Der unwahrscheinliche Coup
Zwei ummauerte Pfeiler, 22 Meter hoch, achteckig und dunkel, als seien sie rußgeschwärzt - ein düsteres Monument, fast beklemmend. Die gedrungenen Türme am Rheinufer von Remagen, dem Römerstädtchen nahe Bonn, sind ein Relikt des Krieges. Und auch ein Symbol des Friedens, gewissermaßen.
Vor 60 Jahren, Anfang März 1945, erschien der Rhein sowohl den amerikanischen Angreifern als auch den deutschen Verteidigern als eine Barriere, die sich über Hunderte Kilometer erstreckte: als Schutz für die einen und scheinbar unüberwindliches Hindernis für die anderen. Über 40 Brücken zwischen Basel und Emmerich waren zerstört oder unpassierbar.
Das waren alle - bis auf eine: Die Brücke von Remagen war intakt geblieben.
Dass die Amerikaner sie am Nachmittag des 7. März fast handstreich- artig nehmen konnten, war ein Zufallscoup, der den Tod Zehntausender verhinderte. Eigentlich, sagte der alliierte Oberbefehlshaber Dwight D. ("Ike") Eisenhower nach dem Krieg, sei die "endgültige Niederlage des Feindes" erst "mit dem Abschluss des Früh- jahrs- und Sommerfeldzugs" erwartet worden.
Dank dieser Brücke sei plötzlich der Sieg für die einen und die Niederlage für die anderen "gleich hinter der nächsten Ecke" gewesen: "Remagen war völlig unvorhergesehen." Die Brücke habe, analysierte Eisenhowers Generalstabschef Walter Bedell-Smith, "den Krieg entschieden".
Zu den Denkwürdigkeiten der Geschichte im 20. Jahrhundert gehört, dass die Brücke, die zur schnelleren Niederlage des Hitler-Reichs führte, einst geplant war als eine Brücke des Sieges - schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs, weil für die erwartete Auseinandersetzung mit dem Erbfeind Frankreich Soldaten und Material auf dem Schienenweg an die Front gebracht werden sollten. Die vorhandenen Kapazitäten waren begrenzt, da in diesem Teil des Rheinlands nur die Kölner Hohenzollernbrücke zur Verfügung stand; was sie zu bewältigen hatte, machen Zahlen vom Kriegsbeginn deutlich. Zwischen dem 2. und dem 18. August 1914 waren über sie 2150 Züge hinweggerollt, eine Waggonschlange in jeder Viertelstunde.
Entlastung musste her, und die kaiserliche Generalität entschied sich für die Verbindung zwischen Remagen am Westufer und Erpel am Ostufer. Auf diese Weise konnten die Bahnstrecken links und rechts des Rheins ideal miteinander verknüpft werden. 1916 wurde mit dem Bau der Brücke begonnen.
Doch die imposante Stahlkonstruktion - 325 Meter lang, knapp 15 Meter über Flussniveau - wurde erst im Spätherbst 1918 fertig. Gerade rechtzeitig, ironischerweise, um Platz zu bieten für den Rückzug der geschlagenen deutschen Frankreich-Armee.
Die Brücke, die nun den Namen des Ersten Generalquartiermeisters Erich Ludendorff trug, blieb weiterhin im Blick des Militärs. Erst wurden fünf hrer sechs Sprengkammern zubetoniert, aus Sorge vor Sabotageakten während der Rheinland-Besetzung. Dann, nach 1936, bauten Spezialisten der Wehrmacht ein hochmodernes Detonationssystem wieder ein. 600 Kilogramm Sprengstoff, gut verteilt auf der Brücke, sollten im Fall der Fälle den fast 30 Meter hohen Mittelbogen in den Rhein krachen lassen.
Im Hochgefühl der Blitzkriegerfolge erachteten Hitlers Strategen das Sprengsystem in der Brücke von Remagen offenbar als überflüssig und fürchteten zudem Sabotage. 1940 wurde die gesamte Anlage - Zünder, Spezialkabel, Zinkbehälter für den Sprengstoff - ausgebaut und in einem Munitionsdepot nahe Darmstadt deponiert, auch die 600 Kilo Sprengstoff.
Aber als nach der Invasion der Alliierten im Sommer 1944 die Sprengung der Brücke wieder vorbereitet werden sollte, waren die entsprechenden Vorrichtungen verschwunden - und mussten anhand alter Pläne eilends rekonstruiert werden. Der Sprengstoff wurde schließlich erst in letzter Minute geliefert, in Quantität und Qualität unzureichend - es war Mittwoch, der 7. März 1945.
