Arroganz am Abgrund
Von Andacht war nichts zu spüren an diesem 2. Juni 2009, an dem Geschichte geschrieben wurde. Im Gegenteil: Die Aktionäre der Hypo Real Estate (HRE), die zur Hauptversammlung nach München gekommen waren, pöbelten, schrien und tobten. "Hängt sie auf", kreischte einer von ihnen Richtung Podium. Dort saßen Vorstände und Aufsichtsräte, bemüht, Fassung zu bewahren.
Es half nichts. Heute, das wussten alle im Saal, ist der Tag, an dem erstmals seit Gründung der Bundesrepublik eine deutsche Bank faktisch verstaatlicht würde. Aus Notwehr. Um sie zu retten.
Und gerettet werden muss sie, seit die Experten das Zauberwort ausgesprochen haben: systemrelevant. Was bedeutet: Wenn diese Bank fällt, reißt sie andere mit in den Abgrund. Das gesamte Finanzsystem geriete ins Wanken, nicht nur hierzulande.
Denn die HRE ist nicht irgendein Geldhaus: Sie ist der größte Emittent von Pfandbriefen, mit einer Bilanzsumme von knapp 400 Milliarden Euro. Pfandbriefe gelten in Deutschland als solidestes Finanzprodukt überhaupt. Banken, Sparkassen, Versicherungen refinanzieren sich damit, Opa und Oma haben einen im Sparstrumpf.
Wenn der Pfandbrief wackelt, wackelt die Nation. Um das zu verhindern, greift die Regierung unfassbar tief in die Tasche. Über 90 Milliarden Euro staatlicher Liquiditätsgarantien verschlingt das Finanzdesaster der HRE bereits. Schuld an diesem ungeheuerlichen Aderlass am Steuerzahler will niemand sein. Nicht die Aufseher von der Bundesbank und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Nicht der geschasste Vorstandschef Georg Funke, der ungerührt auf Lohnfortzahlung klagt. Auch nicht das Bundesfinanzministerium, dessen Rolle nun ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zu klären versucht.
Doch wie konnte es zu einem derartigen Versagen kommen? Was war geschehen, dass eine einzige, relativ unbekannte Bank ein ganzes Land in Geiselhaft nehmen konnte?
Die Geschichte der Hypo Real Estate begann vor sechs Jahren. 2003 hatte sich die HypoVereinsbank (HVB) auf dem Immobilienmarkt verspekuliert. Um sich ihrer gefährlichen Geschäfte zu entledigen, lagerte sie diese in einem neuen Institut aus, der Hypo Real Estate.
An die Spitze der Holding, die rasch an die Börse gebracht wurde, kam der damals 48-jährige Georg Funke. Der Mann aus der zweiten Reihe witterte die Chance seines Lebens.
Ausgerüstet mit einem Risikoschirm der HVB über mehrere hundert Millionen Euro legte er los. Er verlagerte eine Konzerntochter ins Steuerparadies Dublin und verscherbelte für knapp vier Milliarden Euro Ramschkredite. Bald schon tummelte er sich im Geschäft mit hochriskanten Finanzprodukten. Ende 2005 stieg die HRE in den Aktienindex Dax 30 auf. Die Aktie kletterte im April 2006 auf den Rekordwert von 57,30 Euro.
Doch Funke wollte weiterwachsen. Er hatte ein Auge auf ein weiteres Institut geworfen, die Deutsche Pfandbriefbank (Depfa) mit Sitz in Dublin, ein Staatsfinanzierer mit scheinbar bester Rendite und Bonität.
Tatsächlich war die Depfa zu diesem Zeitpunkt längst über ihrem Zenit. Ihr Chef Gerhard Bruckermann ahnte, dass das hohe Risiko, das er einging, nicht mehr lange zu bewältigen war. Die vielen Milliarden Euro, die sein Haus an Krediten für mehrjährige Staatsfinanzierungen bereitstellte, mussten innerhalb von nur drei Monaten mit neuaufgenommenen Krediten zurückgezahlt oder umgeschichtet werden. Ende 2006 hielt die Depfa Positionen von über 90 Milliarden Euro mit einer Laufzeit von weniger als drei Monaten. Die Bank verdiente großartig an der Differenz zwischen den relativ niedrigen Zinsen, die sie für ihre kurzfristigen Refinanzierungen zahlen musste, und den relative hohen Zinsen, die sie für die längerfristigen Staatsfinanzierungen einstrich. Dieses Geschäft würde allerdings in dem Moment nicht mehr funktionieren, wo der Finanzmarkt keine neuen Kredite mehr hergab, die Banken einander kein Geld mehr liehen. Aber wer dachte schon, dass so etwas geschehen konnte?
Georg Funke offenbar nicht. Obwohl in den USA die Immobilienblase zu platzen begann, kündigte die HRE am 23. Juli 2007 den Kauf der Depfa für 5,7 Milliarden Euro an.
Es sollte der Anfang vom Ende sein.
Die Börse strafte die Übernahme brutal ab: Der HRE-Kurs fiel unter 40 Euro. Während Funke verkündete, das Geschäft der Depfa sei "langfristig profitabel, sehr solide und mit ganz geringem Risiko" behaftet, setzte sich Depfa-Chef Bruckermann nach dem Verkauf seiner Anteile mit 100 Millionen Euro zum Orangenzüchten nach Spanien ab.
