V. FAMILIE IM WANDEL Mythos Familie
Planert, 42, ist Dozentin für Neuere Geschichte an der Eberhard Karls Universität in Tübingen.
So viel Familie war nie. Super-Nannys auf allen Kanälen, Hollywood-Größen im Adoptionsrausch. Dazu Politiker, die vom gefühlvoll-stabilen Familienidyll im Eigenheim schwärmen - von einem als klassisch empfundenen Modell, das angeblich auch noch von den Weihen historischer Tradition geadelt ist.
Doch die Sache mit der heilen Familie hat einen Haken: Auf reale Vorbilder kann sich dieses Ideal nur teilweise berufen, denn statt Großfamilien und Ehen von langer Dauer dominierten in der europäischen Geschichte Patchwork-Verbindungen und Kleinfamilien, ledige Mütter und Singles.
Mutterliebe erwies sich als ebenso wandelbar wie das Verhältnis der Geschlechter, Familien gründeten weniger auf Emotionen denn auf materiellen Interessen. Lediglich das Krisenempfinden war von Dauer. Schon vor dem Ersten Weltkrieg beherrschte der Geburtenrückgang die Schlagzeilen. Hochrechnungen aus der Zwischenkriegszeit prophezeiten den Deutschen, bereits 1975 ein "überaltertes Volk" mit "greisenhaften Zügen" zu sein.
Das Private ist politisch - nirgendwo gilt die kluge Erkenntnis der 68er mehr als im scheinbar so intimen Kreis der Familie. Weit davon entfernt, eine "natürliche" biologische Tatsache zu sein, variiert die Beziehung zwischen Vater, Mutter, Kindern und Verwandten je nach Kulturkreis und historischer Situation.
In Europa unternahmen Kirche und Staat schon früh den Versuch, ihren Einfluss auf die Familie auszudehnen. Dienten Heiraten ursprünglich vor allem dazu, die Verbindung zweier Familienclans zu festigen, so erhob die katholische Kirche die Ehe 1274 zu einem der sieben Sakramente. Jetzt setzte die Hochzeit "eheliche Liebe" und - anders als früher - die Zustimmung der Beteiligten voraus. Damit beschnitt die Kirche die Machtpolitik von Familienverbänden und Grundbesitzern und verwandelte die Ehe mit Gottes Segen in eine geheiligte, zwei Personen auf ewig verbindende Beziehung - nicht ohne sich gleichzeitig die Aufsicht über das Familienleben zu sichern. Die westliche Vorstellung einer monogamen, auf Zuneigung beruhenden Verbindung von Mann und Frau zu einer Kernfamilie lässt sich also bis ins Mittelalter zurückverfolgen.
Bis zum Beginn der Neuzeit in den Jahren um 1500 hatte sich die Familie dann als Ideal christlicher Lebensführung durchgesetzt. Für Martin Luther, der wie alle Reformatoren die Priesterschaft aller Gläubigen betonte, war das Haus der wichtigste Ort christlicher Erziehung. Ihm galt die Familie als wahre Kirche, in der Vater und Mutter als "Apostel, Bischöfe, Pfarrer" ihren Kindern "das Evangelium kundmachen".
Mit dieser spirituellen Aufwertung avancierte die Familie zum Modell der christlichen Gesellschaft und zur Miniaturausgabe des wohlregierten Staates. Gott habe, lehrte Luther, die Eltern zum Oberhaupt über die Kinder berufen. Jede Auflehnung gegen die väterliche Autorität kam damit einem Ungehorsam gegen Gottes Ordnung gleich. Dasselbe galt für das Gottesgnadentum der Fürsten, die zunehmend in die Rolle treusorgender Landesväter schlüpften.
Das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 machte es den Eltern zur Aufgabe, "ihre Kinder zu künftigen brauchbaren Mitgliedern des Staates, in einer nützlichen Wissenschaft, Kunst oder Gewerbe vorzubereiten". Der Hausherr hatte für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Im Gegenzug sprach ihm das Gesetz weitgehende Autoritätsbefugnisse zu, die auch das Züchtigungsrecht gegenüber dem Hauspersonal umfassten. Ein funktionierendes Polizeiwesen gab es noch nicht, und so lag dem Staat daran, die hausväterliche Gewalt anstelle der Obrigkeit als Ordnungsmacht einzusetzen.
