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Fotoreportage Irak: Wie real darf es sein?

Foto: Christian Werner/ DER SPIEGEL

Die Kinder des Irak-Krieges: Wie schonungslos dürfen Fotos sein?

Von Matthias Krug

Es ist nicht leicht, die Fotoredakteure des SPIEGEL zu erschüttern. Täglich sehen wir Hunderte von Fotos aus allen Krisenregionen der Welt.

Aber die Fotoreportage, die Christian Werner über die Folgen des Krieges im Irak gemacht hat, hinterließ einen besonderen Eindruck. Nachdem er sie beim Lumix Foto-Festival im Juni in Hannover gezeigt hatte, hatten wir ihn eingeladen, sie im sogenannten "Umbruchraum" im SPIEGEL auf einem großen Bildschirm zu präsentieren. Ein Dutzend gestandene Fotoredakteure und Gestalter aus dem Layout waren tief berührt und beeindruckt von der Qualität und der Tiefe des Themas.

Bilder von toten Föten und Frühgeburten, Missbildungen an Babys und Kindern, Mutationen bei Familien und große Tumore an Schultern und Köpfen. Erschütternde Szenen in Krankenhäusern von Falludscha und Basra. Verzweifelte Eltern, die um das Leben ihrer jungen Nachkommen kämpfen.

Es dauerte ein halbes Jahr, bis die Geschichte im SPIEGEL erschien, auf dem iPad auch in einem herausragenden Multimedia Special. In diesem Zeitraum haben wir innerhalb der Redaktion viel darüber diskutiert, wie weit wir bei der Bebilderung gehen wollen. Was können wir dem Leser zumuten? Muss er Bilder von toten Babys sehen? Liegt das Heft nicht auch dekorativ auf den Kaffeetischen der Nation? Blättern nicht Kinder in den Heften?

Wirken die Bilder am Ende so abschreckend, dass die Geschichte und damit der Hintergrund nicht mehr gelesen wird? Dass die Bilder in Schwarz-Weiß erscheinen sollten, war der dringende Wunsch der Bildredaktion, des Ressorts und des Autoren Alexander Smoltczyk. Allen Beteiligten war klar, dass die Bilder in Farbe an Kraft verlieren würden.

Der Fotograf Christian Werner wäre schonungsloser, deutlicher mit den drastischen Fotos umgegangen. Der 25-Jährige hätte noch härtere Bilder aus seiner Reportage gezeigt. "Mir wurden im Irak schon nur die 'harmloseren' Fälle gezeigt", sagt er. "Die ganz üblen Geburtsfehler, wie Babys mit Rattenschwänzen, nur einem Auge in der Mitte oder zusammengewachsenen Gliedmaßen, Fleischbündel, die nur noch entfernt als Menschen erkennbar waren, wurden mir von den Ärzten vorenthalten. Die Menschen hier müssen mit der für sie ungewohnten Härte der Bilder konfrontiert werden. Kindersterblichkeit steht im Irak an der Tagesordnung. Hier kaum vorstellbar: Eltern weinen kaum noch, wenn ihr gerade geborenes Kind stirbt. Die mittelalterlichen Zustände müssen unserer westlichen Welt nahegebracht werden. Denn auch wir sind indirekt mit dafür verantwortlich."

In der aufwendig produzierten animierten iPad-Version haben wir dennoch die krassesten Bilder weggelassen. Mein Kollege Jens Radü, Leiter der Multimedia-Abteilung, und ich sind überzeugt, dass die Dramatik der Fotos und die Kraft der visuellen Umsetzung überzeugt.

Christian Werner erzählt, wie er zu der Geschichte kam:

"2010 wurde ich das erste Mal auf das mutmaßliche Problem der Uranmunition und dessen Auswirkungen im Irak aufmerksam. Auf diversen Blogs und Internetseiten der alternativen Medien wurde ein desaströses Bild von mutierten, kaum noch menschlich anmutenden Kindern gezeigt. In den etablierten Massenmedien jedoch habe ich kein Bericht, Artikel oder Kommentar darüber finden können.

In unregelmäßigen Abständen recherchierte ich dann zwei Jahre lang. Ich begann an der Hochschule Hannover mein Studium: Studiengang Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Anfang 2012 fasste ich den Entschluss, mir ein eigenes Bild von der Lage im Irak zu machen. Ich bat den irakischen AP-Fotografen Khalid Mohammed in Bagdad um Hilfe.

Glücklicherweise hatte Khalid einen guten Kontaktmann, Saad Abdul Quadir, ebenfalls ein ehemaliger AP-Journalist aus Bagdad. Es begann der Kampf mit der irakischen Botschaft um ein Journalistenvisum. Die Prozedur zog sich über mehrere Monate hin, es wurde zum allmorgendlichen Ritual, die Visastelle der irakischen Botschaft anzurufen, um den Prozess zu beschleunigen. Anfang April 2012 kam endlich der langersehnte Rückruf.

Die Reiseapotheke wurde gefüllt, das Kameraequipment überprüft und auf den neuesten Stand gebracht. Ich nahm all mein Erspartes zusammen, lieh mir Geld bei Verwandten und Bekannten.

Mit einem etwas mulmigem Gefühl im Bauch bestieg ich den Flieger, ohne gebuchten Rückflug oder reserviertes Hotel. Alles, was ich hatte war die Handynummer vom Kontaktmann, dem sogenannten Stringer.

