Szene Glitzernde Brackets
Papas kleine, geliebte Tochter heißt Marie und ist sieben Jahre alt. Marie hat eine Freundin, Johanna, und die hat alles, was ein Mädchen an zivilisatorischem Status-Grundequipment haben muß: Turnschuhe von Superga, was ihre Mama Süperga ausspricht, damit der Name noch bedeutsamer klingt; Sweatshirts, auf denen Chiemsee steht, und das eine oder andere Teil mit der gebenedeiten Buchstabenkombination DKNY, auf daß der Zwerg Reklame laufe für eine Designerin, der es fern in den Dünen von Long Island an nichts mangeln möge.
Nun hat Marie aber ein Problem: Johannas Mutter schaute Marie in den Rachen auf der Suche nach weiteren, eventuell verborgenen Statussymbolen. Und schon rief sie triumphierend, was Marie fertigmachte: "Du hast ja noch keine Zahnspange!"
Die soziale Schere klafft auseinander - und mit ihr die Gebisse. Schön soll der Mensch werden und ein Gebiß haben, in denen die Zähnchen aufgereiht sind wie Perlen eines Bulgari-Colliers. Zähne, wie Julia Roberts oder Arnold Schwarzenegger sie haben. Zähne, die Biß signalisieren.
Die Familie betritt also die Praxis des Kieferorthopäden. Von der Dame am Empfang wird Papa gleich gerüffelt, denn er spricht immer vom "Kiefernorthopäden": "Daß dies gleich mal klar ist, der Herr Doktor ist nicht Waldarbeiter in einer Tannenschonung." Aber nach Papas Meinung fahren Kieferorthopäden sowieso alle Porsche, sind immer braungebrannt und tragen schwere, goldene Rolex-Uhren.
Doch das Kind will unbedingt hin zu diesem Mann mit den Philippe-Starck-Stühlen im Wartezimmer. Marie will eine Zahnspange! Und weil das Tragen einer Zahnspange so "verdammt cool" ist, hat sie zu Hause schon mal mit Alufolie geübt, sie gefaltet und über die Zähnchen geknickt. Die Zahnspange muß sein!
Aus dem Folterinstrument von einst ist ein neues Statusobjekt geworden. Diese schicken Spangen aus buntem Plastik, in pink, im Glitzerlook, mit nächtlichem Leuchteffekt oder im gelbschwarzen Janosch-Design, Marie kennt sie und hat diese Dinger schon bei ihren Freundinnen gesehen.
Besonders toll sei die neongrüne in Sophies pinkem Zahnspangenkästchen. Das will sie auch. Kriegt sie aber nicht. Ihr wird in den Oberkiefer ein spreizender Silberbügel einzementiert.
Der dehnt den Kiefer auseinander, auf daß Platz werde für die breiteren Hauer, die da kommen sollen.
Einbau und Festzementieren geraten zum Initiationsritus für die nächste präpubertäre Entwicklungsstufe. So glücklich sieht man sein Kind nur noch im Spielzeugladen oder wenn es am Sonntagvormittag vom Taubstummengottesdienst zum Käptn-Blaubär-Klub zappt.
Auf der Behandlungsliege wird Maries Aussprache zwar deutlich feuchter und lispelnder, aber sie zerspringt fast vor Stolz. "Zwei Zähne, Holstenstraße", soll sie sagen. "Zwei Zähne, Holstenstraße", lispelt sie. "Sie muß sich da noch dran gewöhnen. Das wird schon", sagt der Arzt. Und eigentlich sollte in Zukunft auch noch der Oberkiefer paßgenau auf dem Unterkiefer malmen. Von Natur aus ist solche Idealstellung nur jedem 20. Zeitgenossen vergönnt.
Also Marie bekommt eine Maske. Die soll sie mit Gummibändern an zwei an den Backenzähnen des Oberkiefers befestigten Haken anklemmen. Die Maske, das sogenannte Headgear, liegt auf Kinn und Stirn auf. Ein entsetzliches Ding! Bemitleidenswert jene Geschöpfe, die es nächtens tragen sollen.
Marie soll nicht nur, sie will. Das Gestänge erinnert an den Gesichtsschutz irgendwelcher Pitbull-Rangers.
Das Kind ist begeistert. Aber es will nicht nachts mit dem Gesichtsbogen schlafen, "da sieht einen ja keiner", Marie will das metallische Lächeln.
Erstaunt registrieren selbst Klammern-Skeptiker unter den Kieferorthopäden, daß manche Kinder ganz enttäuscht sind, wenn sie weiterhin normal lächeln müssen, weil sie keine Zahnspange brauchen. Hans Sielaff, Kieferorthopäde in Hamburg, verfolgt die Entwicklung des Kultobjekts Zahnspange mit kritischem Blick: "Raver in den USA tragen bereits goldfarbene Zahnspangenattrappen, die aussehen, als hätten ihre Eltern ein paar tausend Dollar investiert."
Zeige mir deine Brackets, diese Halter, die auf den Zähnen angebracht werden, und ich sage dir, wo du herkommst. Diese Brackets werden mittels Draht verbunden, um die Zähne in die Idealposition zu zwingen. Heute seien bereits Kinder "rein statusmäßig am perfekten Körper interessiert", sagt Professor Wolf-J. Hölsche, Leiter der Kieferorthopädischen Abteilung der Hamburger Universitätsklinik Eppendorf. "Die Dinger sind fröhlicher, bunter, was den Kids entgegenkommt, aber", so Hölsche, "die Funktion der Unterhose hängt ja auch nicht von ihrem Muster ab."
Zwischen 4000 und 8000 Mark kostet die vier bis fünf Jahre dauernde kieferorthopädische Behandlung. Seit der Gesundheitsreform 1993 übernehmen die Krankenkassen die Kosten fast nur noch in komplizierten Fällen, wenn etwa durch die Kieferstellung das weitere Wachstum des ganzen Gesichts beeinträchtigt wird.
Seltsamerweise wurden seit der Gesundheitsreform "sogar mehr Spangen verordnet", wundert sich Mathias Ohlrogge, Referatsleiter Zahnärzte- und -techniker beim AOK-Bundesverband. Der Mann ist sicher, daß "Kieferorthopäden offenbar Gründe gefunden haben, aus einfachen Behandlungen komplizierte zu machen".
Nicht wenige Kieferorthopäden behaupteten gar, rügt Arzt Sielaff, durch Zahnregulierung lasse sich Karies verhindern. Da nicken besorgte Eltern; und wieder lachen einen ein paar quietschbunte Spangen mehr an.
Marie, Papas Liebling, jedenfalls leidet darunter, daß niemand ihre in den Rachen zementierte Zahnspange sieht. An einem Wochenende, wann sonst, löste sich auf einer Seite der Bügel, der ihren kleinen Oberkiefer spreizt. Papa hatte Angst, die andere Seite könne sich auch noch lösen und Marie das Ding verschlucken. So ging er in den Keller und suchte im Werkzeugkasten, zwischen Black-und-Decker, Hammer, Dübel und Schrauben, eine Kneifzange. Diese riesige Kneifzange in dem kleinen Rachen! Aber es mußte sein. Die andere Seite der Zahnspange wurde weggezwickt.
Eine Woche später wurde Marie eine neue, prachtvolle Spange mit Zweikomponentenkleber anmontiert. Ihr Papa ist fest vom Sinn dieser Spange überzeugt, zumal Maries Kieferorthopäde nicht Porsche fährt.