An jenem Tag war für die Alliierten, die schon weit vorgerückt waren, die strategische Lage längst klar: Sie wollten, freilich später, vom Niederrhein und vom Raum Frankfurt kommend, in einer Zangenbewegung das industrielle Herz Westdeutschlands nehmen - das Ruhrgebiet. Monatelang schon hatten Bomber immer wieder Angriffe geflogen.
Ein Durchbruch bei Remagen lag weder im Kalkül der Angreifer noch in dem der Verteidiger. "Nur ein Idiot würde versuchen, den Rhein an einer solchen Stelle zu überqueren", soll Generalfeldmarschall Walter Model gesagt haben, dessen Heeresgruppe B für den Frontabschnitt zwischen Duisburg und Koblenz zuständig war. Model hielt die Topografie für ein entscheidendes Hindernis. Denn unmittelbar hinter dem Ostufer baut sich die Erpeler Ley auf, ein mächtiger, steiler Basaltfelsen von knapp 200 Metern Höhe.
Zur Bewachung der Brücke standen gerade einmal 36 Mann einer Genesendenkompanie zur Verfügung, auch waren 40 Soldaten einer Pionierkompanie vor Ort - doch viele von ihnen "Opas und Magenkranke", erinnert sich ein Augenzeuge. In den letzten Wochen hatte sich die Befehlsgewalt über diesen Frontabschnitt mehrfach geändert, und der Kampfkommandant von Remagen, Major Hans Scheller, hatte erst an diesem Mittwochvormittag sein Amt angetreten.
Schellers Auftrag war klar und kompliziert gleichermaßen. Er durfte den Befehl zur Sprengung der Brücke nicht zu früh erteilen - und nicht zu spät. Nicht zu früh, um möglichst vielen seiner Kameraden den Rückzug ins Hinterland zu ermöglichen. Und nicht zu spät, um dem Feind keine Chance zu geben. Der Major, Vater zweier Kinder, hatte richtig vorausgesehen, auf welch schmalem Grat er sich bewegte: "Ein Himmelfahrtskommando oder ein Ritterkreuzauftrag."
Gegen Mittag erreichte die Vorhut der 9. US-Panzerdivision eine Anhöhe oberhalb von Remagen, und was die Männer des Spähtrupps durch ihre Feldstecher beobachten konnten, muss für sie unfassbar gewesen sein - eine unzerstörte Brücke, über die gerade abgekämpfte Wehrmachtsoldaten Richtung Ostufer und in die vermeintliche Sicherheit zogen.
Eigentlich sollte, das war Befehlslage, nur das Städtchen Remagen eingenommen werden. Doch der Befehlshaber der Kampfgruppe, Oberstleutnant Leonard Engeman, entschied sich spontan und ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten zu einer anderen Variante: dem Angriff auf die Brücke, mit Panzern und Infanterie.
Als die ersten amerikanischen Soldaten die westliche Zufahrt der Brücke erreichten, lösten die Remagener Verteidiger eine "kleine Vorsprengung" aus, wie es in Berichten heißt. Damit sollte verhindert werden, dass Panzer über die Brücke rollten; doch das Loch war kein großes Hindernis.
Um 15.20 Uhr schließlich ordnete Major Scheller die Hauptsprengung an. Ein Offizier der Pioniere drehte am Zünder - einmal, zweimal, dreimal. Nichts geschah.
Zwei Freiwillige aktivierten daraufhin unter Lebensgefahr und in Windeseile die sogenannte Schnellladung, deren Zündschnüre unterhalb der Brücke hingen. Dann erfolgte, gegen 15.40 Uhr, die Deto-
nation: orangefarbene Blitze, ein dumpfer Riesenknall, der im Rheintal widerhallte, Gebirge von Dampf und Qualm.
An der Spitze der Angreifer lag mit seiner Alpha-Kompanie der Leutnant Karl H. Timmermann, Sohn deutschstämmiger Eltern. Er schrie, so beschreibt es der Autor Rolf Palm: "Sie ist weg! Wir brauchen nicht mehr rüber!" Doch als die Schwaden sich verzogen, konnte es jeder sehen: Die Brücke von Remagen stand da wie unversehrt, der Sprengstoff hatte nur ausgereicht, ihren Mittelbogen kurz anzuheben. Dann war er wieder zurückgefallen in die ursprüngliche Lage.
Jeweils zu zweit rückten die Angreifer vor, und Timmermann war schließlich der erste amerikanische Offizier, der die östliche Rheinseite betrat - gegen 16 Uhr an jenem 7. März. Binnen weniger Stunden erreichte die Kunde vom geglückten Handstreich die Kommandohierarchie der Amerikaner bis hoch zu Eisenhower, der im französischen Reims residierte.
