Ursprung Weib
Elisabeth Badinter: "XY - Die Identität des Mannes".
Piper Verlag, München; 294 Seiten; 42 Mark.
Sechs Jahre lang hat Elisabeth Badinter, Professorin für Philosophie an der École Polytechnique in Paris, turnusmäßig mit ihren Studenten Fragen zum Wesen der männlichen Identität erörtert. Immer wieder wollten die jungen Männer dabei von ihr wissen, welche Werte der moderne Mann eigentlich vertreten solle. Die meisten von ihnen wünschten sich, ihren Kindern liebevolle Väter werden zu können.
Badinter führt aus, daß dieser Wunsch einer doppelten Erkenntnis entspringe: Zum einen werde der kraftstrotzende Macho aus der Zeit vor der Frauenbewegung als infantiler Mutant abgelehnt, der, um als Mann zu gelten, alles Weibliche in sich bekämpfen, Gefühle und Sensibilität verweigern und sich in seiner Rolle als Vater entsprechend hart und abweisend verhalten mußte. Zum anderen aber werde auch das Scheitern der Väter der 68er Generation gesehen: Diese hätten zwar eine Art mütterlicher Vaterrolle akzeptiert und es anfangs auch geschafft, eine enge Beziehung zu ihren Söhnen aufzubauen, seien aber ins Schleudern geraten, sobald diese dem Kleinkindstadium entwachsen waren. Mit der eigenen Identität zwischen den Fronten noch nicht im reinen, hätten sie den heranwachsenden Söhnen nur so mangelhaft als Vorbild dienen können, daß diese sich nach anderen Modellen umsehen mußten - nach Modellen von Männlichkeit, wie sie heute ein Rambo oder Terminator verkörpern.
Badinter behauptet nicht, die Suche nach außerfamiliärer Orientierung sei ein Phänomen des späten 20. Jahrhunderts. Natürlich sieht sie, daß die Väter seit Beginn der industriellen Revolution, die Arbeitsplatz und Familie auseinanderriß, aus dem Alltag ihrer Kinder verschwunden sind. Nachdem die Generation der Zwanzigjährigen jedoch weder im Macho noch im weichen Mann ihr Idealbild sehe, müsse die Frage nach dem Wesen des Mannes neu gestellt werden.
Mit ihrem im Herbst 1992 in Frankreich erschienenen und binnen kurzem in über 200 000 Exemplaren verkauften Buch, "XY - Die Identität des Mannes", jetzt im Piper Verlag in der Übersetzung von Inge Leipold vorgelegt, erklärt Elisabeth Badinter, welche Stadien das männliche Kind durchlaufen muß, um ein Mann zu werden. Als Grundthese gilt ihr dabei die Abwandlung eines Satzes von Simone de Beauvoir: Man(n) wird nicht zum Mann geboren, sondern zum Mann gemacht. Sprich: Die Entwicklung der - sozialen, psychischen und sexuellen - Identität ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses.
Seit Beginn der fünfziger Jahre wissen wir, daß schon das um die Herausbildung eines eigenen Identitätsgefühls bemühte Kleinkind Unterschiede und Ähnlichkeiten zu anderen Menschen erkennen muß. Um seine sexuelle Identität zu finden, wird es sich vom andersgeschlechtlichen Elternteil differenzieren und mit dem gleichgeschlechtlichen identifizieren - die Dualität der Geschlechter also wahrnehmen und nachvollziehen.
Wie Badinter nun zeigt, beginnt der Kampf um die Identität bereits im pränatalen Stadium: Festgelegt durch den Chromosomentyp der Samenzelle, die das Ei befruchtet, differenziert sich das Geschlecht des Kinder im 23. Chromosomenpaar als XX (= weiblich) oder XY (= männlich). Das weibliche Wesen verfügt also über 23 XX-Paare, wogegen bei der Entstehung eines männlichen Wesens den 22 weiblichen XX-Paaren ein gemischtes XY-Paar hinzugefügt wird.