In den Familien waren Todesfälle unter Säuglingen und Kleinkindern extrem häufig. Fast ein Drittel aller Neugeborenen starb im ersten Lebensjahr, weitere 20 Prozent erlebten den fünften Geburtstag nicht. Je nach ökonomischer Lage, Familiensituation und emotionaler Bindung reichte die Reaktion der Angehörigen von tiefer Trauer über Gleichgültigkeit bis zu offenkundiger Erleichterung.
Während Martin Luther beim Tod seiner Tochter Magdalena in unstillbares "Schluchzen und Seufzen" ausbrach, konnte sich Michel de Montaigne nicht einmal erinnern, wie viele Kinder ihm der Tod entrissen hatte: "Ich habe zwei oder drei Kinder im Säuglingsalter verloren", notierte der wohl berühmteste französische Moralphilosoph des 16. Jahrhunderts, "nicht ohne Bedauern, aber doch ohne Verdruss."
Verarmte Arbeiterinnen dankten ihrem Schicksal manchmal sogar, wenn der Säuglingstod sie davor bewahrte, eine große Kinderschar aufziehen zu müssen. Zwei oder drei Kinder durchzubringen war für die überforderten Frauen schwierig genug.
Solange der Glaube das Denken bestimmte, konnte man sich über den Tod der Kleinkinder mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits trösten. Findige Produzenten hatten als Wandschmuck gedruckte Bilderbögen mit Engelsfiguren und frommen Sprüchen erdacht, in die man nur noch das Geburts- und Sterbedatum des jeweiligen Kindes einzutragen brauchte. Die Kindersterblichkeit blieb bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hoch genug, um diesem Massenprodukt ausreichenden Absatz zu sichern. Noch vor hundert Jahren überstanden zum Beispiel in Bayern etwa 25 Prozent aller Babys die kritischen ersten Monate nicht.
Komplikationen bei der Geburt und Kindbettfieber machten die Schwangerschaft auch für Mütter zu einem riskanten Unterfangen. Zwischen vier und zehn Prozent der Ehefrauen starben im Wochenbett. Andere Todesursachen eingerechnet, mussten im 19. Jahrhundert die Kinder aus jeder dritten Ehe mit dem Verlust eines Elternteils leben - eine Größenordnung, die dem Anteil heutiger Scheidungswaisen entspricht.
Während Witwen oder geschiedene Frauen ihre Kinder häufig allein großziehen mussten, hatten Männer schon damals bessere Chancen, sich erneut zu verheiraten. Hier haben die vielen Märchen von der bösen Stiefmutter und den neidischen Stiefgeschwistern ihren realen Hintergrund.
Patchwork-Verbindungen und Alleinerziehende machten daher auch in der Vergangenheit einen beträchtlichen Teil der Familien aus. Der Anteil unehelicher Kinder war mit 10 bis 20 Prozent schon erstaunlich hoch, heute sind es in Deutschland 29 Prozent. Hintergrund damals war nicht zuletzt der weltweit einzigartige Umstand, dass man in Westeuropa traditionell spät - meist mit Mitte, Ende zwanzig, manchmal auch erst in den Dreißigern - vor den Traualtar trat. Dazu trugen lange Lehr- und Wanderjahre im Handwerk ebenso bei wie die zunehmende Ausbildungsdauer im Bürgertum. Wenn Akademiker - wie etwa im wilhelminischen Deutschland - nach dem Studium endlos auf einträgliche Stellungen warten mussten, war es keine Seltenheit, dass sie erst mit vierzig in den Ehestand traten.
Hinzu kamen zahlreiche Heiratsbeschränkungen, mit denen Städte und Dörfer versuchten, die Zahl der Eheschließungen in den Unterschichten zu verringern. Städtischen Dienstboten und ländlichem Gesinde war die Eheschließung zumeist ohnehin verwehrt, und viele Tagelöhner verdienten so wenig, dass an eine Familiengründung nicht zu denken war.
Auch die nachgeborenen Sprösslinge der Adelsgeschlechter, jüngere Geschwister aus Bauerngütern, die von der Erbfolge ausgeschlossen waren, und Mädchen, für die ihre Familien keine ausreichende Mitgift aufzubringen vermochten, durften sich oft nicht verheiraten. Sex und Kinder hatten viele Menschen natürlich dennoch.