"Ike" saß gerade beim Abendessen, als ihm sein General Omar Bradley telefonisch Bericht erstattete. "Als ich hörte, dass wir eine Rheinbrücke erobert hatten", notierte Eisenhower später, "konnte ich meinen Ohren kaum trauen. Bradley und ich hatten eine solche Entwicklung als eine entfernte Möglichkeit diskutiert, aber niemals als eine wohlfundierte Hoffnung."
Sofort ordnete er an, dass alle verfügbaren Divisionen - es waren fünf, weil Köln wider Erwarten schnell erobert war - am Ostufer des Rheins einen Brückenkopf errichten sollten. 24 Stunden nach der Attacke standen bereits 8000 Soldaten auf der anderen Rheinseite; knapp eine Woche später 25 000.
Timmermanns Bravourstück hatte nicht nur im Hauptquartier der Alliierten für Hektik gesorgt - auch an der New Yorker Börse. Als die Nachricht dort gegen 14 Uhr Ortszeit eintraf, setzten Panikverkäufe ein. Viele glaubten, das Kriegsende stehe unmittelbar bevor, und kaum jemand wollte wohl noch länger auf Kriegsproduktionen setzen. "Bis Börsenschluss", bilanziert Palm, seien "über zwei Millionen Aktien verschleudert" worden, "bei Wertverlusten bis zu 24 Prozent".
Hitler, der den deutschen Strom für eine sichere Grenze hielt ("Hier, über den Rhein, kann keiner überlaufen. Das ist das Wunderbare"), tobte in seinem Bunker unter der Berliner Reichskanzlei. Erst feuerte er den Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, und ersetzte ihn durch Albert Kesselring, der - von gleichem Rang - bisher höchster Soldat in Italien war. Dann berief er persönlich ein "Fliegendes Standgericht" ein, das die aus seiner Sicht Schuldigen im Fall Remagen schnellstmöglich aburteilen sollte.
Die Blutjustiz der Wehrmacht, die schon immer ein Terrorinstrument war, eskalierte nun völlig. Der dienstälteste Offizier des Standgerichts war gleichzeitig Gerichtsherr, sozusagen die Berufungsinstanz; er leitete die Ermittlungen, führte den Vorsitz, bestätigte das Urteil und entschied über dessen Vollstreckung. Ein Gnadenrecht gab es nicht.
Dass Schuldsprüche längst feststanden, lässt ein Wort Kesselrings im Gespräch mit dem Gerichtsvorsitzenden erkennen. "Remagen", empörte sich der Generalfeldmarschall, sei eine "Riesenschande, die zum Zusammenbruch der gesamten Front führen kann".
Am 13. und 14. März 1945 wurden vier Offiziere zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet, unter ihnen Major Scheller, der die Befehlsgewalt nur für wenige Stunden innehatte. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels schrieb in sein Tagebuch, die Exekutionen seien "Lichtzeichen": "Nur mit solchen Maßnahmen können wir das Reich noch retten" - eine Durchhalteparole der besonderen Art.
Tagelang versuchten Deutschlands Verteidiger vergeblich, die Brücke und zwei mittlerweile von den Amerikanern parallel errichtete Pontonübergänge zu zerstören. Artilleriegeschosse jaulten, Kampfschwimmer wurden eingesetzt, Stukas flogen immer wieder Angriffe, und von Holland aus feuerte eine SS-Einheit mindestens zehn V-2-Raketen ab, die zur Kategorie der sogenannten Wunderwaffen zählten.
Aber die Brücke von Remagen hielt stand. Bis zum 17. März, zehn Tage nach ihrer Eroberung. Da senkte sie sich plötzlich in die Fluten des Rheins. Offenbar war Materialermüdung die Ursache. 28 amerikanische Soldaten wurden dabei in den Tod gerissen.
Remagen blieb auch nach dem Krieg ein Thema, zumindest juristisch. Jahre- lang ermittelte die Staatsanwaltschaft Koblenz gegen die Mitglieder des "Fliegenden Standgerichts" wegen "Verbrechens gegen die Menschlichkeit", 1951 stellte sie das Verfahren mangels "Schuldnachweis" ein. An die Tätigkeit eines Standgerichts seien "angesichts der gebotenen Beschleunigung", so die Begründung, nicht "dieselben Anforderungen" zu stellen "wie an eine normale Gerichtsbarkeit". Dies passte in die Zeit der Schlussstrich-Mentalität.
Major Scheller wurde dennoch rehabilitiert. In einem Wiederaufnahmeverfahren, das seine Witwe beim Landgericht Landshut angestrengt hatte, erging im Februar 1967 die Entscheidung: Freispruch. GEORG BÖNISCH