LERNEN UND ERINNERN Corporal ohne Vergangenheit
Wenn es um ihn selbst geht, kennt Adrian Mills keine Gewissheit. "Hhm", beginnt seine Frau, wann immer seine Unsicherheit auf ihr lastet, und gibt Auskunft: "Vor drei Jahren? Da waren wir fast so weit, uns zu trennen. Du hast dich unglücklich gefühlt." Solche Sätze saugt der Mann auf - und fällt gleich wieder zurück in den Zweifel. "Sie könnte mir ja alles erzählen", sagt er. "Ich kann es nicht überprüfen."
Adrian Mills, 31, Corporal der britischen Rheinarmee, stationiert in Bielefeld, wohnhaft in einem Dreizimmerhaus mit Küche, Bad und kleinem Garten, hat keine Erinnerung an sich selbst. Er hat verloren, was Hirnforscher "autobiografisches Gedächtnis" nennen: den Speicher für die eigene Identität, das Bewusstsein für die eigene Person.
Die ersten 29 Jahre seines Daseins sind dahin; alles, was er erlebt und gefühlt hat, liegt verborgen, verschluckt von "retrograder Amnesie" - Gedächtnisverlust. Mills weiß nichts von Mathearbeiten, Geburtstagsfreude und erster Freundin. Er hat vergessen, wie sich Trauer, Zuneigung und Ärger anfühlen. Einer wie er speist sich aus dem, was andere ihn wissen lassen. "Jeden Tag sortiert er seine Vergangenheit", sagt seine Frau. "Er setzt sich neu zusammen - aus unseren Berichten."
Susanne Mills, 40, Altenpflegerin, ein Sohn aus erster Ehe, hat jede Menge Erinnerungen an den früheren Adrian. Auf Festen fotografierte er begeistert die Freunde, die er heute nicht mehr kennt; abends hockte er mit ihrem Sohn beim Männergespräch und erzählte Geschichten, die ihm heute fremd erscheinen.
Solche Schicksale, dachte Susanne Mills immer, gebe es allenfalls im Film. Nun spielt sie selbst die zweite Hauptrolle. Tapfer ringt sie um das kleine Glück zu Haus: Im Teich plätschert Wasser über eine Glaskugel, eine Gartenfackel verheißt Romantik für den Abend. Nur in seinem Kopf findet ihr Mann keine stimmigen Bilder.
Vor zwei Jahren fiel der gedrungene, kräftige Brite mitten in der Arabischen Wüste aus seiner Welt. Bei einem Manöver kippte der Lkw zur Seite, Mills saß auf dem Beifahrersitz. Als er die Augen wieder aufschlug, lag er im Hospital. Um ihn herum standen die Kumpel und erzählten, sie hätten Frau und Sohn informiert. "Wieso Frau, wieso Sohn?" Mills wusste von niemandem. Da schwadronierten die Kameraden drauflos, zu Hause warte eine dicke schwarze Lady auf ihn, und das ganze Krankenzimmer dröhnte vor Lachen. Familienfotos hatte der Soldat nicht im Marschgepäck.
Eine schlanke, blonde Frau empfing den Heimkehrer: Susanne. Erleichterung, mehr Gefühl war nicht.
"Weißt du, wer ich bin?", drängelte sie, seit zehn Jahren mit ihm verheiratet, und Adrian, unerträglich ehrlich, antwortete: "Nicht wirklich." Er solle doch das Gespräch mit "Ich liebe dich" beginnen, hatte ihm sein Vorgesetzter geraten. "Aber ich habe sie gar nicht geliebt", sagt Mills. "Ich kannte sie doch gar nicht."
Sein Hirn schien unverletzt, das Gewebe durch den Unfall nicht beschädigt - wo immer der Soldat Rat suchte, schüttelten Mediziner den Kopf.