Und ein weiteres Ideal, die Großfamilie, die in politischen Reden immer wieder beschworen wird, muss ins Reich der Legende verwiesen werden. Entgegen verbreiteten Annahmen war in Mitteleuropa der vielbeschworene Mehrgenerationenhaushalt keineswegs die Regel. Viel häufiger gingen Jung und Alt getrennte Wege, während Gesinde, Lehrlinge oder Gesellen, seltener Geschwister oder entfernte Verwandte den Haushalt ergänzten.
Selbst im ländlich strukturierten Österreich lebte zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert nur jede neunte Familie mit den Großeltern als "Altenteiler" unter einem Dach. Auch die im Drei- oder gar Viergenerationenverband wirtschaftende bäuerliche Familie gab es allenfalls im 20. Jahrhundert, als die Lebenserwartung spürbar gestiegen war und die Hoferben durch sinkende Einkommen und Gesindemangel verstärkt auf Mithilfe der älteren Generation angewiesen waren.
Mutterliebe war unter diesen Umständen ein dehnbarer Begriff. Manche Forscher bezweifeln sogar - vielleicht ein wenig vorschnell - , dass es sie vor dem 18. Jahrhundert überhaupt gegeben habe. Zumindest aber machte man sich in verschiedenen Epochen ganz unterschiedliche Vorstellungen davon.
Das Stillen etwa, das heute jeder Schwangeren als unverzichtbar für eine gute Mutter-Kind-Beziehung angeraten wird, gehörte in früheren Zeiten definitiv nicht dazu. Lange glaubte man, dass die Muttermilch durch Sexualkontakte während der Stillzeit verdorben würde und dem Säugling sogar schaden könnte. Wer immer es sich leisten konnte, holte sich deswegen eine Nähramme ins Haus.
Im Adel und in den sozialen Schichten, die sich an seiner kulturellen Vorrangstellung orientierten, wurde Stillen zudem als animalische Tätigkeit angesehen, die sich für Damen der Gesellschaft nicht schickte, ihre Figur ruinierte und sie an der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten hinderte. Das Berliner Großbürgertum beschäftigte daher bis weit ins 19. Jahrhundert hinein mit Vorliebe Ammen aus dem Spreewald, die beim außerhäuslichen Spaziergang mit den neu aufgekommenen Kinderwagen in ihrer aufsehenerregenden Tracht auch als Statussymbol fungierten. Die Spreewälder Ammen waren ein solcher Inbegriff gehobenen Lebensstils, dass der Hersteller der berühmten Neuruppiner Bilderbogen sogar eine Anziehpuppe mit diesem Motiv vertrieb.
Gerade im Adel war die Distanz zwischen Eltern und Kindern auf eine heute schwer vorstellbare Weise groß. Charles de Talleyrand, der einflussreiche französische Außenminister, wurde unmittelbar nach der Taufe einer Amme übergeben, die ihn mit in einen Pariser Vorort nahm.
Vier Jahre lang erkundigten sich die Eltern nicht ein einziges Mal nach seinem Befinden, von Besuchen ganz zu schweigen. Erst als der "Stammhalter" der Familie starb, holte man den Jungen zurück, nur um ihn umgehend zur Großmutter zu schicken. Seine Mutter sah er in all den Jahren kaum. "Eine direkte elterliche Fürsorge", blickte Talleyrand auf seine Kindheit in der Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, "war damals keine Mode. Nach den damaligen Begriffen würde man eine allzu große Sorgfalt für Pedanterie gehalten und Zärtlichkeit gar lächerlich gefunden haben."
Selbst für Kinder, die zu Hause von Gouvernanten und Hauslehrern erzogen wurden, beschränkte sich der Kontakt zur Mutter auf die tägliche Kurzvisite, bei der man einige Höflichkeitsfloskeln austauschte. Eltern, die Wert auf eine gute und standesgemäße Erziehung legten, überwachten sorgfältig die Lernfortschritte ihrer Jüngsten. Doch es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, selbst dabei den Schulmeister zu geben.
