiß vor allem, wie wichtig Umwelt- und Klimaschutz, Datenschutz und vor allem gleiche Rechte für jedwede Art von Lebensentwürfen sind. Und trotzdem müssen wir uns in den sozialdemokratischen und progressiven Bewegungen fragen, ob wir kulturell noch nah genug an den Teilen unserer Gesellschaft dran sind, die mit diesem Schlachtruf der Postmoderne "Anything goes" nicht einverstanden sind. Die sich unwohl, oft nicht mehr heimisch und manchmal auch gefährdet sehen.
Eines ist jedenfalls klar: Die Mehrheit von uns hat auch ihren gesellschaftlichen Aufstieg gemacht und lebt meist nicht mehr in den Stadtteilen, in denen dieser Teil unserer Wählerschaft wohnt. Wir werden eher mit anderen Themen konfrontiert - bürgerlicher, kultivierter und eben postmodern einfacher. Um es sehr bösartig zu sagen: Bei uns gibt es oftmals zu viel Grünes und Liberales und zu wenig Rotes.
Wenn ich mir mehr "rot" wünsche, dann meine ich damit nicht in erster Linie die manchmal schon folkloristisch anmutende Debatte darum, ob die SPD "linker" werden solle. Das erschöpft sich schnell in klassischen instrumentellen Fragen nach Umverteilung, die zwar durchaus ihre Berechtigung haben. Im Kern geht es aber um eine kulturelle Haltung und um Fragen nach Identität. In der unübersichtlich gewordenen Welt ist es genau diese Sehnsucht nach Identität, die auch einen großen Teil unserer Wählerinnen und Wähler umtreibt. Mit wem und vor allem mit was können sie sich identifizieren? Ist der Wunsch nach sicherem Grund unter den Füßen, der sich hinter dem Begriff "Heimat" hier in Deutschland verbindet, etwas, was wir verstehen, oder sehen wir darin ein rückwärtsgewandtes und sogar reaktionäres Bild, dem wir nichts mehr abgewinnen können? Ist die Sehnsucht nach einer "Leitkultur" angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propagandainstrument, oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?
Es ist kein Zufall, dass sich die Vordenker der Rechtsextremen in Europa häufig als "Identitäre Bewegung" bezeichnen. Denn es geht um Identität und Identifizierung.

SPD-Chef Schulz, Außenminister Gabriel im Bundestag
Foto: Michael Kappeler/ dpaWir Sozialdemokraten werden derzeit jedenfalls eher mit einem unidentifizierbaren Postmodernismus gleichgesetzt. Auch weil es uns bislang nicht gelungen ist, die Errungenschaften der Moderne - soziale Sicherheit, Teilhabe, Solidarität - auch in Zeiten der Globalisierung nachhaltig und im Alltag erlebbar durchzusetzen. Immer noch führen alle Sozialdemokraten in Europa im Wesentlichen nationale Wahlkämpfe, immer noch sind uns nationale Termine wichtiger als internationale Treffen, und immer noch lassen wir uns von der Macht des Finanzkapitalismus bei unserer Steuergesetzgebung zu sehr erpressen.
Ich bin der Überzeugung, dass die Krise der deutschen Sozialdemokratie weniger etwas mit einem Regierungsbündnis mit den Konservativen in Deutschland zu tun hat als mit diesen völlig veränderten Rahmenbedingungen für sozialdemokratische Politik. Erst wenn wir uns wirklich zu diesen Veränderungen bekennen und daraus auch Konsequenzen ziehen, werden sich unsere Wahlergebnisse verbessern. So gesehen ist es für die Frage des Überlebens der Sozialdemokratie in diesem Land relativ egal, ob wir in die Regierung gehen oder nicht. Für beides gibt es gute Argumente, und vor beidem muss die SPD keine Angst haben.
Im Kern müssen wir aber - egal ob in oder außerhalb einer Bundesregierung - eine ganz andere Aufstellung vornehmen. Und diese andere Aufstellung bedeutet vor allem: die Europäisierung und Internationalisierung unserer politischen Konzepte. Zusammen mit unseren ganz traditionellen Werten von Freiheit, Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit kann das die erkennbare Differenz zu allen anderen politischen Wettbewerbern ausmachen. Der SPD-Parteivorsitzende Martin Schulz hat deshalb recht: Mehr internationale Zusammenarbeit, mehr europäische Zusammenarbeit, denn nur so werden wir das zentrale Versprechen der Sozialdemokratie wieder einlösen, nämlich den Kapitalismus zu zähmen und soziale und auf Solidarität ausgerichtete Marktwirtschaften zu erzeugen. Das ist uns im vergangenen Jahrhundert national gelungen, jetzt muss es uns in Europa und wenn möglich darüber hinaus gelingen. Dass dieser Weg anstrengend ist, wissen Sozialdemokraten besser als jede andere Partei in Deutschland. Aber wir wissen auch: Ein besseres Land in einem besseren Europa kommt eben nicht von allein.