Die Rundreise durch die neurologischen und psychiatrischen Praxen Westfalens endete im Internet bei einem Link zu Hans Joachim Markowitsch. "Natürlich wirkt seine Geschichte erst einmal abwegig", sagt der Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld, der zu den bekanntesten deutschen Gedächtnisforschern zählt. "Doch manchmal reichen bereits kleine Erschütterungen oder schlimme Erfahrungen, und die Erinnerung verweigert sich für immer."
Zusammen mit Wissenschaftlern des Kölner Max-Planck-Instituts für neurologische Forschung untersucht Hans J. Markowitsch eine Vielzahl filmreifer Fälle: einen Teenager, der sich im Telefonhäuschen nach einem Groschen bückt, beim Aufrichten gegen den Apparat knallt und sich fortan identitätslos fühlt; einen Pharma-Manager, der beim Ausreiten auf dem Landsitz in der Toskana gegen einen Ast stößt und danach weder Frau noch Tochter erkennt; einen Mann, den beim Anblick eines brennenden Hauses seine Erinnerungen verlassen.
"Mnestische Blockade" heißt der bizarre Bewusstseinszustand, bei dem das "autobiografische Gedächtnis" seinen Dienst versagt, während die anderen Erinnerungssysteme ohne Pannen durcharbeiten. Das "semantische Gedächtnis" hält weiterhin Faktenwissen ("Oslo ist die Hauptstadt von Norwegen" oder "3 mal 6 ist 18") parat; das "motorische Gedächtnis" spult erlernte Bewegungsabläufe (Zähneputzen, Kartoffelschälen) ab; das "Priming-Gedächtnis" setzt unbewusst wahrgenommene Details in den größeren Zusammenhang ("Kaffeeduft gehört zum Frühstück", "Verkehrslärm in die Großstadt").
Nur wenn es darum geht, die eigene Geschichte zu erzählen, scheitern solche Selbstvergessenen. Sie kennen alle Bundesligaclubs, aber an den eigenen Jubel beim entscheidenden Spiel um die deutsche Meisterschaft erinnern sie sich nicht. Sie sprechen fließend englisch, wissen aber nichts mehr von ihren Reisen in die USA. Sie arbeiten wie zuvor, haben aber keine Ahnung mehr, wann sie ihren ersten Job antraten. "Mit einem Mal versagt das Gedächtnis mit der höchsten Bewusstseinsebene", erklärt Markowitsch. "Plötzlich fehlt den Patienten der Klebstoff, der die Fetzen im Hirn zusammenhält und ein Ich-Gefühl überhaupt erst möglich macht."
Er sei wohl, sagt Mills, so etwas wie ein neugeborenes Baby, das ausgewachsen zur Welt kommt. Stundenlang zieht er sich mitunter zurück und sortiert Erinnerungsstücke. Das Hochzeitsvideo hat er sich gleich ein paar Mal angesehen - ohne seine Frau. "Ich wollte allein entscheiden, ob das ein guter Tag für mich war", sagt er. "Ich habe die ganze Zeit meinen Gesichtsausdruck beobachtet."
Im Inneren des Gehirns bahnt sich der Verlust der Erinnerung oft langfristig an. "Erschütterungen oder traumatische Erlebnisse lösen die Blockade nur aus", meint Gedächtnisforscher Markowitsch. Das eigentliche Übel aber sei ein Zustand, den jeder kennt - und der oft auch fruchtbar wirken kann: Stress.
In heiklen Situationen wird der Mensch schlagartig leistungsfähiger, weil der Körper vermehrt Stresshormone produziert. "Doch andauernde oder sich ständig wiederholende Stresssituationen können das Gehirn mit der Zeit massiv schädigen", sagt Markowitsch. Werden immerfort Stresshormone ausgeschüttet, so seine These, dann blockieren sie die Nervenzellen im Gehirn für andere Botenstoffe. Dadurch kippt der Stoffwechsel derart um, dass die Hormone schließlich zerstörerisch wie Gift wirken.
"Fatalerweise wirkt das genau dort, wo auch jede Menge Leistungen für das autobiografische Gedächtnis erbracht werden", erklärt der Hirnforscher, "im Hippocampus und dem angrenzenden Mandelkern, der Amygdala."