Im europäischen Hochadel wurden Neugeborene, erst recht, wenn es sich dabei um den Kronprinzen und Thronfolger handelte, umgehend in einem separaten Haushalt mit eigenem Hofstaat untergebracht. Katharina die Große, die als Prinzessin von Anhalt-Zerbst an den russischen Zarenhof geheiratet hatte, litt sehr darunter, dass man ihr, wie es die Hofetikette vorschrieb, den Sohn unmittelbar nach der Geburt wegnahm. Erst nach 40 Tagen bekam sie ihn für die kurze Dauer des rituellen Dankgebets zu Gesicht.
Statt der heute für notwendig gehaltenen festen Bezugsperson waren für die Sprösslinge des Hochadels eine Unzahl von Bediensteten zuständig, die schon in frühester Kindheit häufig wechselten. Der "Sonnenkönig" Ludwig XIV. hatte neun verschiedene Ammen, sein Vater acht. Gelegentlich statteten die Eltern ihren Kindern einen Besuch in ihren Gemächern ab. Doch eine tägliche Gewohnheit war das keineswegs. Noch um 1900 wurden auch in Deutschland die Kinder herrschaftlicher Familien bei der Mutter "nur ab und zu zum Handkuss vorgelassen".
Auf der anderen Seite der sozialen Skala hinderten oft Armut und Arbeitsüberlastung die Eltern daran, sich allzu viel um ihre Kinder zu kümmern. Demografische Untersuchungen legen nahe, dass die hohe Säuglingssterblichkeit in Europa nicht Folge eines unabwendbaren Schicksals war, sondern mit einer bewussten oder zwangsläufigen Vernachlässigung der Kinder zusammenhing. In vielen ländlichen Bezirken starben noch am Ende des 19. Jahrhundert in den Sommermonaten fast doppelt so viele Säuglinge wie im Dezember oder Januar.
Auf den Feldern wurde bei der alljährlichen Ernte jede Hand gebraucht, und so gaben Mütter ihr Neugeborenes bald nach der Geburt in die Obhut von halberwachsenen Mägden oder Geschwistern. Statt mit Muttermilch fütterte man die Babys mit Getreidebrei, was den Kleinen meist nicht gut bekam. Viele starben an Magen-Darm-Erkrankungen. Um die Kleinkinder ruhigzustellen, ließ man sie zudem an in Branntwein getauchten Lappen nuckeln. Das alles, obgleich der Bevölkerung der Zusammenhang zwischen Säuglingsernährung und Kindersterblichkeit durchaus bewusst war.
In Paris wie in anderen französischen Städten war es im Lauf des 18. Jahrhunderts üblich, den Nachwuchs bei einer dörflichen Amme in Pflege zu geben. Sein Kind aufs Land zu schicken gehörte zum guten Ton und stellte gegebenenfalls beide Eltern für die Erwerbsarbeit frei. Im Haushalt von Händlern und Kaufleuten, bei Handwerkern und den Arbeitern in der Seidenindustrie bildeten die Eheleute eine Arbeitsgemeinschaft, die gemeinsam für das wirtschaftliche Überleben der Familie sorgte.
So war es nicht nur Ausweis einer gewissen Vornehmheit, lieber eine billige Kindswärterin auf dem Dorf zu bezahlen, als die Mutter durch eine Aushilfskraft im Hause zu entlasten. Nur wer auf der alleruntersten Sprosse der sozialen Stufenleiter stand und über kein geregeltes Einkommen verfügte, kümmerte sich selbst um den Nachwuchs.
Entsprechend wurden von den 21 000 Pariser Neugeborenen des Jahres 1780 weniger als tausend von der eigenen Mutter versorgt. Weitere tausend gehörten der Oberschicht an, die eine eigene Kinderfrau ins Haus kommen lassen konnte. Die restlichen Kinder schickte man auf die Dörfer und überließ sie dort nur allzu häufig einem ungewissen Schicksal.
Insgesamt hatten uneheliche Kinder eine deutlich niedrigere Lebenserwartung als die Sprösslinge aus vollständigen Familien, Unterschichtskinder waren stärker gefährdet als ihre Altersgenossen aus besserem Hause. Die höchste Todesrate wiesen jedoch uneheliche Kinder aus der dörflichen Oberschicht auf, weil man dort die "Schande" vor den Nachbarn zu verbergen suchte.
