"Kohl hat uns immer interessiert, auch sein Privatleben"

Von Stefan Niggemeier
Maike Kohl-Richter und Helmut Kohl im April 2010

Maike Kohl-Richter und Helmut Kohl im April 2010

Foto: Ronald Wittek/ picture alliance / dpa

SPIEGELblog: Herr Fleischhauer, im aktuellen SPIEGEL schreiben Dirk Kurbjuweit und Sie: "Mit dem Namen Kohl lässt sich immer noch viel anfangen. Man kann mit ihm Geld verdienen." Der SPIEGEL zeigt, wie es geht, und macht deshalb eine Titelgeschichte aus dem persönlichen Drama des Altkanzlers.

Jan Fleischhauer: Die Reaktionen auf dieses Stück zeigen mir: Diese Geschichte beschäftigt wahnsinnig viele Menschen.

Was die "Bunte" schreibt, interessiert auch viele Menschen, steht aber in der Regel nicht im SPIEGEL.

Es mag auch Kollegen geben, die sich nicht für das Privatleben anderer Menschen interessieren. Ich interessiere mich dafür, die meisten in meiner Umgebung auch. Sie interessieren sich besonders für das Privatleben bekannter Menschen, also zum Beispiel das von Helmut Kohl. Wichtig ist die Art und Weise der Darstellung, und ich denke, da sehen Sie klare Unterschiede zwischen der "Bunten" und uns.

Sie haben sich aber auch sehr bemüht, viele Verteidigungssätze in den Text zu schreiben, um die Recherche im Privatleben zu rechtfertigen: Weil dieser Mann so groß und wichtig sei, sei alles Private auch Politisch.

Wäre ich Achtundsechziger, könnte ich mir das sparen, da ist ja bekanntlich alles Private automatisch politisch. Nun liegt das ein bisschen in der Vergangenheit, da muss man erklären, warum man so einen Text macht. Die Frage stellen sich auch viele Leser. Wenn Sie so wollen, dienen solche Textstellen auch ein bisschen der Selbstberuhigung.

Damit der Leser sich seinen Voyerurismus auch vor sich selbst rechtfertigen kann.

Wir müssen uns doch selbst ganz ernsthaft die Frage stellen, ob uns das Thema beschäftigen soll, vor allem in diesem Ausmaß und als Titelgeschichte. Außerdem gibt es Details, die man im Zuge einer solchen Recherche erfährt, die zu privat sind, um sie aufzuschreiben. Da gilt es abzuwägen. Ich denke, wir haben die Grenze gehalten. Außerdem macht es schon einen Unterschied, ob Sie als Journalist von außen in eine Familie reinleuchten, oder ob dieser Kampf bereits auf der öffentlichen Bühne stattfindet. Einige der Beteiligten haben sich mit Bestsellern zum Thema hervorgetan. Die "Süddeutsche Zeitung" hat im Juli eine ganze Seite 3 dazu gemacht - da können Sie auch sagen, das sei "Bunte"-Journalismus gewesen.

Das war auch "Bunte"-Journalismus.

Sie müssen's ja nicht lesen.

Es gibt zweifellos eine Ebene dieses Familienstreits, die politisch relevant ist. Ich habe aber schon das Gefühl, dass Sie diesen Teil nutzen, um andere Geschichten zu erzählen, die bloß Human Interest sind. Wenn Sie etwa erzählen, wie Kohl, dem das Sprechen schwer fällt, bloß "Zucker" sagt, wenn ihm der Kaffee nicht süß genug ist.

