
Flüchtling Jens in der Mongolei
Foto: privatDie Geschichte der "Verbotenen Reise" wäre beinahe nicht erzählt worden. Es gab kein neues Buch, keinen Film darüber, auch keine kleine Meldung in der Zeitung, nicht eine Zeile im Internet. Es war einer dieser journalistischen Glücksfälle, als ich am Rande eines Gesprächs - zuerst noch ganz vage - davon hörte. Von einem Mann, der lange vor dem Fall der Mauer im Prenzlauer Berg gelebt hatte und von dort nach West-Berlin geflüchtet sei, aber nicht auf direktem Weg nach Westen, wie die meisten anderen, sondern einmal fast um die halbe Erde, andersherum, Richtung Osten über Polen, Russland, die Mongolei und China bis zur deutschen Botschaft in Peking. Allerdings habe er bisher nicht einmal seiner Frau oder seinen Kindern die ganze Geschichte erzählt.
Mich interessierte das sofort, und ich wollte diesen Mann sprechen. Denn über junge Leute, die in den achtziger Jahren im damals ziemlich verfallenen Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg lebten und eine andere DDR wollten, hatte ich als Journalist damals immer wieder berichtet - auch schon im SPIEGEL, wie hier in dieser dreiteiligen Serie von 1983 .
Der Mann hieß Jens, das stellte sich bald heraus, er hatte in den achtziger Jahren in der Rykestrasse gewohnt, direkt am Wasserturm, dem Wahrzeichen des Prenzlauer-Berg-Kiezes. Gleich nebenan, im Nachbarhaus, hatte ich damals einige meiner Ost-Berliner Freunde manchmal fast täglich besucht.
Von hier aus eine Flucht über 9000 Kilometer?
Als wir uns zum ersten Gespräch in seinem Spreewaldhaus eine Stunde Zugfahrt entfernt von Berlin trafen, war der lange Abend auch für mich eine Rückreise in diese Zeit der letzten Jahre der DDR. Jens machte etwas, was er noch nie gemacht hatte: Er erzählte mehr als fünf Stunden am Stück. Seine Kinder hörten gebannt zu.
Schnell war klar, dass er die verbotene Reise mit seiner damaligen Freundin gemacht hatte, einer Kunststudentin, die er nach dem Mauerfall aus den Augen verloren hatte. Er wusste nicht mehr, wo sie lebte.
Etwas Suche nach ihr, und ich hatte sie am Telefon.
Sie war sofort bereit, mir die Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen, ohne danach zu fragen, was Jens denn schon erzählt hatte. Er hatte von den Gefahren und Abenteuern unterwegs berichtet, sie löste das Rätsel, warum sie fast 9000 Kilometer bis nach Peking mitgekommen war, um dann wieder umzudrehen und zurück in die DDR zu fahren.
Wir saßen an zwei, drei Tagen zusammen. Es machte Marion Spass, sich an alles zu erinnern. Während des Gesprächs ging sie immer wieder mal auf den Dachboden, um nach Fotos, ihren alten Zeichnungen, einem verschollenem Tagebuch zu suchen.Die Erinnerungen brachte bei beiden etwas in Bewegung. Mal besuchte ich Jens, mal Marion, jeder erzählte mir immer wieder Neues. Erst am Ende der Recherche kam es zu einem Zusammentreffen der beiden nach rund zwanzig Jahren.
Jens fand in seinem Schuppen und Kellern einen sorgsam gehüteten Schatz: weit über tausend unveröffentlichte Farbdias im Mittelformat 6x6, die meisten davon in der Mongolei und China aufgenommen, während der letzten Etappe der Flucht im Jahre 1987. Landschaften, Städte, Märkte, Menschen - kaum ein anderer Europäer dürfte vor 25 Jahren im kommunistischen China derart viele Fotos so professionell gemacht haben. Ohne Probleme ließe sich damit eine beeindruckende Ausstellung über ihre Flucht, nein, über die Freiheit machen, die sich die beiden schon während ihrer verbotenen Reise einfach nahmen.
Bei einem weiteren Treffen im Spreewald improvisierte Jens mit einem alten Projektor in der Wohnküche der Familie eine Diaschau. Seine älteste Tochter konnte sich bis spät in die Nacht kaum sattsehen. Ich fand in den Tüten, Schachteln und Kästen allerdings kaum Bilder von Jens gemeinsam mit Marion. Sie hatten sich als Personen unterwegs offenbar einfach nicht dokumentieren wollen.
Beide gaben mir ihr Einverständnis, nach Akten über sie bei der Stasi-Unterlagenbehörde zu forschen. Immerhin hatten Jens und Marion ihre Stasi-Akten noch nicht einmal selbst beantragt und eingesehen. Die Unterlagen enthielten eine Überraschung: Offenbar hatte die Stasi vorher nichts von der hauptsächlich von Jens geplanten Flucht mitbekommen. Erst nachdem er im Dezember 1987 in West-Berlin angekommen und seinen Eltern eine Postkarte geschrieben hatte, begannen hektische Aktivitäten. Seine - von ihm allerdings nahezu leergeräumte - Wohnung in der Rykestrasse wurde ergebnislos durchsucht. Marion, die vorher ebenfalls nicht im Visier des MfS war, wurde mehrfach über den Verbleib von Jens befragt. Ihre vagen Auskünfte halfen den Herren der Staatssicherheit allerdings nicht wirklich weiter.
Die DDR-Staatssicherheit ermittelte wegen des Verdachts auf Republikflucht gegen Jens. Dass Marion wieder nach Ost-Berlin zurückgekommen war, wo sie doch mit in Peking gewesen war, das bekamen sie nicht so recht zusammen.
Das MfS nahm sogar Kontakt zur Staatssicherheit der Mongolei auf und bekam nach Monaten heraus, wann die beiden in Ulan Bator waren und welchen Zug Marion wann auf dem Rückweg genommen hatte. Mit diesem Faktenwissen wollten sie die Kunststudentin schockieren, doch die reagierte cool. Aktenvermerk im März 1988: "Sie war bestrebt, nur auf Fragen allgemein zu antworten und nichts von sich aus über Jens K. und sich selbst zu erzählen."
Das war schon zu einer Zeit, als immer mehr DDR-Bürger ihrem Land den Rücken kehrten. Eine ganze Stasi-Abteilung konzentrierte sich auf die Frage, wie die beiden es schaffen konnten, an allen Grenzen unbemerkt durchzukommen. Der DDR-Geheimdienst wollte unbedingt die Lücke kennenlernen, die aus ihrer Sicht noch geschlossen werden musste, um Nachahmer zu verhindern. Sie übersahen dabei, wie einzigartig diese Flucht war.
Ohnehin hatten immer mehr DDR-Bürger begonnen, Zuflucht in wesentlich nahegelegeneren Botschaften westlicher Staaten in Ost-Berlin, Prag oder Warschau zu suchen, um in den Westen zu kommen. Das MfS resignierte angesichts der abenteuerlichen Flucht des jungen Freundespaares. Die Akten von Jens und Marion wurden ergebnislos im Herbst 1988 geschlossen.