Auch Nachkömmlinge kinderreicher Familien hatten schlechte Überlebenschancen. Wo bereits mehrere Kinder das gefährliche Kleinkindalter überstanden hatten und der Familienbestand gesichert schien, stieg die Sterblichkeit jüngerer Geschwister rapide. Mancher Zeitgenosse hegte daher den Verdacht, dass Eltern gewissermaßen postnatale Geburtenkontrolle durch Vernachlässigung praktizierten, wenn Kinder den Status oder die Existenz der Familie gefährdeten.
Gegenüber dieser Nachlässigkeit erhob sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer häufiger Protest. Seit verbesserte Anbaumethoden eine intensivere Landwirtschaft ermöglichten und seit die Industrialisierung fortschritt, entdeckten die Fürsten eine neue Einkommensquelle: die Arbeitskraft ihrer Untertanen. Eine Reihe europäischer Kriege lehrte die Herrscher zudem den Wert schlagkräftiger Armeen schätzen. Immer größere Heere erforderten immer mehr Soldaten.
Um nicht teure Söldner einkaufen zu müssen, bot Preußen schon seit 1733 einen Teil der Bauern zum Wehrdienst auf. Österreich folgte diesem Beispiel, und auch in Frankreich dachte man bereits vor der Revolution über die Verpflichtung von Bürger-Soldaten nach.
Peuplierung - Bevölkerungsvermehrung - hieß das Gebot der Stunde. Seitdem man den Menschen als die "Grundlage jeglichen Reichtums" entdeckte, erschien die bisher hingenommene Säuglingssterblichkeit als ein dem Staat entgangener Gewinn. Im Zeitalter des heraufziehenden Kapitalismus war das Kind zu einer Produktivkraft geworden. "Ein Staat ist nur so mächtig, wie er volkreich ist", fasste der französische Arzt Nicolas Didelot die neue Auffassung zusammen, "er ist umso mächtiger, je zahlreicher die Hände, die tätig sind und die ihn verteidigen."
Die bisherige Verschwendung von Menschenleben wollten die aufstrebenden Staaten sich nicht mehr länger leisten. Stattdessen galt es, das Überleben der zahlreich geborenen Kleinkinder zu sichern. Dafür aber brauchte man die Mütter als Verbündete.
Mediziner, Philosophen, Ökonomen und der neue Stand der Pädagogen überboten sich darin, in unzähligen Schriften und Traktaten das Hohelied der Mutterschaft zu singen. Ganz dem Zeitgeist gemäß, der das Glück eines idealisierten Naturzustands pries, suchte und fand man das Vorbild für aufopferungsvolle Mutterliebe im Tierreich oder in den Sitten "edler Wilder". Die Natur habe, so war allenthalben zu hören, Frauen zur Mutterschaft bestimmt und sie mit den dafür erforderlichen Anlagen zur Hingabe, Empfindsamkeit und Entsagung ausgestattet.
Lexika wurden nicht müde, Frauen als "Repräsentantinnen der Liebe" zu preisen und ihre Bestimmung zu "Gattinnen, Müttern und Hausfrauen" zu beschwören. In früheren Epochen hatte die fleißige Arbeitsgenossin des Ehemannes als Vorbild gegolten, deren Rechte und Pflichten sich nach dem jeweiligen Stand bemaßen. Nun, an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, entwarfen Denker von Rousseau bis Fichte ein neues Ideal: das vom Mann als einem Menschen, den Tapferkeit und Willenskraft charakterisierten, als typische Eigenschaften des weiblichen Geschlechts galten fortan Schwäche und Ergebenheit.
Er war selbständig und rational, sie abhängig und emotional. Waren bei Männern Kraft und Stärke gefragt, sollten Anmut und Schönheit die holde Weiblichkeit zieren. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand in einem philosophischen Lexikon zu lesen: "Beim Mann wiegt der Verstand, beim Weibe das Gemüt vor; der Mann steht den Dingen mehr aktiv, die Frau mehr passiv gegenüber; er ist energisch, produktiv, sie hingebend, reproduktiv. Er macht die Geschichte, sie lehnt sich an die Natur an; er richtet sich aufs Allgemeine, Ganze, Große, während sie das Einzelne, Kleine hegt und pflegt."