Bislang kannten Forscher die zerstörerische Kraft solcher Hormone nur aus dem Tierversuch: Wann immer sich zwei männliche Spitzhörnchen zum ersten Mal begegnen, kämpfen sie um die Vormachtstellung. Müssen sie sich danach gemeinsam in einem Käfig aufhalten, kann mit der Zeit allein der Anblick des Stärkeren beim Schwächeren zum Tod führen. Von vielen seiner Hippocampuszellen bleibt kaum mehr als ein verkümmertes Häufchen voll zersetzter Zellstümpfe.
Ähnlich entstellte Hippocampi hat Markowitsch nun auf Gehirnbildern seiner Patienten entdeckt. Sie gleichen den Schäden von Patienten nach Schlaganfällen, mit Epilepsie oder Alzheimer.
Ein Mann, der mit ansehen musste, wie ein Haus brannte, lieferte den Nachweis: Auch psychische Anspannung kann einen organischen Defekt verursachen, der Gedächtnisverluste auslöst. Als der 23-Jährige in behüteter, ruhiger Umgebung mit Hilfe von Medikamenten und Psychotherapie nach und nach zu seinen Erinnerungen zurückfand, normalisierte sich auch der Stoffwechsel in Hippocampus und Amygdala. Nach etwa einem Jahr hatte der Mann seine Biografie fast vollständig zurückerobert - und die Hirnaufnahmen zeigten ein im Grunde wieder intaktes Organ.
Amygdala und Hippocampus sind so etwas wie die Flaschenhälse der Erinnerung: Sie liegen in einem evolutionsgeschichtlich alten Hirnbereich, dem limbischen System. Die in alten Lehrbüchern als "Riechhirn" bezeichnete Ansammlung von Nervenzellnetzen spielt bei Tieren wie Menschen die Rolle des Richters: Sie entscheidet, ob ein Lebewesen etwas für gut oder schlecht befindet. So wie sie der Katze signalisiert, dass sie gerade an verdorbenem Fleisch schnuppert, bedeutet sie dem Menschen, ob er etwas als angenehm oder unangenehm erlebt.
Damit sitzen Amygdala und Hippocampus an der Schaltstelle menschlicher Gefühle. Gleichzeitig beeinflussen sie, welche Informationen ins Langzeitgedächtnis wandern. Nur was der Mensch als besonders bedeutend empfindet, ist es wert, auf Dauer gespeichert zu werden. "Also tragen die beiden Gehirnregionen auch maßgeblich Verantwortung für das autobiografische Gedächtnis", folgert der Professor. "Denn natürlich wird vor allem all das gespeichert, was vorher mit dem Stempel des Besonderen versehen wurde."
Im schlimmsten Fall schrumpfen Amygdala und Hippocampus bei seinen Patienten wie Trockenpflaumen - und nehmen den Menschen nicht nur ihre Erinnerungen, sondern auch ihr Gefühl.
"Anfangs habe ich mich mit ihm gezofft ohne Ende", sagt Susanne Mills und schenkt ihrem Mann Kaffee nach. Aus dem Wohnzimmer dudelt der britische Soldatensender BFBS Gewinnspiele und Einkaufsempfehlungen auf die Terrasse. "Adrian merkte ja gar nichts mehr von meinen Empfindlichkeiten." Wenn er mit ihrer Wut gar nichts anzufangen weiß, rettet er sich auf seine Art und sagt: "Du tust, als ob wir uns jahrelang kennen." Sie schluckt dann, verlässt das Zimmer, raucht eine Zigarette, kommt zurück und erwidert: "Tun wir doch auch." Das gilt aber nicht für mich, denkt er und kann nicht nachvollziehen, warum er schon wieder mitten im dicksten Ehekrach steckt.
