Die Leiden der Eltern
Der Zwang überkam Viktor Eisenhut, 48, jeden Mittag. Gleich nach der Schule räuberte der Berufsschullehrer den Kühlschrank, als ob er tagelang nichts gegessen hätte. Wahllos stopfte er Wurst, Käse und Süßigkeiten in sich hinein, bis er spürte, "daß der Druck im Bauch aufhört". Innerhalb weniger Monate nahm Eisenhut über 20 Kilogramm zu, schließlich glich er laut eigener Einschätzung "trotz meiner Körpergröße von 1,90 Metern einer Tonne".
Die Ehefrau, die sich anfangs an den Exzessen beteiligt hatte, fiel zur gleichen Zeit in tiefe Niedergeschlagenheit. Sie flüchtete sich immer häufiger schon am Nachmittag ins Bett und stand erst spät am nächsten Vormittag wieder auf - ohne Kraft und Lust, auch nur irgend etwas zu tun. Sie fühlte sich "einfach wie gelähmt".
Die Eheleute redeten immer seltener miteinander, versuchten, sich aus dem Weg zu gehen. Kam wirklich mal ein Dialog zustande, endete er zumeist mit erregten Wortwechseln und gegenseitigen Vorwürfen. Keiner mochte mehr dem anderen zuhören.
Die Partnerkrise, die fast zur Scheidung führte, hatte eine aktuelle Ursache: Tochter Nina, 17, war heroinsüchtig geworden.
Das Mädchen, bislang der Stolz von Eltern und Großeltern, hatte die Schule verlassen müssen, ihren bisherigen Freundeskreis aufgegeben und sich von zu Hause abgesetzt. Sie trieb sich mit Junkies und Dealern im Frankfurter Bahnhofsviertel herum, immer auf der Suche nach der nächsten Spritze - für die Familie eine Katastrophe, auf die sie nicht vorbereitet war.
Zu den äußeren Folgen, etwa dem Klatsch der Nachbarn, wenn wieder einmal die Polizei vor der Tür stand, kamen innere Konflikte - zermürbendes Grübeln über die Mitverantwortung an der Suchtanfälligkeit der Tochter, das gegenseitige Aufrechnen von Schuld und die quälende Frage: "Warum unser Kind?"
Hatte die "pessimistisch-furchtsame Grundhaltung der Familie", die elterliche "Lebensangst", zur Sucht der Tochter beigetragen, wie der Vater glaubte? War es die "tyrannische Besorgtheit" der Mutter, von der sich Nina durch den Griff zur Droge befreien wollte?
Allein mit diesen Fragen, kapselten sich die Eltern nach außen ab. Wenigstens die anderen sollten nichts merken. "Wir haben unsere Verzweiflung unter Qualen heruntergewürgt", schrieb der Vater in sein Tagebuch. Der Preis für die Verdrängung: psychosomatische Störungen wie chronische Migräne, Magengeschwüre und Herzrhythmusstörungen, schließlich Arbeitsunfähigkeit - ein Familienschicksal, wie es in Westdeutschland Zehntausende gibt.
Denn nur selten sind die Süchtigen von den Folgen der Sucht allein betroffen. Mitgerissen werden fast immer die engsten Angehörigen - Väter, Mütter, Geschwister, Partner. Und oftmals brechen durch die Drogenproblematik mühsam kaschierte Konflikte auf, etwa eine Beziehungskrise der Eltern, über die nie offen gesprochen worden war.
Wie ein Sprengsatz kann Drogensucht die Harmonie in Ehen zerstören und auch die anderen Familienmitglieder seelisch und körperlich ruinieren. "Ich war fast am Ende aller Kraft, voller Verzweiflung und Schmerz. Ich konnte nichts mehr essen und nahm zwölf Pfund ab", schrieb die Mutter einer Heroinabhängigen. Es sei "fast unmenschlich", jeden Tag aufzupassen, "daß einem die Tochter nicht untergeht. Die ganze Familie leidet, Tag und Nacht drehen sich die Gedanken um sie".
