Hast Du Nacktbilder?
Brisante elektronische Post für Amanda Rose im US-Bundesstaat Kansas: Vier Seiten lang beschrieb ein Fünfzehnjähriger detailliert seine Sex-Phantasien - die Adressatin war erst zwölf, und der Brief erreichte das Mädchen am heimischen PC, der über die Telefonleitung an ein amerikanisches Datennetz angeschlossen war.
Die schockierte Mutter, Anwältin und selbst seit einem Jahrzehnt mit Computern vertraut, bereitete dem Bildschirmtreiben ein abruptes Ende. "Sprachlos" sei sie, auf den Fernsehkonsum ihrer Tochter habe sie immer geachtet, und im Kino dürfe Amanda nur jugendfreie Filme sehen. Mit den Sex-Episteln aus der Datenleitung aber habe sie "einfach nicht gerechnet".
Der triebgeplagte Knabe war mit Hilfe eines amerikanischen Mailbox-Dienstes, der einen Teenie-Treff im Datennetz organisiert, an Amandas Adresse geraten. Jugendliche, die Zugang zu einem PC mit Modem-Anschluß haben, können sich per Telefonnetz einwählen und elektronische Schwätzchen halten.
In der Bundesrepublik lockt Datex-J neuerdings mit einem ähnlichen Briefkasten-Service (Datex-J-Seite *345604012#) für Schüler und Lehrer. Fünf Pfennig kostet die Leseminute, und man erfährt, daß Brigitte eine Flöte für Linkshänder sucht, Jonathan das ComputerSpiel "Dunkle Schatten" sucht oder Pauker Schröder Probleme mit einer Klassenfahrt hat.
Wenige Datex-J-Seiten weiter geht es heftiger zur Sache. Schon seit Jahren tummeln sich im posteigenen Rechner Pädophile und Verklemmte aller Art.
Zwischen Beate Uhses Sextreff, Postbank, Börsendiensten und Anbietern von computerlesbaren Nacktfotos sind für Pornografiker besonders die zahlreichen "Dialogsysteme" attraktiv, in die sie sich unter Verwendung eines Pseudonyms einwählen können.
So wurden in der "Bar d'amour", Sextreff des Datex-J-Anbieters Eden, Minder & Co., schon mal Kinder zur Prostitution angeboten, wie Detlef Drewes, Journalist der Augsburger Allgemeinen, beim Modem-Geplauder im Telekom-Rechner feststellen mußte. Drewes erhielt unverblümte Angebote: "Siebenjährige, Frischfleisch? Oder schon gelocht?"
Nur in den seltensten Fällen reagieren die Behörden auf solche kriminellen Offerten.
Die Heimlichkeit der virtuellen Treffpunkte wird besonders in den USA von Kindersex-Besessenen und Kriminellen geschätzt. Verschreckt durch Razzien auf privat betriebene Pädophilen- und Sado-Maso-Mailboxen, gucken sie sich ihre Opfer lieber ohne großes Risiko aus der Ferne aus.
Die US-Journalistin Nancy Tamosaitis, probeweise als fünfzehnjährige "süße Chrissy" in einem dieser Dienste unterwegs, fand innerhalb weniger Tage einen Berg von Schmuddel-Mail in ihrem elektronischen Briefkasten; etliche Absender waren älter als 40.
"Hast Du Nacktbilder von Dir?" wollte ein Versicherungsangestellter, 50, als erstes wissen. "Charles", ein angeblich 30jähriger Computer-Programmierer, erbat ein Unterhöschen, "getragen, versteht sich".
Im Cyberspace, warnt Lawrence Magid, Kolumnist der Los Angeles Times, können Kinder "genauso wie überall" Opfer von Verbrechen werden. Mancher wechsle, verschanzt hinter seinem Computer, "Alter, Geschlecht, Beruf und sogar die Persönlichkeit", informiert der auch in Deutschland eingeführte Compuserve die Besucher seines Teenie-Treffs ("go ydrive").
Mit Broschüren und Online-Hilfen in einschlägigen Telefondiensten wie Compuserve, Prodigy, Genie oder America Online versuchen Magid und die amerikanische Kinderschutzorganisation "National Center for Missing and Exploited Children" mit Sitz in Arlington (US-Bundesstaat Virginia), den Daten-Highway kindersicher zu machen.
Eile ist geboten: Experten schätzen, daß schon heute einige zehntausend Kinder und Jugendliche in den USA, meist vom elterlichen PC aus, die weltweiten Datennetze nutzen.
Seine neunjährige Tochter, schwärmt der US-Journalist Preston Gralla aus Cambridge (Massachusetts), erledige ihre Hausaufgaben neuerdings per Modem. Zum Unterrichtsthema Wale habe sie elektronische Lexika, zweckdienliches Online-Material von Nachrichtenagenturen und Bilddatenbanken durchstöbert.
Statt teurer Nachhilfe genügt amerikanischen Jugendlichen eine telefonische Verbindung ihres PC mit dem "Academic Assistance Center", einem elektronischen Beratungsforum des drittgrößten Service-Anbieters der USA, "America online" (Schlüsselwort "Homework"), für Unterrichtsthemen aller Art. Das sei, so Grallas Erfahrung, zwischen 18 Uhr und Mitternacht "voll von Lehrern, die Schülern bei allen möglichen Hausaufgaben helfen".
Spezielle Software erleichtert Kindern den Zugang zur Datenwelt. Mit "KidMail", einem Programm der US-Firma "Connectsoft", können sich schon Sechsjährige auf dem Daten-Highway bewegen. Die Online-Zeit teilen ihnen die Eltern in Form elektronischer "Briefmarken" zu.
In US-Computer-Camps werden Schüler während der Sommermonate im Gebrauch solcher Dienste geschult. Selbst eher Lernunwillige saßen drei Stunden vor dem Monitor, um zu lesen und zu schreiben, stellte der Pädagogik-Professor Billie Hughes aus Phoenix (US-Bundesstaat Arizona) fest.
Jon Leger, 16, aus Port Arthur (US-Bundesstaat Texas) beispielsweise fühlte sich in der Schule wie ein "Niemand"; im Internet stieg sein Selbstbewußtsein: "Die Leute im Netz reden mit mir."
Fremde können sich jedoch auf diesem Weg allzu leicht über die häuslichen Verhältnisse der Jugendlichen informieren oder ihnen Paßworte und Kreditkartennummern entlocken.
Als Grundregel formuliert Magid deshalb, keine persönlichen Informationen wie Adresse, Telefonnummer, Anschrift und Telefonnummern der elterlichen Arbeitsstellen oder den Namen und die Adresse der Schule ohne Erlaubnis der Eltern weiterzugeben (siehe Kasten).
Eltern sollen die Online-Treffs nicht als elektronische Babysitter mißbrauchen, sie müßten vor allen die virtuellen Treffs ihrer Kinder, die dort abgelegten Nachrichten und Software-Programme selbst kontrollieren.
Diese Ratschläge werden in Deutschland einstweilen kaum auf fruchtbaren Boden fallen. Zwar haben mittlerweile rund zwei Drittel aller Familien mit Kindern einen Computer. Aber nur die wenigsten Eltern sind bisher in der Lage, ihren Kindern auf die Datenreise zu folgen.
Ulrich Horb