"Die Patienten selbst merken wenig von ihrer emotionalen Verflachung", sagt Markowitsch. In dunklen Momenten verfolgt Susanne Mills die Angst, ihr Mann treffe jemanden, der "dieses Schmetterlingsgefühl" in ihm auslöst. "Du kennst es nicht, du hast dich ja nicht neu in mich verliebt", sagt sie und reicht ihm Milch. "Was ist verliebt?", fragt er zurück. "Ich liebe dich doch. Ein Mann liebt seine Frau."
"Verliebt ist etwas anderes."
"Wieso?"
"Liebe musst du dir erkämpfen. Du würdest alles für einen Menschen tun."
"Ich würde alles für dich machen. Heißt das, ich liebe dich?"
Ein Jahr nach dem Unfall glaubte der Soldat, wieder für seine Frau zu empfinden. Er hat es sich hart erarbeitet - und dafür stundenlang vor den Vorabendserien im Fernsehen gehockt. Was anderen peinlich überzeichnet vorkommt, war für Mills gerade deutlich genug. "Ich habe gesehen, dass man froh ist, wenn man lacht", sagt er. Der Brite hat Emotionen auswendig gelernt wie andere Vokabeln: Wenn man wütend ist, ziehen sich die Augenbrauen zusammen. Wenn man traurig ist, pressen sich die Lippen zusammen, die Augen werden klein, und die Schultern fallen runter.
"Belle indifférence" (wohltuende Gleichgültigkeit) heißt der poetisch klingende Fachausdruck für diese Gemütslage, in der Menschen leben, als seien ihre Gefühle von zähem Gummi umschlossen. Irgendwie liege darin auch ein Segen, meint Gedächtnisforscher Markowitsch. Sonst müssten Amnestiker wie Adrian Mills permanent an sich verzweifeln.
Dass vollzeitgestresste Piloten, Kanzlerkandidaten oder Industriemanager nicht zwangsläufig ein ähnliches Schicksal ereilt, hat einen einfachen Grund: Jeder verarbeitet Stress so individuell, wie er Vorlieben entwickelt. Manch einer braucht ihn als Würze seines Lebens und erklimmt begeistert Achttausender. Andere drehen durch, sobald sie im Schwimmbad auf dem Dreimeterbrett stehen.
Nein, erinnert sich die Frau, ihren Mann habe so leicht nichts aus der Ruhe gebracht. Adrian habe immer als einer der Ersten den Finger gehoben für die Manöver im fernen Ausland. Und weggesteckt habe er das jedes Mal. "Er war durch und durch Soldat", sagt sie, habe Befehl und Gehorsam von der Pike auf gelernt. "Das machte ihm nichts aus."
"Solche Schilderungen sind typisch für Angehörige", diagnostiziert Markowitsch. "Sie wollen den Menschen an ihrer Seite, der nicht mehr über sich selbst Auskunft geben kann, im rechten Licht erscheinen lassen." Häufig erzählten die Krankengeschichten ganz anderes: "Unter Druck und in Auseinandersetzungen haben viele der Amnesie-Patienten schon vorher ein paar Mal das Bewusstsein, teilweise auch die Erinnerung verloren."
Wie gut ein Erwachsener mit Stress umzugehen vermag, wie kontrolliert sein Körper die Hormone ausschüttet, hängt nach Ansicht vieler Hirnforscher auch mit seiner frühen Kindheit zusammen: Solange sich das Gehirn noch formt, kann es sich durch alle möglichen Einflüsse zu einem verletzlichen und stresslabilen Organ entwickeln.
"Meine Eltern sind doch nett, oder?" Mills blickt Hilfe suchend zu seiner Frau. Sie nickt. Mutter, Vater, Onkel, Tanten - Familie Mills in Harwich steht zusammen. Nach dem Unfall hat der Sohn dort stundenlang auf dem Sofa gesessen und versucht, seine Kindheit hervorzulocken. Berge von Fotoalben haben die Eltern mit ihm durchgearbeitet, bis er nicht mehr konnte, weil er in jeder Minute Neues über sich erfuhr. "Jetzt sprechen wir über Vergangenes nur noch, wenn ich frage."