Besonders peinigend empfinden Eltern die eigene Ohnmacht, das Gefühl, weder mit Liebe noch mit Strenge das Suchtverhalten beeinflussen zu können. Wenn Großzügigkeit - etwa finanzielle Unterstützung - oder auch Sanktionen wie Taschengeldentzug gleichermaßen wirkungslos bleiben, den Abstinenz-Beteuerungen immer neue Rückfälle folgen, kommt es vor, daß zermürbte Angehörige resignieren.
"Wir sind verzweifelt und hilflos und wissen nicht, wie wir unserem Sohn noch weiter helfen können", klagten Eltern eines süchtigen Schülers gegenüber einer Drogenexpertin, "nie hätten wir gedacht, daß es so werden würde, daß es so etwas gibt."
Als ihre süchtige Tochter Geld für Heroin mit Drohungen zu erpressen suchte ("Sonst gehe ich auf den Strich"), war für eine Mutter aus Hamburg, die jahrelang gegen die Sucht gekämpft hatte, die Grenze überschritten. Sie wollte mitten in der Nacht ins Bahnhofsviertel St. Georg, "um meine Tochter umzubringen und dann mich". Freunden gelang es gerade noch, ihr das Vorhaben auszureden.
Um Angst und Streß auszuschalten, suchen bisweilen auch Angehörige Zuflucht im Drogenrausch. Der Drogentherapeut Jürgen Schaltenbrand von der Frankfurter Jugend- und Suchtberatung, die Verwandte berät und behandelt, diagnostiziert bei Eltern drogenabhängiger Kinder zunehmend "Neigungen zur Selbstzerstörung", die sich in "Alkoholismus und Medikamentenmißbrauch", aber auch in "krankhafter Arbeitssucht" ausdrücken können.
Immer wenn er "das ganze Elend mal vergessen" wollte, flüchtete sich Viktor Eisenhut, der zuvor kaum Alkohol getrunken hatte, in Kneipen seines Wohnviertels und orderte ein Bier nach dem anderen - "mehr, als ich vertragen konnte". Ein hessischer Automanager machte trotz - oder wegen - der Drogensucht seines Sohnes eine steile Berufskarriere: Er arbeitete bis zu 16 Stunden täglich, vernachlässigte Familie und Interessen und fiel selbst in der Drogenberatungsstelle dadurch auf, daß er wenig über seinen kranken Sohn sprach und statt dessen, wie sich ein Sozialarbeiter erinnert, "unentwegt von Leistung, Effizienz und Produktqualität quatschte".
Weil sie "mal mitlachen wollte, wenn alle anderen lachten", trank die Hamburgerin Helga Perlwitz, Mutter von zwei drogenabhängigen Töchtern, bei Treffs mit Freunden ab und zu mal zuviel Wein. Um nachts die Angst zu betäuben und wenigstens stundenweise Schlaf zu finden, schluckte sie "immer mehr Beruhigungspillen" - bis sie merkte: "Mein Gott, du fängst ja an, den Weg deiner Kinder zu gehen."
Auf ihrer Suche nach neuen Wegen fanden Helga Perlwitz und ihr Mann Kontakte zu Eltern anderer Süchtiger, zu Menschen, "die genauso durch die Hölle gingen wie wir". Der Dialog der Leidensgefährten führte zur Gründung eines Elternkreises drogenabhängiger Jugendlicher, eines Vereins, der Eltern süchtiger Kinder dabei helfen soll, nicht ebenfalls den Halt zu verlieren.
In Westdeutschland gibt es mittlerweile rund 100 solcher Notgemeinschaften, Tendenz steigend. Doch obwohl seit Jahren auch eine Zentrale, Sitz Hamm (Bundesverband der Elternkreise drogengefährdeter und drogenabhängiger Jugendlicher), existiert, wendet sich noch immer nur eine Minderheit der Betroffenen an die Selbsthilfeorganisationen.
Hilfe bei Elternkreisen suchen bislang vorwiegend Angehörige bürgerlicher Familien, die ihre Kinder eigentlich gegen die Gefahren der Drogenwelt immun wähnten.