"In gewissem Sinne ist der Mann die Frau plus etwas Zusätzliches ... mit anderen Worten: Das embryonale Grundprogramm ist darauf angelegt, weibliche Wesen hervorzubringen. Dem Y kommt einzig ... die Rolle zu, die spontane Tendenz der embryonalen Gonade, ein Ovarium zu bilden, umzubiegen und sie zu zwingen, einen Testikel zu bilden."
Oder, um mit Alfred Jost zu sprechen: "Das Männchen konstruiert sich gegen die ursprüngliche Weiblichkeit des Embryos ... Im Lauf der Entwicklung ist das Mannwerden in jedem Augenblick ein Kampf." Damit wird - anders als bei Freud, der für die ursprüngliche Bisexualität des Menschen den Primat des Männlichen betonte - eine Protoweiblichkeit des Säuglings vorausgesetzt, derzufolge das männliche Kind im Gegensatz zum weiblichen von Anfang an gezwungen ist, sich abzugrenzen. "Um seine männliche Identität kundzutun, muß es sich und die anderen gleich dreifach überzeugen: daß es keine Frau, kein Säugling, kein Homosexueller ist." Und zeit seines Lebens verlangt man ihm den Beweis stets von neuem ab: Sei ein Mann! (Die Umkehrung: Sei eine Frau! existiert praktisch nicht.) Dabei, so Badinter, lasse die genetisch begründete Weiblichkeit auf eine allen menschlichen Wesen eigene latente homosexuelle Veranlagung schließen - die der Mann unseres Kulturkreises strikt verleugnen muß.
Gerade an diesem Tabu scheiterten die Männer, die in den siebziger und achtziger Jahren auf Druck radikalfeministischer Forderungen ihre weiblich mütterlichen Seiten wiederentdecken wollten. Herausgekommen sei allenfalls ein verunsichertes, identitätsloses, sich seiner Partnerin und seiner familiären Verantwortung entziehendes Wesen vom Typ "flying boy".
Badinter revidiert nun eine auch von ihr ursprünglich vertretene feministische Grundüberzeugung. Sie lautete: Sobald der Primat weiblicher Werte - Weichheit, Zärtlichkeit, Einfühlungsvermögen - gegenüber dem von Gewalt, Konkurrenz und Machtstreben geprägten traditionell männlichen Verhalten anerkannt sei, reduziere der Unterschied zwischen Männern und Frauen sich auf die Geschlechtsorgane.
Tatsächlich, so Baditers neue Position, gehe es nicht um Verschmelzung mit dem Weiblichen, sondern um die Konstitution einer neuen Männlichkeit, wie sie den homme réconcilié, den versöhnten Mann, auszeichnet, der wieder ursprünglich männliche Tugenden entwickelt. Dieser versöhnte Mann hat eine sich in drei Schritten vollziehende Entwicklung hinter sich: Er hat das patriarchale Männlichkeitsideal in Frage gestellt, hat die seinem Wesen zugrundeliegenden weiblichen Züge akzeptiert und ist so zu einer neuen, androgynen Männlichkeit gelangt, die der weiblichen Natur nicht mehr entgegengesetzt, sondern mit ihr in Einklang ist.
Badinter, als "weibliche Autorin, die von Männern spricht ... ihrer Grenzen sehr wohl bewußt", liefert kein Rezeptbuch, nach dem Männer zu dieser versöhnten Männlichkeit gelangen könnten. Was ihre Ausführungen von den bislang mit dem Thema befaßten Publikationen abhebt, ist die Betonung der genetisch angelegten Weiblichkeit menschlicher Wesen, die ein neues Licht auf die jahrhundertealte Abgrenzung des Mannes von der Frau wirft. Indem sie die männlichen Identitätsprobleme auf diese Ursachen zurückführt, kann sie zumindest behutsam andeuten, was zu ihrer Lösung notwendig wäre. Wie lange sich die momentane Übergangsphase noch hin ziehen wird, wagt die Autorin nicht vorauszusagen. Aber um die Beziehung der Geschlechter gründlich zu reformieren, sei der neue Mann unentbehrlich: ausgesöhnt mit sich selbst ebenso wie mit seiner weiblichen Umgebung.
Elfi Hartenstein
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Selbsterfahrungs-Workshop: Auf dem Weg zur androgynen Männlichkeit?