Die Frage, ob und wieviel Kohl sprechen kann, ist durchaus relevant. Das Unvermögen, sich in die Debatte einzuschalten, erklärt auch viel von seiner Verzweiflung. Zu allem Überfluss ist da noch dieser andere Altkanzler, Helmut Schmidt, der sich ständig in Pose wirft als der Bewahrer des Euro, was natürlich aus Kohls Sicht eine Usurpation der ihm zustehenden Rolle ist. Jetzt kann ich es als Journalist bei dem nackten Faktum belassen, dass Kohl das Sprechen schwerfällt. Oder ich kann es anreichern mit Details und plastisch machen, indem ich zum Beispiel erzähle, dass er sich mit Ein-Wort-Sätzen wie "Zucker" und "Kuchen" behilft.

Sie schreiben, dass es für den SPIEGEL schwer ist, in diesem Milieu zu recherchieren.

Ja, das ist geradezu kurios, dass dieser Bann, mit dem SPIEGEL redet man nicht, über dreißig Jahre gilt, für alle Kohlianer. Sogar die eigenen Söhne halten sich dran. Die haben zwar mit dem Vater gebrochen, sie halten ihn für ein Monster, aber das Schweigegebot uns gegenüber gilt ungebrochen.

Sie schreiben ganz stolz in den Text, "dass Kohl den SPIEGEL zwar nicht persönlich las, sich aber schon am Sonntagnachmittag von einem seiner Leute im Kanzleramt ausführlich aus dem Heft vorlesen ließ". Das Sie das freut, ist ja verständlich. Aber ist das nicht sehr klein, sich damit zu brüsten?

Es gibt eine schöne Szene, die mir verbürgt wurde. Elisabeth Noelle-Neumann, die Meinungsforscherin, ist bei Kohl zuhause. Die beiden gehen ans Gartentor, zum Briefkasten. Im Briefkasten liegt der Umschlag mit dem SPIEGEL, der in der Sonderzustellung schon am Sonntag an alle wichtigen Menschen der Republik ging. Auch Kohl wurde bemustert, ob er wollte oder nicht. Kohl macht den Briefkasten auf, nimmt den Umschlag und sagt zu Noelle-Neumann: "Jeden Sonntag hab ich DAS im Briefkasten." Er öffnet den daneben stehenden Mülleimer. "Und jeden Sonntag mach ich DAS damit." Und schmeißt das Ding weg. Lustig. Die wirkliche Pointe ist nur, dass sein Vertrauter Eduard Ackermann jeden Sonntag anruft und ihm alles vorliest. Es sagt viel über Kohl aus. Insofern sind das für mich sprechende Details.

Im Artikel heißt es: "So blühen die Gerüchte und Verdächtigungen. Auch wenn vieles vage ist, sich aus Dritte-Hand-Wissen speist, fügen sich die Teile doch zu einem klaren Bild." Das müssen Sie erklären.

Es gibt diese Produktion von Gerüchten, die, je weiter Sie reinhören, immer monströser wird. Von Leuten, die von Maike Kohl-Richter aus dem Leben Kohls herausgedrängt wurden. Die haben ständig Fantasien darüber, wie es im Bungalow wohl tatsächlich zugeht. Das endete in dem öffentlichen Aufruf: "Wir müssen Kohl befreien!" Er sei in Geiselhaft genommen worden von seiner Frau. Der arme Kerl säße sozusagen mit dem Gesicht zur Wand gedreht, mit Mörtel auf den Schultern, weil zusätzlich auch noch ständig irgendwo umgebaut werde. Das ist die Gerüchteebene. Die Herausforderung war, mit Leuten zu reden, die tatsächlich kürzlich im Haus waren. Es stellt sich heraus: So ist es nicht. Maike Kohl-Richter ist nicht die Frau, die wie eine Spinne diesen Mann eingewoben hat, weil sie ihn ganz für sich haben will. Es gibt aus ihrer Sicht gute Gründe, das Pflegepersonal einzuschränken. Weil sie feststellen musste, dass es einen richtigen Markt gibt für Kohl-Informationen und sogar Details aus seiner Krankenakte angeboten werden.

Es bleibt die Frage: Geht das die Öffentlichkeit überhaupt etwas an?