Zumeist sind es Verwandte von Suchtkranken, die nicht mehr allein zurechtkommen, einfach keinen Ausweg mehr finden. In ihrer Verzweiflung überwinden sie die Barriere aus Scham und Angst, hinter der die meisten Angehörigen Drogenabhängiger die vermeintliche Schande über die Sucht eines Familienmitglieds zu verbergen suchen - vor Kollegen, Nachbarn; Freunden und manchmal sogar den engsten Verwandten.
In Einzel- und Gruppensitzungen können sie erstmals mit Menschen über ihre Probleme reden, die Ähnliches erfahren haben wie sie selbst - für viele ein Notventil, um den Druck weiter aushalten zu können.
"Zu lange beißt man die Zähne aufeinander, verleugnet seinen Schmerz", berichtet Lehrer Eisenhut, der sich 1984 mit seiner Frau einem Frankfurter Elternkreis anschloß, zu einem Zeitpunkt, "als wir die Fassade nicht mehr aufrechterhalten konnten".
Wenn sich die Angehörigen von Frankfurter Drogensüchtigen dienstags in einem städtischen Freizeitheim treffen, gibt es keine Tabus. Da ist die alleinerziehende Mutter, die stockend von ihrem heroinabhängigen Sohn berichtet, der meist zu Hause im Bett liegt und immer dann rabiat Geld fordert, wenn ihm der Stoff ausgeht. Eine andere Mutter fragt: "Wie lange wollen Sie das noch mitmachen?"
Da ist der Vater, der schon seit Jahren zum Elternkreis gehört und kürzlich erfahren hat, daß sich seine süchtige Tochter mit dem Aids-Virus infiziert hat. "Ich habe sie doch immer gewarnt", sagt er resignierend und schüttelt hilflos den Kopf - die Zuhörer schweigen betreten. Morgen könnte sie der gleiche Schicksalsschlag treffen.
Es gibt auch Erfreuliches. Stolz erzählen Eltern, daß ihr einziger Sohn nach erfolgreich abgeschlossener Therapie in Amerika studieren will - den Eltern zwar viel zu weit weg, aber, so der Vater: "Hauptsache, nicht mehr süchtig."
Auch nachts, wenn verzweifelte Angehörige die Realität des Drogenelends nicht mehr ertragen können, sind Mitarbeiter von Elternhilfen gesprächsbereit. Helga Perlwitz, seit Jahren Vorsitzende des Hamburger Elternkreises, mußte kürzlich um drei Uhr früh telephonisch einen Vater beruhigen, der seine abhängige Tochter aus einer Drogen-Disco holen wollte und nach einer Schlägerei mit anderen Süchtigen vorübergehend von der Polizei festgenommen worden war. Das Mädchen hatte ihn weggestoßen und sich mit ihren Freunden von der Szene gegen den Vater verbündet.
Nächtliche Hilferufe dieser Art, so Helga Perlwitz, "gibt es fast jede Woche". Sie habe dabei mitunter Angst, "ob ich auch die richtigen Worte finde", vor allem, "wenn es womöglich um Leben und Tod geht". Der Vater etwa habe nach seiner Freilassung "vor einer Kurzschlußhandlung" gestanden. Durch Zureden sei es ihr gelungen, den zutiefst gedemütigten Mann zu bewegen, seine unter Entzugskrämpfen zitternde Tochter in ein Krankenhaus zu bringen und sich um einen Therapieplatz für das Mädchen zu bemühen.
Den Austausch mit ebenfalls Betroffenen empfinden viele Eltern wie eine Befreiung. "Wieder schluchzen und weinen können, seinen versteinerten Gefühlen Raum geben können unter den anderen Weggefährtend - das war für Viktor Eisenhut die erste Möglichkeit, sich aus der Erstarrung des Schmerzes zu lösen, und Voraussetzung dafür, gemeinsam mit anderen Erziehern in einer Elterntherapie, wie sie in Frankfurt parallel zum Elternkreis angeboten wird, die eigene Rolle bei der Drogensucht der Kinder erkennen zu lernen.
Dabei geht es nicht um plumpe Schuldzuweisung, wie sie von jungen Drogenberatern, die sich mit ihren Klienten identifizieren, gelegentlich vorschnell vorgenommen wird. Die Eltern sollen vielmehr selbst die oft als bitter empfundene Tatsache wahrnehmen, daß die Drogenabhängigkeit eines Familienmitglieds selten losgelöst von der Familie gesehen werden kann.