Wie viele seiner Patienten, so bietet auch Mills seinem Arzt keine aussagekräftigen "biografischen Marker" - "ein erdrückend autoritäres Elternhaus" etwa oder "früher sexueller Missbrauch". Eine eindeutige Erklärung, warum die meisten Menschen selbst nach Folter oder Gefangenschaft die Herrschaft über ihre Erinnerungen behalten und - wenigen - anderen die Vergangenheit bei harmlosen Ausritten in der Toskana abhanden kommt, gibt es nicht. Eine Studie deutet darauf hin, dass einige Menschen bereits mit besonders stressempfindlichen Hirnen geboren werden.
Es klinge ja vielleicht seltsam, gibt Markowitsch zu, aber manchmal sei auch stressentscheidend, wie selbst- oder fremdbestimmt jemand sein Dasein friste. "Ich habe einen Ingenieur untersucht, an dem zerrten erst die Eltern, dann schubste ihn die Frau. Nie setzte er sich zur Wehr, und am Ende wusste er nicht einmal mehr ihre Vornamen."
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Verdrängungstheorie ähnliche Schicksale als Belege bemüht. Menschen, so Freud, reagierten auf traurige Erfahrungen oder Scham, indem sie ihre Erinnerungen daran ins Unterbewusste zurückdrängten. "Vielleicht hat er ja Recht", meint Markowitsch, "und Amnestiker wollen sich unbewusst tatsächlich nicht erinnern. Doch es ist nichts, was sie steuern könnten. Sie können ihr Gehirn nicht überlisten."
Das Gehirn austricksen - Susanne Mills versucht es unentwegt. Mit aller Macht will sie ihrem Mann die Vergangenheit aufschließen. Wie auf dem Silbertablett serviert sie ihm die alten Maßstäbe: "Der ist nett und jener ein toller Freund zum Grillen"; oder: "Man setzt sich nicht einfach vor den Fernseher, wenn Besuch kommt", und "Ostern hast du dich doch auch immer über Schokoladeneier gefreut".
Wann immer der Soldat, oft ausdauernder als ein Dreijähriger, eine Erklärung verlangt, antwortet sie nach bestem Wissen: "Du solltest Dean zu Weihnachten etwas schenken, weil man es eben so macht." Beim ersten Mal verweigerte sich Mills dem "ganzen seltsamen Zirkus um einen dicken roten Mann mit Bart und Lichterketten in der Stadt". Dann sah er, wie sein Stiefsohn die Geschenke auspackte. "Weihnachten muss wohl sein, damit Kinder ein wunderschönes Gesicht machen", findet er nun.
Im Kreis der altbekannten, ihm fremden Freunde plaudert er über Sachthemen oder gar nicht. Sich selbst nicht zu kennen macht einsam und unsicher. "Weißt du noch, wie wir damals gesoffen haben?", fragen die Kerle, und Mills kann nicht mitreden. Zwischendurch tat er eine Zeit lang so, als erinnere er sich - nur um nicht blöd aufzufallen. Der mache sich doch bloß wichtig, lästerten prompt die Bekannten und überprüften seine Glaubwürdigkeit, indem sie vermeintliche Schulden von ihm einklagten. Auch den Kameraden der Armee ist der Corporal ohne Vergangenheit, der heute Lastwagen wartet, nicht geheuer: Wieso der denn überhaupt rechnen könne, wenn er sich nicht an seine Schulzeit erinnere?
"Es kostet eine Menge guten Willen, diese Krankheit überhaupt für möglich zu halten", räumt selbst der Spezialist Markowitsch ein. Manchmal berichtet sein Patient von verschwommenen Bildern. Die Sommerferien bei der Oma erscheinen ihm als eine in Düsterheit getauchte Türklingel mit Metallstrippen. "Irgendeine Information muss da auf der vorbewussten Ebene noch im Gedächtnis stecken", erklärt der Professor. Als Mills ein kleiner Junge war, starb sein geliebtes Kaninchen im Urlaub bei den Großeltern.
