DAVIS Ein Leben wie auf Hoher See
Was ist Davis? Der Mädchenname von Nancy Reagan? Der Südstaatenführer in Lincolns Bürgerkrieg? Der Entertainer mit dem Vornamen "Sammy"?
Lexikon-Wissen. Davis für Kenner ist die Ökologiehauptstadt Amerikas. Es ist die grimmige Antwort des Bürgers auf den ganz normalen Suburbia-Wahn. Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterrand hat die Stadt einst besucht, Britanniens grünlicher Kronprinz Charles fand in ihr den Mikrokosmos seiner Wünsche: etwas fein Vegetarisches inmitten einer Welt von Achtlosigkeit, Benzindurst, Fast food und Revolvern.
Die Stadt Davis liegt 13 Meilen westlich von Sacramento, 72 Meilen nordöstlich von San Francisco und 51 Fuß über dem Meeresspiegel. Anfang September meldete das Ortsschild an der Stadtgrenze 53423 Einwohner. Seit im Jahre 1970 bei einer Verkehrszählung herauskam, daß es dort mehr Fahrräder als Einwohner gibt, nennt Davis sich "Fahrradmetropole der USA". Auf dem Russell Boulevard, der Hauptstraße des Ortes, steht die eiserne Skulptur eines Hochrades aus fernen Pioniertagen. In das Stadtlogo ist ein ähnliches Veloziped verwoben.
Doch das ist natürlich nicht alles. Der gesamtökologische Ruf von Davis nährt sich aus der Dreieinigkeit von plattem Land, hoher Bildung und Ölkrise. Das platte Land - mit wenig Wind dazu - macht Radfahren zum Spaß, für den Bildungsstand sorgt die Hochschule, eine von acht Niederlassungen des bewährten University-of-California-Systems ("UC"). Und die Ölkrise der siebziger Jahre bestimmte in Davis den damals gerade fälligen Übergang von der Kleingemeinde zur Mittelstadt.
Jeff Loux ist Entwicklungsdirektor von Davis. Er kennt sich aus in der Geschichte amerikanischer Suburbs. Vor 130 Jahren, erläutert er, hätten die Bewohner der Industriehölle Chicago erstmals den Gedanken des "romantischen Vororts" entwickelt: einer Idylle mit geschwungenen Verkehrswegen und normfreien Häusern in bäuerlicher Luft. 50 Jahre später sei im industriell überfrachteten New Jersey die amerikanische "Gartenstadt" entstanden - schon klarer strukturiert, doch immer noch eine Art Biotop.
Dann aber, mit dem Automobil und den "Developern", seien die Isolierungseffekte der Großstadt auf Suburbia übergeschwappt. Nachbarschaft, Bürgernähe, Basisdemokratie und klare Luft, das habe es ja sein sollen. Entpersönlichung, Verkehrsstaus und Kriminalität seien daraus geworden, eine vorgestanzte Nagelscherenkultur mit üppiger Ressourcenverschwendung zudem.
Keine Familie kann dort ohne Zweit- und Drittautos funktionieren. Die Bürger von Davis - es war ja Ölkrise - beschlossen: zurück zum "romantic village".
Michael Corbett, gelernter Architekt und studierter Psychologe, war der Mann dieser Stunde. "Mike", jetzt 58, entwarf Anfang der Siebziger im Westen von Davis die Öko-Stadt "Village Homes". Auf 70 Acres (280000 Quadratmeter) Land stehen dort 208 Privathäuser. Über 100 davon hat Corbett selbst entworfen, große und kleine. Weder ein Prominentenghetto noch eine Arbeitersiedlung sollte es sein.
Corbett hatte sich mit seinem "aktiv und passiv ökologischen" Entwurf bockig gegen die Querschüsse von Behörden, Banken und Interessengruppen durchgesetzt. In Village Homes stehen die Häuser nun nord-südwärts gerichtet. Weit überhängende Dächer sperren die Sonne im Sommer aus und lassen sie im Winter zum Heizen herein. Warmes Wasser wird von Sonnenkollektoren produziert. Meist. Klimaanlagen sind unnötig. Meistens. An den Straßen stehen Laubbäume, die im Sommer Schatten spenden und im Winter Licht zulassen.
Die Straßen sind schmal, nur halb so breit wie die sonst üblichen Pisten von Suburbia. Corbett brauchte nur acht Prozent der verfügbaren Fläche zuzubetonieren, nicht über 20 Prozent wie in normalen "Developments".
Der Landgewinn wurde in offene Grünflächen umgesetzt, in Parks, Kinderspielplätze, Teiche. Zäune sind verpönt. Rad- und Fußpfade verbinden die hinteren Bereiche der Grundstücke, in denen überwiegend Obstbäume stehen. Echte Village-Homer decken ihren Vitaminbedarf durch Tauschhandel. Man trifft sich.
Der gesellschaftspolitische Befund ist fürs erste positiv. Feldarbeiter wohnen neben Professoren und Managern. Alternative Uralt-Volvos stehen neben modernen Jaguars. Turnschuhfraktionen gibt es nicht.