Süchtige seien "längst nicht so beziehungslos", wie sie oft in der Öffentlichkeit dargestellt würden, sagt der Frankfurter Drogentherapeut Schaltenbrand. Vier von fünf Süchtigen hätten zumindest telephonischen Kontakt zu ihren Eltern, viele wohnten noch zu Hause. Die Herkunftsfamilie sei fast immer "stark in die Drogenabhängigkeit verwoben".
Schaltenbrand, der seit 15 Jahren Angehörige Abhängiger therapiert, hat als typisches Verhaltensmerkmal von Familien mit Drogenabhängigen "süchtige Beziehungen" ausgemacht, die sich schon lange vor Ausbruch der Suchtkrankheit bemerkbar gemacht haben - etwa wenn Mütter ihre kränkelnden Kinder durch zwanghafte Ängstlichkeit und Überversorgung an sich binden und von sich abhängig machen oder wenn Kinder inkonsequentes Erziehungsverhalten zerstrittener Eltern zu ihrem Vorteil ausnutzen und damit letztlich abhängig vom Elternkonflikt werden.
In solchen Familien fühlten sich die einzelnen Mitglieder nicht als frei miteinander kooperierende Partner, sondern als jeweils von den anderen bestimmt: Jeder ist von jedem abhängig.
Das Ausmaß der Verstrickung zeige sich oft erst in der akuten Situation - etwa wenn Angehörige Rauschgift für ihre abhängigen Verwandten besorgten oder "kriminelle Missetaten decken oder ausbügeln", sich mithin zu Komplicen der Sucht machen ließen.
Oder wenn mit Ausbruch der Drogenabhängigkeit Geschwister eines Süchtigen "geradezu zwanghaft gesund und erfolgreich" werden, wenn Eltern plötzlich auf alles verzichten, "was das gemeinsame Leben bis dahin lebenswert machte", die Urlaubsreise ebenso wie das Feiern mit Freunden.
"Wie ein von der Schlange hypnotisiertes Kaninchen starrt die Familie auf den Drogenabhängigen", hat Schaltenbrand bei vielen Gesprächen festgestellt. Die Suchtkrankheit überdecke alle anderen Konflikte, der Süchtige übernehme die Rolle des Sündenbocks. Ihm würden beispielsweise Depressionen oder psychosomatische Krankheiten der anderen Angehörigen angelastet, zum Schluß bekomme er "die Verantwortung für alle Familienprobleme" aufgebürdet.
In der Therapie sollen Väter, Mütter Lind Geschwister statt dessen lernen, auch wieder ihr eigenes Leben zu leben, unabhängig vom Abhängigen: wieder ins Theater zu gehen, einen Kursus zu besuchen, Freunde einzuladen. Dem Suchtkranken sollen sie, statt zu resignieren, auf dein Umweg über die eigene Lebensqualität signalisieren, daß - auch wenn er sich nicht ändern kann oder will - Veränderungen in der Familie möglich sind.
Mütter und Väter "sollten oft in den Spiegel sehen", rät Else Meyer, früher selbst betroffene Mutter, in ihrem Buch "Eltern im Drogenproblem" (siehe Kasten). Und sie sollten sich kritisch fragen, ob ihr Anblick "Alternative oder ein Grund mehr" sei, zum Suchtmittel zu greifen.
Doch der Anspruch, trotz Drogenalltag Alternativen zu entwickeln, überfordert viele. Es grenze an "paradoxes Verhalten", so Vater Eisenhut, plötzlich lebensfroh und optimistisch zu sein, obwohl doch "jederzeit der Tod der Tochter eintreten kann". Um seinem Kind Zuversicht zu vermitteln, habe er sich jedoch geschworen: "Du setzt auf Sieg, auf Überwindung des lebenslänglich praktizierten Pessimismus."
Propagiert und praktiziert wird solcher Zweckoptimismus, der bisweilen auch zwanghafte Züge tragen kann, bei den Aussprachen im Elternverein - und hinterher. Beim Treff nach der offiziellen Gesprächsrunde, der in einem nahe gelegenen Lokal stattfindet, wird etwa bei der Frankfurter Selbsthilfegruppe "heitere Gelöstheit, ja Fröhlichkeit" (Eisenhut) demonstriert. Der Kellner hat die munteren Teilnehmer, die zweimal im Monat mehrere Tische reservieren, als "Mitglieder eines Gesangvereins" eingeschätzt.