Zuerst fuhren wir in Richtung Falludscha, gegen sechs Uhr wollten wir den Checkpoint erreichen, um tagsüber genug Zeit zum fotografieren zu haben. Wir verspäteten uns um zwei Stunden, so dass wir erst gehen acht Uhr den Checkpoint erreichten. Auf dem Rückweg nach Bagdad erfuhren wir, dass um Punkt sechs eine Autobombe an diesem Checkpoint gezündet worden war.

In Falludscha besuchten wir das Krankenhaus, ich machte Video-Interviews und Fotos. Hier bekam ich einen ersten Eindruck von den schlimmen Zuständen. Pro Tag werden in dem Krankenhaus rund drei Kinder mit angeborenen Abnormalitäten geboren, in den Interviews erfuhr ich von den Ärzten, dass dies erst nach dem Golfkrieg 2003 begann. Als Grund gaben sie "Uranium" an.

Später besuchten wir einige Familien. Viele Menschen in Falludscha leiden extrem an den Auswirkungen des Krieges. Ihre Häuser - eher Hütten - haben sie auf ehemaligen Kasernen von Saddams Armee gebaut. Sie leben ständig in der Angst, dass eine Abrisskolonne kommt und ihr Heim zerstört, da sie illegal auf diesem Land leben. Es gibt kein unterirdisches Abwassersystem, die Kloake wird einfach in die Mitte der Straße geleitet, das Cluster von Krebserkrankungen und Mutationen ist groß.

Zurück in Bagdad besuchten wir einige Ministerien, um uns für Basra die Zulassung zu holen, in Krankenhäusern arbeiten zu dürfen. Wir buchten Flüge, was erst nach unzähligem Nachfragen gelang.

In Basra stürzten wir uns gleich weiter in die Arbeit. Ärzte, Einwohner, Betroffene, alle gaben sie "Uranium" als Grund für die erhöhten Krebsfälle und die Mutationen an. Die einzigen, die das bestritten, waren Politiker.

Unter Berufung auf eine WHO Studie sagte der Ministerberater Dr. Ali Lami vom irakischen Umweltministerium, dass er keine Verbindung zwischen dem Krebsanstieg, den Mutationen und der eingesetzten Uranmunition sieht.

Ich erfuhr, dass es in Basra einen Friedhof gibt, auf dem lediglich Kinder begraben werden. Noch nie habe ich vorher einen reinen Kinderfriedhof gesehen. Er liegt mitten im Zentrum, in einem riesigen Hinterhof. Tausende kleiner Gräber aus Zement. Dazwischen überall Abfall.

Der Friedhof wird seit einigen Generationen von einer Familie geführt. Vier Kinder, ich schätze zwischen sechs und zehn Jahren, spielten Fußball zwischen und auf den Gräbern.

Eine ältere Dame erschien, in jeder Hand eine Plastiktüte. Sie kam gerade aus dem Mutter- Kind-Krankenhaus, in dem ihre Tochter zwei Totgeburten zur Welt gebracht hatte. Die kämpfte selber noch ums Überleben und hatte ihre Mutter gebeten, die Kinder schon begraben zu lassen.

In einem kleinen Raum hat der Leichenwäscher sie dann ausgepackt, Koransuren summend gewaschen und in Leinentüchern eingewickelt. Die ganze Zeit anwesend: die Kinder des Friedhofsinhabers. Ohne eine Miene zu verziehen, schauten sie neugierig, was diesmal Auffälliges an den Kindern zu entdecken sei.

In den nächsten Tagen wiederholten sich die Besuche bei Familien, Interviews mit Ärzten, Führungen durch Krankenhäuser und Fahrten zu abgeschossenen Panzerwracks am Stadtrand.

Nach neun Tagen war mein Geld aufgebraucht - einen Monat Aufenthalt hatte ich geplant. Für Journalisten aus westlichen Ländern werden die Preise bis auf das Fünffache angehoben. Obwohl ich die Reise abbrechen musste, war ich zufrieden. Ich hatte die Berichte, die Anlass für die Recherchen waren, bestätigt gefunden.

Zurück zuhause brauchte ich eine kleine Auszeit, um die Eindrücke zu verarbeiten. Das Material musste ausgewertet und bearbeitet werden. Vor allem: Es musste der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Auf dem "Lumix Festival für jungen Fotojournalismus" in Hannover traf ich dann einige Bildredakteure deutscher Printmagazine.

Die Leitung des Auslands-Ressorts beim SPIEGEL wusste, wie umstritten die These von der Uranmunition als alleiniger Ursache für die Missbildungen ist. Eine Reportage sollte die Situation beleuchten. SPIEGEL-Korrespondent Alexander Smoltczyk, von Abu Dhabi aus zuständig für den arabischen Raum, sollte sie schreiben. Verabredet wurde, gemeinsam in den Irak zu fahren, um die Recherche und Fotoproduktion zu erweitern.

Die Phase der Organisation begann erneut, vor allem das allmorgendliche Telefonieren mit der Visastelle.

Ende Oktober 2012 konnte es dann wieder losgehen. Alexander Smoltczyk und ich besuchten Familien, Ärzte, Krankenhäuser und den Kinderfriedhof. Ich bin froh, dass meine ursprüngliche Fotoreportage dazu geführt hat, dass der SPIEGEL die fürchterlichen Umstände im Irak so ausgiebig beschrieben hat. Die Gründe für die menschlichen Tragödien sind vielfältig. Wichtig ist, dass sie nun einer breiten Öffentlichkeit in Bild und Wort zugänglich gemacht wurden."

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