Im Laufe der Jahre ist es teuer geworden in Davis. Die Eigenheime von Village Homes notieren zwischen 150000 und einer halben Million Dollar. Es lebt sich ruhig dort. Die Leute kennen sich. Zu gut vielleicht. Sy Gold, Ökologieprofessor an der UC Davis, beklagt den Mangel an Privatsphäre: "Irgendwie lebt man wie auf Hoher See."
Das übrige Davis bietet da mehr. Stadtrat, Verwaltung und Planungsbehörde sind zwar auch vom Village-Homes-Kult befallen, zur Zweitauflage der Mustersiedlung hat es gleichwohl nicht gereicht. Etwas mehr Amerikanisches durfte es nun gerne wieder sein. Doch Fußgänger, Radfahrer, Parks, Straßenbäume und viele Häuser ohne "Air Condition" prägen Davis immer noch weit mehr als jede andere Mittelstadt in Kalifornien.
Die Menschen leben gelassen, die Verbrechensrate ist gering. Ganz nach südeuropäischer Art schlendern die Bürger nächtens im Korso durch den alten Teil der Stadt.
Alt? Davis war 1868 als Bahnstation der California Pacific Railroad unter dem Namen "Davisville" gegründet worden - nach Jerome C. Davis, auf dessen einstigem Farmland sie steht. 1917 wurde die Ansiedlung als Gemeinde registriert: Die Bürger brauchten Geld für eine ordentliche Feuerwehr. Der Funkenflug aus den Lokomotiven hatte ihre Häuser regelmäßig in Brand gesetzt. So entstand Davis, die Stadt.
Davis, die Öko-Stadt, hat diesen Teil ihrer Geschichte sozusagen eingemottet. Ihre neue Domina ist die Universität. Von ihr kommt ständiger Nachschub an ökologischem Wissen. Entstanden war sie als "University Farm" der vornehmen UC Berkeley. Inzwischen gilt sie mit ihrem riesigen Campus als Spitzeninstitut für Ökologie, Pflanzenbiologie, Biotechnik, Zoologie und einige Spezialitäten des Raumfahrtwesens. Zur Zeit arbeiten dort 21000 Studenten sowie 10000 Lehr- und Hilfskräfte.
Damit ist die UC Davis auch noch größter Arbeitgeber der Stadt, neun von zehn Vollzeitjobs hängen an der Uni. Technisch gesehen, erklärt Stadtplaner Loux, sei Davis eine "Company Town", so etwas wie das Göttingen oder Heidelberg oder Marburg Amerikas.
Cecilia Colombo, eine Sprachprofessorin argentinischer Herkunft, erklärt den alternativen Einfluß der Hochschule auf das Öko-Konzept Davis ganz un-alternativ: "Studenten können sich kein Auto leisten und sind meistens Single." Also fahren sie mit dem Rad zur Arbeit und kaufen zu Fuß ein. Supermärkte mit ihren ausschweifenden Parkflächen waren nicht gefragt.
Im benachbarten Woodland und in Sacramento gibt es genug davon. Der Tante-Emma-Laden, die "Grocery", gehört zum Stil.
Zur Aura von Davis zählen auch 70 Meilen Radwege und -pfade sowie Ampeln, Verkehrszeichen, Straßentunnel und Freewaybrücken eigens für Radfahrer. Selbst das öffentliche Verkehrssystem wird noch von der Uni beherrscht. Studenten organisieren den Einsatz einer blauen Busflotte, zu deren Attraktionen stinkende Londoner Doppeldecker gehören. Allmählich werden sie durch ökologisch korrekte Fahrzeuge mit Erdgasmotor ersetzt.
Dank der Universität ist das Volk von Davis im Durchschnitt nur 25 Jahre alt und wesentlich gebildeter als das jeder anderen Stadt in Amerika. Die Etablierten wiederum erfreuen sich stoßsicherer Mittelstandseinkommen: Davis, das Öko-Wunder, lebt durch die Optimierung von Eigentümlichkeiten, die sich kaum woanders noch einmal finden.
Womit die Stadt sich am Ende selbst in Frage stellt: Ihr Problem ist der Zuzug, also der Wachstumsdruck. Bis zum Jahr 2010 soll sie fit sein für 75000 Einwohner. Reicht das Trinkwasser aus den unteren Schichten des eigenen Bodens dann noch? Wo überhaupt liegt die Grenze für einen solchen Organismus? Und was dann, wenn die erreicht ist?
Dasselbe in mittlerer Entfernung noch einmal, schlagen ein paar Verzweifelte vor. Doch Davis ist nicht zu klonen. Wo findet man schon eine große Uni auf grüner Wiese oder in grauer Wüste?
Was also ist Davis? Ein Shangri-La für soziale Feinschmecker - liebenswürdig, friedlich, intelligent und einzig. Ein Biotop, jedoch mit Artgeruch: "Das Trinkwasser hier", schüttelt sich der Planungsassistent Ken Hiatt und mustert dabei seine eingecremten Hände, "ist zum Kotzen."