Doch Selbsthilfearbeit birgt auch Risiken. So besteht die Gefahr, daß langjährige Mitglieder versuchen, die Gruppe zu dominieren, sich aufgrund ihrer Erfahrungen gegenüber Neulingen als Hobby-Therapeuten aufspielen und vorschnell Ratschläge erteilen, wo Zuhören angebracht wäre. Als Grundsatz für Elternkreis-Arbeit gilt jedoch, wie es in einem Arbeitspapier heißt, "daß man nur sagen kann, wie es bei einem selbst war und ist, nicht aber, wie andere es machen sollen".
Auch kann vorkommen, daß Eltern - womöglich unbewußt - die Sucht von Kindern benutzen, um eigenes Geltungsbedürfnis auszuleben, um ihr Leid vor anderen in Szene zu setzen. "Man ist ja nicht nur auf panische Angst reduziert", räumt Eisenhut ein, sondern spüre mitunter auch "den Reiz einer Dramatik, wie er sich in einem Durchschnittsleben fast nie einstellt".
Als Leitfaden für Elternarbeit dient häufig Else Meyers Drogenbuch, eine Art Bibel für Angehörige Abhängiger. In "zehn Geboten für betroffene Eltern" verkündet die Autorin, die kürzlich in der ARD-Sendung "Pro und Contra" dogmatisch gegen die Haschisch-Legalisierung argumentierte, neben Abgrenzungstheorien ("Nehmen Sie dem Abhängigen nicht das Geringste ab zur Lebensbewältigung") vor allein Durchhalteparolen, die eine positive Grundhaltung fördern sollen: "Verlieren Sie nicht die Hoffnung."
Ausgestattet mit wachsendem Selbstbewußtsein, wollen sich Eltern von Drogenopfern nicht länger wie Aussätzige verkriechen. "Scham- und Schuldgefühle trieben uns früher in die Isolation", erinnert sich die Hamburgerin Helga Perlwitz, deren Töchter nach Therapien drogenfrei leben. Das Abkapseln sei auch das Werk von Drogenberatern gewesen, die in den Eltern "die eigentlich Schuldigen" am Drama der gestrandeten Kinder gesehen hätten.
Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen professionellen Helfern - Therapeuten, Sozialarbeitern, Beamten - und den Angehörigen von Abhängigen häufig heikel. Suchtexperte Schaltenbrand hat eine Tendenz zu "Gegnerschaft und Konkurrenz" beobachtet, die in anderen Ländern "undenkbar" sei. In den USA etwa könne man sich kaum vorstellen, "daß in Deutschland Drogenarbeit ohne Familienangehörige für möglich gehalten und praktiziert wird". Eltern und Familie, so Schaltenbrand, könnten "gar nicht früh genug" einbezogen werden.
Der praktischen Zusammenarbeit steht oft die Theorie entgegen. In einigen Therapieeinrichtungen, deren Mitarbeiter sich noch immer die "Brechung der Suchtpersönlichkeit" zum Ziel gesetzt haben und mittels einer Art Gehirnwäsche einen neuen, abstinent lebenden Menschen aufbauen wollen, der mit seiner Vergangenheit total bricht, ist für die Mitarbeit von Angehörigen kein Raum.
"Der Kontakt zum alten Leben wird jäh unterbrochen", beschreibt der eheinalige West-Berliner Drogenbeauftragte Wolfgang Heckmann die Praxis in therapeutischen Wohngemeinschaften, Familie, Freunde und Bezugspersonen würden zunächst aus dem Gesichtskreis der Patienten "verschwinden".
Zwar sind rigide Entzugsmethoden, die ihren Ursprung in den sechziger Jahren haben, wenig erfolgreich: Über 90 Prozent der Suchtkranken werden rückfällig oder halten nicht durch. Doch noch immer machen einzelne Therapieeinrichtungen den - zumindest vorübergehenden - Abbruch aller sozialen Kontakte zur Aufnahmevoraussetzung. Bei anderen wächst jedoch die Bereitschaft, Angehörige in die Therapiearbeit miteinzubeziehen, beispielsweise durch Einladung zu Elternwochen.