Wer bestimmt das? Manche Leser beklagen sich: Das hätte es früher nicht gegeben, und der arme Augstein würde sich im Grabe umdrehen, wenn der wüsste, wie tief sein SPIEGEL gesunken ist. Aber Kohl hat uns immer interessiert, auch sein Privatleben. Als Hannelore Kohl sich umgebracht hat, war das nicht nur dem "Stern" eine Titelgeschichte wert, sondern dem SPIEGEL auch, aus der Feder des glänzenden Reporters Jürgen Leinemann. Alle Leser und Medienjournalisten, vor allem die etwas jüngeren, lade ich ein, einen Blick ins Archiv zu tun und sich Titel aus der Goldenen Zeit anzuschauen, als wir uns vermeintlich nur um harte Politik gekümmert haben. Sie werden erstaunt feststellen, dass wir alle mögliche Sternchen und Stars auf dem Titel hatten, Hildegard Knef, Prinzessin Sisi. Das hat den SPIEGEL immer interessiert. Wir sind auch ein Massenblatt.

Man kann aber schon den Eindruck einer besonderen Obsession kriegen. Aus dem privaten Drama Kohls so viele Geschichten zu machen, davon innerhalb eines guten Jahres gleich zwei Titel...

Den Vorwurf muss ich mir gefallen lassen, dass ich eine Privatobsession mit dem Privatleben von Helmut Kohl habe und den SPIEGEL jetzt auf perfide Weise als Vehikel benutze, diese auszuleben.

Ernsthaft: Ist das ein Thema, das Sie besonders umtreibt?

Mich interessiert alles über Helmut Kohl. Das ist wahr. Auch das Privatleben von Willy Brandt hat übrigens viele Menschen sehr interessiert. Hier liegt in Wahrheit auch der Grund für seinen Kanzlersturz: Es waren seine Frauengeschichten, die Brandt zu Fall brachten, nicht die Guillaume-Affäre. Wehner hatte zu ihm ungefähr gesagt: Da sind ganz schlimme Dossiers aufgetaucht, Deine Untreue, das kommt jetzt alles in die Öffentlichkeit, das willst du doch verhindern. Tritt lieber rechtzeitig zurück. Und diese Journalisten, die sich angeblich für das Privatleben von Politikern nicht interessieren, wie Sie, Herr Niggemeier, sind ja diejenigen, die im Privatgespräch jedes Gespräch über Bettina Wulff mit dem Satz angefangen haben: "Wusstest du übrigens, dass die anschaffen war, als Escort-Mädchen?" Finden Sie es nicht etwas heuchlerisch, wenn ich das, was ich als Journalist im Privatgespräch für die wesentliche Information halte, dem Publikum vorenthalte, weil ich es nicht reif genug finde, damit umzugehen?

Zurück zu Kohl. Warum musste das nochmal groß aufbereitet werden? Das Drama Kohl vom SPIEGEL-Titel im letzten Jahr ist doch noch das Drama Kohl vom SPIEGEL-Titel dieser Woche.

Es gibt natürlich gewisse Übereinstimungen der beiden Titelgeschichten. Es gibt sogar gewisse Sätze, die wörtlich wieder auftauchen. In einem Fall, wenn es um Heribert Schwan und die Söhne geht, lag es nahe, auf eine Formulierung zurückzugreifen, die schon einmal juristisch geprüft war, schließlich befinden wir uns hier in einer heiklen Gemengelage. Und was die Einlassung von Walter Kohl bei Markus Lanz angeht, wo er zum ersten Mal den Vorwurf erhob, hinter den Erklärungen seines Vaters stecke in Wirklichkeit die neue Frau - eine solche Beschreibung wiederholt sich natürlich. Gleichwohl glaube ich, dass der neue Titel eine andere Geschichte erzählt. Die Titelgeschichte im vergangen Jahr  handelte vom Kampf der Söhne gegen den Vater. Jetzt geht es um die Auseinandersetzung mit der neuen Frau und den Verrat des Ghostwriters: Das ist wie bei einem Shakespeare-Drama, und wir sind jetzt bei Heinrich dem VIII. angekommen.