Die Lehre von den getrennten Geschlechtersphären spiegelte die Lebenswirklichkeit einer neuen gesellschaftlichen Gruppe wider, die vornehmlich durch den Ausbau des modernen Staates und der Bildungseinrichtungen entstanden war: das gehobene Bürgertum. Juristen und Beamte in wachsender Zahl, Freiberufler und Professoren setzten alles daran, sich durch ihre Lebensführung sowohl von den "frivolen" Ausschweifungen des Adels als auch von der "Stumpfheit" der Bauern und Handwerker abzugrenzen. Jetzt waren Arbeiten und Wohnen räumlich getrennte Bereiche, die Eheleute bildeten nicht mehr ein Arbeitspaar, von dessen Zusammenwirken das Überleben der Familie abhing.
Während der Mann hinaus in das feindliche Leben der Amtsstuben und Kontore zog, wirkte drinnen in der Tat die züchtige Hausfrau - jene Ehefrau nämlich, die ebenso frei von Erwerbsarbeit wie von aristokratischen Repräsentationspflichten war. Unter diesen Bürgersfrauen fiel die Überhöhung der Mutterschaft und der damit verbundene Weiblichkeitsentwurf auf fruchtbaren Boden. Versprach er ihnen doch eine unangefochtene innerhäusliche Machtposition und die Entlastung von den harten Pflichten des Broterwerbs.
Künftig konnte sich die Gattin gehobenen Standes allein dem "kleinen Vaterland der Familie" widmen. "Dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer Bestimmung", legte Goethe seiner Figur Dorothea in den Mund, und Jean-Jacques Rousseau fasste in seinem Weltbestseller "Emile" die neue Lehre in einem Satz zusammen: "Die Männer zu erziehen, wenn sie jung sind, sie zu umsorgen, wenn sie groß sind, sie zu beraten, sie zu trösten, das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten."
Durch Geburt und Kinderaufzucht, so wurde man im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht müde zu betonen, leisteten Frauen einen wichtigen Beitrag zum Fortbestand der Nation. Zudem sollte im Zeitalter des heraufziehenden Kapitalismus die weibliche, vom "Daseinskampf verschonte Kleinwelt der Körper- und Seelenwerte" ein Gegengewicht gegen die Zumutungen der Arbeitswelt bilden. So mancher im "stahlharten Gehäuse der Moderne" (Max Weber) gefangene Mann suchte in der Frau die "lebensfrische Ergänzung zu seinem berufskranken Organismus" und hoffte, sie werde "unsere kalte Welt mit Wärme füllen".
Tatsächlich hatte die neue Zweiteilung des Lebens den männlichen Gefühlshaushalt von Grund auf verändert. Während sich der empfindsame Gentleman des 18. Jahrhunderts seiner Tränen nicht schämte und den Kindern ein zärtlicher Vater war, richtete sich die Knabenerziehung fortan mit der Durchsetzung der Wehrpflicht auf das Ideal des Kriegers aus. Hart wie Kruppstahl zu sein wurde zwar erst der Hitlerjugend abverlangt, aber schon im Kaiserreich spielten Härte, Kampf und Drill in der Jungenerziehung eine immer größere Rolle. Emotionen galten als Zeichen von Schwäche, Sprachlosigkeit breitete sich aus. Durch die räumliche Trennung von Arbeit und Haushalt gaben Männer häufig nur noch Gastspiele auf der Familienbühne und glichen Statisten im eigenen Haus. Der treusorgende Hausvater früherer Zeiten wurde zunehmend auf seine Ernährerfunktion reduziert.
So in getrennten Welten lebend, sollten männliches und weibliches Prinzip in der Liebe zueinander finden und sich zu wahrer Menschlichkeit ergänzen. Dichter und Schriftsteller schwelgten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in romantischen Gefühlen und stilisierten die Liebesehe zum Ort vollkommenen Glücks. Zeitgenossen wie die berühmte Madame de Staël beobachteten auf ihren Deutschlandreisen erstaunt, wie schnell sich hier die Liebesheirat als allgemeine Norm durchsetzte.