"Geben Sie der Familie als Helfer endlich eine Chance", appelliert Drogenbuch-Autorin Meyer an Therapeuten und Drogenberater. Nur im Miteinander, unter Nutzung der "Vielfältigkeit beruflicher und menschlicher Qualifikationen und Bindungen", könnten Süchtige zur Umkehr bewogen werden.
Ironie dabei: In dem Urteil darüber, wie Suchtkranke zu kurieren seien, gibt es zwischen den Elternvereinen und vielen Drogenberatern, die in stationären Therapieeinrichtungen arbeiten, mehr Übereinstimmung als Differenzen. Weitgehend einig sind sich beide Fraktionen in der Ablehnung von Methadon -Programmen. Helga Perlwitz etwa, auch stellvertretende Bundesvorsitzende der Elternhilfe, propagiert bei Vorträgen und in Aufsätzen für Fachzeitschriften unermüdlich "grundsätzliche Bedenken und Vorbehalte" gegen den Ersatzstoff.
Ungeachtet der Gefahren durch Aids und Beschaffungskriminalität, die durch Methadon-Abgabe zumindest abgemildert werden könnten, setzt die konservative Elternlobby - wiederum in Übereinstimmung mit konservativen Experten - einseitig auf die Abstinenztherapie als sogenannten Königsweg zum Drogenentzug.
Dieses Festhalten an traditionellen Konzepten macht die offizielle Elternarbeit, die durch ihr Dialogangebot für ratlose Angehörige so unerhört wichtig ist, angreifbar. Umstritten ist vor allem die "Leidensdruck"-Philosophie, die darauf basiert, süchtige Kinder notfalls vor die Tür zu setzen, damit sie - dem erbarmungslosen Drogenalltag ausgeliefert - eher bereit sind, sich einer Therapie zu unterziehen.
Jede Hilfestellung, jedes Übernachtungsangebot, so die gnadenlose Botschaft, fördere die Fortsetzung des Drogenkonsums, jede aus Mitleid spendierte Mark werde unweigerlich in Rauschgift umgesetzt. Veränderungen seien erst möglich, glaubt beispielsweise Helga Perlwitz, "wenn sich zu dem Leiden das Leidensbewußtsein einstellt".
Strikte Abgrenzung garantiert freilich nicht, daß sich Suchtkranke tatsächlich behandeln lassen. Die harte Methode ist risikoreich: Immer wieder kommt es vor, daß sich total isoliert fühlende Junkies, die keinen Ausweg mehr wissen, eine Überdosis setzen oder durch ihre Lebensumstände so geschwächt sind, daß sie an einer Spritze sterben.
Und für Eltern bedeutet konsequente Abschottung, wie sie die Leidensdruck -Theoretiker fordern, eine fast unmenschliche Überwindung. Als "Gang durch die Hölle" bezeichnet beispielsweise Eisenhut den Rausschmiß seiner Tochter, den er vor Jahren selbst veranlaßt hatte. Eisenhut: "Draußen fiel Nina in der Gosse umher, zu Hause bangten wir um ihr Leben."
So rigoros würde der Lehrer, dessen Tochter letztes Jahr abstinent blieb, nach einem Rückfall aber wieder in stationärer Therapie ist, nicht noch einmal vorgehen: "Wegschicken auf die brutale Szene, das brächte ich nicht mehr fertig." Doch eine Alternative weiß der Lehrer auch nicht: "Hoffentlich kommen wir nicht mehr in diese Situation."
Weil es keine Patentrezepte zur Suchtbekämpfung gibt, konzentriert sich die offizielle Drogenarbeit immer mehr auf Vorbeugung. Die neue Zauberformel heißt Prävention. Aufgeschreckt durch Berichte über Rauschgifthändler auf den Schulhöfen ("Bild": "Wie Dealer unsere Kinder süchtig machen") und immer jüngere Drogenopfer, decken Behörden und Privatorganisationen Schulen und Familien mit einer Flut von Aufklärungsbroschüren, Kassetten, Videofilmen und Heftchen ein.