Noch im August 2007 erklärte Funke: "Die Märkte werden sich relativ schnell beruhigen. Das ist eine Frage von Wochen, allenfalls Monaten." Seine Bank sei von der US-Krise nicht belastet, im Gegenteil, man sehe Chancen.
In den USA begann der Geldmarkt, auf dem sich die Depfa Ende September 2007 noch 56 Milliarden Euro besorgt hatte, zu versiegen. Dennoch hieß es auf einer Analystenkonferenz Ende Oktober großspurig, der direkte Draht zu großen Investoren wie Zentralbanken und Pensionskassen "beschütze" die Depfa als Tochter der HRE-Holding.
Beamten der BaFin war jedoch schon im Frühling 2007 nicht mehr wohl. Die ungewöhnliche Struktur von Funkes Holding, unter deren Dach sich mehrere unabhängige Töchter tummelten, machte ihnen Sorgen. Sie alarmierten das Bundesfinanzministerium und schlugen ihrem Dienstherrn vor, Finanzholdings grundsätzlich der BaFin-Aufsicht zu unterstellen.
Doch am Sitz von Finanzminister Peer Steinbrück herrschte Schweigen - ein schwerer Fehler, wie sich bald herausstellte.
Am 15. Januar 2008 kam es zum ersten Knall. Funke meldete eine Abschreibung von 390 Millionen Euro auf amerikanische Papiere. Die Börse war schockiert. Die HRE-Aktie fiel um 38 Prozent.
Wohl deshalb gewann Funke im April 2008 einen neuen Großaktionär. Der US-Investor J. Christopher Flowers sicherte sich für 1,1 Milliarden Euro 24,1 Prozent an der HRE. Gleichzeitig drückte Funke bei der Depfa aufs Gas. Ende Juni 2008 hatten die Dubliner auf dem bereits hypernervösen Geldmarkt 54 Milliarden Euro aufgenommen.
Im Sommer 2008, mitten im Orkan, erkannten Steinbrücks Helfer endlich die Brisanz der Lage. Eiligst zimmerten sie einen Entwurf zur "Kreditwesengesetz-Änderung zur Aufsicht von Finanzholding-Gesellschaften". Die Korrektur kam zu spät.
Am 15. September 2008 kollabierte die US-Investmentbank Lehman Brothers. Am 16. meldete sich Georg Funke bei den Bankaufsehern der BaFin: "Wir bekommen keine Liquidität mehr."
Wenige Tage später stand die HRE am Abgrund.
In einer dramatischen Verhandlungsnacht feilschten Banker, Politiker und Aufseher am 28. September in Frankfurt am Main über die Kosten der HRE-Rettung. BaFin-Chef Jochen Sanio drohte, die HRE zu schließen. Erst ein Telefonat zwischen Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und Kanzlerin Angela Merkel brachte im letzten Moment eine Lösung: Ein Notkredit über 35 Milliarden Euro wurde gewährt. 40 Prozent des Verlustrisikos trägt der Bund, 60 Prozent die Banken.
Er habe in einen Abgrund geblickt, sagte Minister Steinbrück danach. Und sprach, weil er so sauer war auf Funke, von einer "geordneten Abwicklung" der Bank. Spätestens damit war die Kreditwürdigkeit der HRE zerstört. Sofort machten die Anwälte der HRE den Finanzminister mitverantwortlich für die immer schwierigere Lage des Instituts.
Vier Tage nach dem ersten Rettungspaket benötigte Funke weitere 15 Milliarden Euro. Am 7. Oktober erzwang Berlin seinen Rücktritt. Ackermanns bester Mann, der 42-jährige Chefstratege der Deutschen Bank, Axel Wieandt, übernahm. Auch er konnte nichts mehr retten.
Wieandt beschwor einen schnellen Einstieg des Bundes. Ihm war klar, dass die Garantien und Kredite - schwindelerregende 80 Milliarden Euro Ende Dezember - nicht reichen würden.
Am 20. März 2009 beschloss der Bundestag das umstrittene Banken-Enteignungsgesetz. Das war nötig geworden, weil sich besonders Großaktionär Flowers einer Rettungsübernahme durch den Staat verweigert hatte. Anfang April stimmte der Bundesrat zu. Nun war der Weg zum Einstieg des Bundes frei. In der Hauptversammlung übernahm der Staat im Wege einer Kapitalerhöhung 90 Prozent der HRE.
Gegen Ex-Chef Funke, weitere Vorstände und Aufsichtsratschef Kurt Viermetz ermittelt die Staatsanwaltschaft. Es geht um Veruntreuung und den Verdacht der unrichtigen Darstellung. Die Bundestagsfraktionen von SPD und Union erwägen gar eine Schadensersatzklage der HRE gegen die einstigen Lenker.
Auch an Finanzminister Steinbrück wird die Rekord-Rettungsaktion nicht spurlos vorübergehen. 102 Milliarden Euro sind bislang als Garantien und Kapitalhilfen in die Skandalbank geflossen, größtenteils aus Steuergeldern. Und wie der Untersuchungsausschuss herausfand, war das Ministerium frühzeitig von der Misere der HRE informiert. Bereits im Januar 2008 erhielt Steinbrücks Haus einen Bericht von BaFin-Chef Sanio, der explizit beschrieb, dass im Falle einer Schieflage der HRE Verluste "kaum durch externe Kapitalzuführungen kompensiert werden können".
Der Abgrund, den Steinbrück erst im September entdeckt hat, er war schon im Januar da.