Dass der Soldat absichtlich fabuliert, schließt der Wissenschaftler aus. Zwei Tage lang hat er ihn 50 psychologischen Tests unterzogen und ihm dann attestiert, ein Ehrenmann zu sein - "eine Tendenz zur bewussten Lüge ist nicht feststellbar".
Erst danach schaute er dem Patienten ins Gehirn. Mills musste dafür zum Forschungszentrum Jülich reisen, eines der größten Forschungseinrichtungen in Europa. Wie einen Laib Brot schoben ihn die Gedächtnisforscher dort in den Kernspintomografen. Während der Soldat in der Röhre lag und sich erinnern sollte, zeichnete das Gerät zwei Stunden lang jede Hirnaktivität auf.
Im 30-Sekunden-Takt schickten die Wissenschaftler nacheinander 240 Sätze auf eine Projektionsfläche vor seinen Augen. Sie schilderten Situationen aus dem Leben des Soldaten vor und nach dem Unfall, aber auch erfundenen Unsinn: Wir haben meine Mutter zu ihrem Geburtstag überrascht (wahr, vor dem Unfall). Die Meeresfrüchte im Restaurant Venezia schmeckten eklig (falsch, vor dem Unfall). Auf der Kirmes im letzten Jahr hatten wir viel Spaß mit meinen Eltern auf der Achterbahn (wahr, nach dem Unfall).
Nach zwei Stunden durfte der Patient die Röhre verlassen. Wochenlang werteten die Wissenschaftler seine Daten aus, bevor sie ihm ein erstes, bedrückendes Ergebnis mitteilten: Die rechte Seite der Amygdala, die in einem gesunden Gehirn auf Hochtouren läuft, sobald sie eine emotional aufgeladene Information der eigenen Biografie verarbeitet, scheint bei Mills ihre Funktion nicht mehr erfüllen zu können. Alles, was er nach dem Unfall erlebt hat, verarbeitet sein Gehirn eher linksseitig - wie Faktenwissen, das sich ein Mensch emotionslos eintrichtert.
Allerdings verbindet der Soldat mit den neuen Gedächtniseinträgen eine gewisse Sicherheit: "Anders als das, was er nur aus den Erzählungen anderer über sein früheres Leben kennt, weiß er hier: So ist es und nicht anders."
Sein altes Selbstbewusstsein wird der Soldat schwerlich wiedererlangen, und ob sich sein Gehirn erholen wird, vermag der Gedächtnisforscher nicht zu beantworten. Sind Hippocampus und Amygdala erst nachhaltig beschädigt, hilft auch kein entspanntes Leben mehr. Allenfalls 15 Prozent seiner Fälle, schätzt Markowitsch, hätten zu ihrer Vergangenheit zurückgefunden. Sie alle waren jünger als Mills.
Pillen, Säfte oder Tabletten, mit denen sich die Ausschüttung von Stresshormonen zuverlässig - und ohne den Preis dumpfen Dahindämmerns - kontrollieren ließe, kann kein Arzt verschreiben: Die Arbeitsweise der Botenstoffe im Kopf ist zu wenig bekannt; die Gefahr, den Hormonhaushalt endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen, groß. "Im Moment liefe eine Medikamentenbehandlung auf ein Menschenexperiment hinaus", sagt Markowitsch.
Jeden Tag wartet Mills auf die Rückkehr seiner Erinnerungen. Jeden Tag liegt er auf der Lauer: Ist das, was um ihn herum geschieht, für jeden neu - oder wieder einmal nur für ihn? Manchmal hält er es kaum aus, dass alle um ihn herum besser über ihn Bescheid wissen als er selbst.
Durch die Terrasse trabt ein Golden Retriever und reibt sich schnüffelnd am Bein seines Herrchens. "Man hat mir gesagt", sagt Mills und tätschelt den Hundekopf, "das Leben mache einen Menschen zu dem, was er ist. Und wenn er sein Leben nicht kennt - was ist er dann?" KATJA THIMM