Paradox: In den gutgemeinten Ratgebern und beim Drogenunterricht in Schulen werden die einzelne Suchtstoffe, ihre Wirkungsweisen und Langzeitfolgen meist ausführlichst beschrieben - damit wird jedoch häufig das Gegenteil der erwünschten Wirkung erzielt. Denn die detaillierten Schilderungen, auch wenn sie mit schrillen Warnungen gespickt sind, schrecken längst nicht nur ab.
Die Bilder des Drogenfilms "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" etwa, die Millionen Kinobesucher und Fernsehzuschauer entsetzten, übten auf manche in der Risikogruppe der 14- bis 18jährigen eine gefährliche Faszination aus. Bei einen Befragung von Schülern, die der Hamburger Drogenberater
Hermann Schlömer für die Kölner Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vornahm, stellte sich heraus, daß nach dem Besuch des Films bei den meisten Schülern die Bereitschaft gestiegen war, Drogen zu probieren.
Das Suchtproblem, rät der Berliner Rechtsmediziner Professor Friedrich Bschor, müsse in der Schule "eher beiläufig in den Unterricht eingebettet" werden - etwa wenn die Bewältigung von Alltagskonflikten auf dem Stundenplan stehe. Alles andere, so Bschor, "fördert nur die Neugier".
Drogenberater Schlömer glaubt, daß "die beste Drogenvorbeugung nichts mit Drogen zu tun hat". Wichtiger als Hochglanzbroschüren seien mehr Kinderspielplätze, mehr sinnvolle Freizeitangebote für Schüler und Heranwachsende und vor allem größere Chancen für arbeitslose Jugendliche. Wer "Bock auf Leben" habe, so wie es sich in der Realität darstelle, brauche sich nicht zu betäuben.
Doch totale Abstinenz, wie sie als Idealziel offiziell gefordert wird, ist in einer Gesellschaft, in der mit aggressiver Werbung der schnelle Genuß propagiert wird, als Erziehungsziel wenig realistisch. In seinem "Plädoyer für eine gemeine Drogenkultur" hat der Sozialpädagoge Christian Marzahn, ein Außenseiter unter den Rauschgiftexperten, die Erziehung zu einem "kontrollierten Umgang" mit Drogen angeregt, zu sachlicher Aufklärung jenseits von "dämonisierender Anbetung und Verteufelung" aufgerufen.
Wenn Drogengebrauch nicht sozial ausgegrenzt, sondern "Bestandteil einer Kultur" sei, bestehe wenig Gefahr, daß die Konsumenten zu süchtigen Opfern würden. Als Beispiele nennt Marzahn Trinkrituale bei Griechen und Römern, die "Kunst des Opiumrauchens" im Orient und japanische Teezeremonien. In Regeln und Riten eingebetteter Konsum gewähre sicheren Genuß, gestatte einen "Grenzgang zwischen Zivilisation und Wildnis, nicht Auswanderung". Sucht dagegen sei der zum Scheitern verurteilte Versuch, Rausch und Ekstase "auf Dauer zu stellen", den außergewöhnlichen Zustand zu fixieren. "Music comes and goes", singe die schöne Sopranistin in dem Kinofilm "Diva", "don't try to keep it."
Eltern, die sich heute immer früher der Drogenproblematik stellen müssen, kommen jedoch schon in Verlegenheit, wenn sie ihren Kindern vermitteln sollen, warum für den Genuß der Suchtstoffe Alkohol und Nikotin an jeder Litfaßsäule geworben werden darf, während Haschischbesitz bestraft wird. Und sie werden unglaubwürdig, wenn sie
selbst regelmäßig rauchen und trinken, aber mit Unverständnis und Sanktionen auf den Konsum illegaler Drogen reagieren.
Weil sie, streßgeplagt und in vielerlei Alltagszwänge verstrickt, nicht suchtfrei leben können, sind viele Eltern mit ihrer Vorbildfunktion heillos überfordert. Süchtiges Verhalten, behaupten Experten wie der Hamburger Psychologe Dirk Schwoon, werde in vielen Fällen von Erwachsenen abgeguckt. Bei rund 30 Prozent der Süchtigen hätten die Eltern Alkohol- oder Medikamentenprobleme.