Die Geschichte ist aber nicht nur aus dem SPIEGEL vom vergangenen Jahr abgekupfert, sondern auch der SZ-Geschichte "Mein Kanzler" vom Juli dieses Jahres.

Der SZ-Artikel war Anlass für unsere Recherche, das haben wir auch prominent erwähnt. Die SZ lieferte den Blick von Außen, den Unmut der Ausgeschlossenen, die nicht mehr in die Burg hineindürfen - was übrigens eine sehr gute Geschichte war, die ebenfalls viel Aufmerksamkeit fand. Wir machen den Schritt hinein, über die Erzählung der Zugelassenen, die am Hof noch geduldet sind.

Braucht es an dieser Stelle für die Geschichtsschreibung wirklich diese Vollständigkeit? In der SZ steht: Die Söhne Kohls stehen draußen und werden nicht reingelassen. Und der SPIEGEL klärt auf: Die haben an der Tür gerüttelt. Pffft.

Wenn Sie das alles nicht interessiert, dann lesen Sie es nicht. Aber wenn Sie sich einmal darauf einlassen, ist das natürlich ein ganz wichtiges Detail. In der SZ liest es sich so: Die Frau geht so weit, dass sie die Polizei ruft, um die Söhne ihres Mannes vom Grundstück zu entfernen. Ich aber habe das Glück, mit jemandem zu sprechen, der damals im Haus war. Danach haben die Söhne die Tür fast eingetreten und daraufhin ist das Sicherungskommando eingeschritten. Das ist doch ein Riesenunterschied.

Sie sagen die ganze Zeit: "Ist doch interessant." Natürlich ist das interessant. Aber das Kriterium für eine SPIEGEL-Geschichte ist doch nicht allein Interessanz, sondern auch Relevanz.

Wer bestimmt eigentlich - außer dem Chefredakteur - was relevant ist? Dass mir nun irgendwelche Medienjournalisten vorschreiben wollen, was ich für relevant zu halten habe, kann ich nicht ganz ernst nehmen.

Der Satz "An Kohl klebt Ewigkeit" in der Titelgeschichte ist von Ihnen, oder? Ausgerechnet der SPIEGEL errichtet dem Mann nun noch ein solches Denkmal?!

Der Satz stammt von Kurbjuweit, und wer ist hier überhaupt der SPIEGEL? Die Kollegen, die damals im Bonner Büro gearbeitet haben, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Kohl niederzuschreiben. Und daraus ist diese wunderbare Hassliebe entstanden. Strauß wurde vom SPIEGEL immerhin noch eine gewisse Intelligenz attestiert. Kohl war einfach nur der Gimpel, den ein Unfall der Geschichte ins Kanzleramt gespült hat. Kurbjuweit und ich entstammen einer anderen Generation. Wir kommen nicht aus diesem Graben, und wir fühlen uns auch nicht verpflichtet, diesen Kampf der Vätergeneration des SPIEGEL fortzuführen. Wir haben einen nüchterneren Blick auf den Altkanzler, und haben es gewagt zu sagen: Historisch so bedeutend wie Kohl ist neben Bismarck, Hitler und Adenauer kein anderer deutscher Politiker. Einige mögen das als Sakrileg empfinden, aber es ist die Wahrheit .

Wann kommt der nächste Kohl-SPIEGEL-Titel?

Ich will es nicht beschreien, ich wünsche dem Mann ein langes Leben, aber spätestens der Nachruf. Da müssen Sie jetzt alle ganz tapfer sein, liebe Blog-Leser, aber das ist unausweichlich: Zu seinem Tode kommt ein Nachruf, und das wird ein Titel.

Ist der schon geschrieben?

Die wesentlichen Teile stehen, anders geht es nicht.

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