Doch sosehr Gedichte und Romane auch die Liebe feierten, sosehr Romantik die einzig legitime Basis der Partnerwahl abzugeben schien: Die Realität sah anders aus. Nüchterne Analysen zeigen, dass bei der Eheschließung oft auch weiterhin nicht Emotionen, sondern materielle Interessen den Ausschlag gaben. Schließlich bot die Ehe den Frauen meist die einzige Lebens- und Versorgungsperspektive, und die Mitgift garantierte dem jungen Geschäftsmann die Kreditwürdigkeit. Das Einkommen des Beamten wurde aufgebessert, und der Handwerker konnte durch eine gute Partie den Grundstein zum eigenen Betrieb legen. Deshalb wurde natürlich nach wie vor zuerst auf den Geldbeutel gesehen.
Allerdings achtete man darauf, möglichst nicht unter seinen Verhältnissen zu freien, auch in der Arbeiterschaft, die nach und nach viele Normen und Werte des Bürgertums übernahm. Man heiratete - und das gilt heute mehr denn je - gemäß seinem Vermögen, seinem sozialen Rang und seinem Prestige.
Sowenig das Ideal der Liebesheirat also in der Praxis zum Tragen kam - für Frauen hatte es weitreichende Konsequenzen. Aus der liebenden Hingabe der Ehefrau an ihren Gatten hatten schon die Philosophen der Spätaufklärung den Schluss gezogen, dass sie ihm dadurch in der Ehe "ihr Vermögen und alle ihre Rechte abtrete, und mit ihm ziehe ... Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen; ihr Leben ist ein Teil seines Lebens geworden". Rechtliche Beschränkungen und die "Machtlosigkeit über ihr Vermögen" kennzeichneten die juristische Stellung der verheirateten Frau bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
Die Verfügungsgewalt des Ehemanns über das von der Frau eingebrachte Gut wurde sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 übernommen. Noch in der frühen Bundesrepublik konnte der Ehemann mit gerichtlicher Zustimmung das Arbeitsverhältnis seiner Frau ohne ihr Einverständnis kündigen. Haus- und Familienarbeit galt - und gilt weiterhin - als Arbeit aus Liebe, für die es keiner gesonderten Entschädigung bedarf.
In Deutschland setzte sich die Geburtenkontrolle seit der vorletzten Jahrhundertwende durch, parallel zur stürmischen Industrialisierung und Urbanisierung. Vorreiter war das großstädtische Bürgertum. 1839 hatte die Vulkanisierung von Kautschuk die Massenproduktion von Kondomen möglich gemacht. Doch Arbeiter, Kleinbürger und Bauern konnten sich den Kauf von Kondomen lange nicht leisten. Hinzu kam, dass Informationen über Empfängnisverhütung im Kaiserreich nur schwer zugänglich waren.
Wenn von ledigen Mütter die Rede war, sprach man früher von der "Illegitimitätsrate". Die stieg mit der Lockerung kirchlicher und sozialer Bindungen in ganz Europa schon seit 1750 rapide an. Meist lag sie zwischen 10 und 20 Prozent, konnte aber im bayerischen Alpenraum, im deutschen Südwesten oder in einigen Regionen Österreichs auch mehr als 50 Prozent ausmachen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging die Zahl zurück.
Frankreich verabschiedete schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Reihe von Gesetzen, die den Beginn einer systematischen Familienpolitik markierten. Dazu gehörte ein bezahlter Mutterschaftsurlaub mit Stellengarantie. Der Grund für diese Neuerungen: Das Land mit der damals niedrigsten Geburtenrate Europas fürchtete nach der Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1870/71, von Deutschland nun auch noch bevölkerungspolitisch erdrückt zu werden.
Bereits mit vier oder fünf Jahren gingen Mädchen und Jungen den Eltern bei der Feld- und Gartenarbeit zur Hand, hüteten das Kleinvieh oder beaufsichtigten die jüngeren Geschwister. In den Familien der Spinner und Weber übernahmen die Kinder das Spulen oder trugen die Ware aus. Arbeiteten beide Eltern, waren sich die Kinder oft selbst überlassen, häufig mussten sie durch Botengänge oder Aushilfsarbeiten zum Familieneinkommen beitragen.
Was sich wie eine Erfindung der Moderne anhört, gab es schon - wenn auch nicht unter dem Begriff Single-Haushalt - vor über 300 Jahren. Im Paris des 17. und 18. Jahrhunderts lebte in 16 Prozent aller Haushalte nur eine Person. Auch sonst waren viele Familien eher klein. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau lag im Paris des Ancien Régime mit 2,1 genau so hoch wie heute in Frankreich.