Suchtstrukturen offenbaren sich aber nicht nur durch Drogeneinnahme. Auch zwanghafter Fernsehkonsum oder regelmäßige Anfälle von Kaufrausch signalisieren Abhängigkeit und werden häufig von Jugendlichen kopiert. Doch selbst wenn Eltern alles zu vermeiden trachten, was nach ihrer Überzeugung zu Drogenkonsum animieren könnte, werden Sohn oder Tochter womöglich abhängig.
"Wünschenswertes Elternverhalten", urteilt Drogentherapeut Schaltenbrand, sei nicht allein durch "abstrakte Aufklärung" zu erzielen. Erziehung werde "aus dem Bauch" gemacht, auf der Basis von Familientraditionen und der persönlichen Entwicklung von Vater und Mutter. Weil die Generationsabfolge aller theoretischen Wissensvermittlung zum Trotz "gleichsam naturwüchsig" verlaufe, seien Erziehungsversäumnisse unvermeidbar - wichtig sei nur, daß "Fehler nicht immer weiter gemacht werden".
Ohne fremde Hilfe, so Schaltenbrand, sei es für Eltern jedoch sehr schwer, ihr Verhalten gegenüber süchtigen Kindern zu verändern. Deshalb müsse ihnen verstärkt durch Elternkreisarbeit und Therapieangebote geholfen werden. Voraussetzung sei allerdings, daß sie bereit sind, sich helfen zu lassen. Und: "Sie müssen sich auch selbst helfen."
Als "tolle Entwicklung, echt Klasse" hat etwa Nina Eisenhut die neuen Aktivitäten von Vater und Mutter empfunden. Aus einem ewig uneinigen Paar, dessen Alltag von Streitereien und "schlimmen Nervenzusammenbrüchen" gekennzeichnet gewesen sei, habe sich so etwas wie eine intakte Lebensgemeinschaft entwickelt. Statt sich wie früher zu Hause zu verkriechen, seien die Eltern plötzlich "unternehmungslustig wie nie zuvor".
Tatsächlich hat das Lehrerehepaar über den Elternkreis viele Kontakte geknüpft, neue Freunde kennengelernt. Bei privaten Treffen kommt es vor, daß nicht über Suchtprobleme oder das Schicksal der Kinder geredet wird, sondern über eigene Hobbys und gemeinsame Interessen. Viele Väter und Mütter kommen auch dann noch zu den Elternkreisabenden, wenn ihre Kinder schon seit Jahren wieder drogenfrei leben.
Nina fragt sich indessen schaudernd, ob ihr das eigene Unterbewußtsein womöglich einen Streich gespielt hat, ob sie etwa süchtig geworden ist, "um meine Eltern zusammenzuschweißen" - um etwas zu erzwingen, das sie sich schon als Kind gewünscht hat.
"Manchmal habe ich schon gedacht", gesteht sie, "daß ich dadurch, daß ich halt gedrückt hab', meinen Eltern zum erstenmal einen gemeinsamen Lebensinhalt gegeben habe."
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Jugendliche Fixerin: "Sonst gehe ich auf den Strich"
Elternkreisvorsitzende Perlwitz
"Mitlachen, wenn andere lachen"
Drogenberater Schlömer
Plädoyer für "Bock auf Leben"
Suchttherapeut Schaltenbrand
"Der Süchtige wird Sündenbock"
Suchtfinanzierung durch Straßenstrich: "Die Tochter umbringen und dann mich"
Buchautorin Meyer*: "Geben Sie der Familie eine Chance"
* Bei einer TV-Diskussion am 15. Dezember in Stuttgart.
Jugendliche Haschischraucher: "Grenzgang zwischen Zivilisation und Wildnis"
Gemeinsamer Alkoholkonsum*: Als Vorbilder nicht glaubwürdig
* "Lüttje Lage"-Trinken in Hannover.
Heroinhandel in Hamburg: "Neigungen zur Selbstzerstörung"
Rauschgifttoter in Frankfurt: "Zu Hause bangen wir um das Leben"