Zeit für den ganzen Menschen
Im vergangenen Winter waren Grit Montag und ihre beiden älteren Söhne fürchterlich erkältet. Die Kinder husteten, waren matt und fiebrig, es zog sich über Wochen. Paul ist acht, Edgar ist sechs Jahre alt. Immerhin hatte sich der kleine Bruno, drei Jahre alt, nicht angesteckt.
Die Familie wohnt in Kloster Lehnin, einem Ort in Brandenburg. Es gibt dort einen Kinderarzt. Grit Montag war mit ihren Söhnen schon ein paarmal dort, zu Vorsorgeuntersuchungen, aber im Winter ist sie nicht hingegangen. Sie maß Fieber, kochte Tee, sie schnitt Zwiebeln und gab Zucker hinzu, für einen Hustensaft. Und telefonierte mit ihrem Homöopathen in Berlin.
Der Homöopath schickte Glasröhrchen per Post nach Kloster Lehnin. In den Röhrchen steckten Globuli. Kügelchen aus Zucker. Die gab Grit Montag ihren kranken Söhnen, dann wartete sie ab.
Der Zucker in homöopathischen Globuli ist versetzt mit etwas, das schwer zu beschreiben ist, weil die Beschreibung davon abhängt, ob man der Lehre der Homöopathie folgen kann oder nicht. Ein Arzt aus Deutschland, Samuel Hahnemann, entwickelte diese Lehre vor mehr als 200 Jahren. "Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden", erklärte Hahnemann. Homöopathische Grundstoffe, zu denen auch ungenießbare und giftige Pflanzen gehören, werden stark verdünnt, oft so stark, dass praktisch nichts von ihnen übrig bleibt.
Ein alternatives medizinisches System, eine bewährte Sache, sagen die einen. Hokuspokus, sagen die anderen und verweisen darauf, dass bisher noch keine wissenschaftliche Studie belegt hat, dass mehr wirkt als der Placeboeffekt.
Grit Montag sitzt am Tisch in ihrer Küche in Kloster Lehnin, vom Fenster schaut man über Wiesen auf das Ufer eines Sees, die Söhne toben draußen in der Herbstsonne. Sie haben ihren Infekt im Winter gut überstanden, ohne Arztbesuch, ohne starke Medikamente.
Sie wirkt nicht so, als ginge sie fahrlässig mit der Gesundheit ihrer Söhne um. Ganz im Gegenteil. Nachdem ihr Mann Sascha und sie vor einigen Jahren beschlossen hatten, von Berlin aufs Land zu ziehen, hat sich Grit Montag im Ort als Logopädin selbständig gemacht. Sie ist 37 Jahre alt, sie teilt sich die Erziehung mit ihrem Mann, aber in Gesundheitsfragen trifft eher sie die Entscheidungen. Sascha Montag arbeitet als Fotojournalist, er hat seine Frau und seine Söhne für diesen Artikel fotografiert.
Sie selbst sei als Kind "ganz klassisch" behandelt worden, wenn sie krank war, oft mit Antibiotika. Als sie Mutter wurde, habe sie immer mehr darüber nachgedacht, ob sie es auch so halten sollte.
Sind viele Medikamente nicht auch ziemlich gefährlich? Ihr eigenes Immunsystem ist eher schwach, sind die Antibiotika daran schuld? Wie viel Chemie darf man einem Kind zumuten?
Sie sprach mit Freunden, las viel, besuchte Heilpraktiker. Schließlich empfahl ihr eine Freundin den Homöopathen aus Berlin, der inzwischen schon fast zur Familie gehört. Er behandelt sie und die Kinder, sie hat ihn Verwandten empfohlen. Der Mann ist Arzt und Homöopath, und wenn Grit Montag von ihm spricht, würde man sich am liebsten gleich für einen Termin bei ihm anmelden.
Anderthalb Stunden dauert für sie die Anreise zu einem Praxisbesuch; wenn sie kommt, nimmt er sich immer Zeit. Viel Zeit. Mindestens eine Stunde. Er fragt nach den Beschwerden, aber auch nach allem, was im Leben der Familie gerade passiert, er betrachtet die Kinder genau. Er weiß, welcher der Jungs stiller, welcher wilder ist. Er kennt die Krankengeschichte der ganzen Familie. Die Jungs haben zum Glück bisher kaum etwas gehabt. Grit Montag kann dem Arzt jederzeit eine E-Mail schreiben oder bei ihm anrufen. Er meldet sich immer zurück und hört auch am Telefon geduldig zu. Er bestimmt keine Behandlungsmethode, sondern macht Vorschläge.
"Es fühlt sich gut und richtig so an. Ich möchte selbst mitdenken", sagt sie. Wenn ihre Kinder erkältet sind, gibt sie ihnen Schüßler-Salze oder wendet Hausmittel an. Wenn die Sache ernster wird, wendet sie sich an den Arzt. Er sehe an einem kranken Kind nicht nur ein Symptom. Er sehe Paul oder Edgar oder Bruno. Ein ganzes Kind, bei dem gerade etwas nicht stimmt.
Meistens verschreibt er Globuli; Grit Montag sagt: "Ich kann mich darauf einlassen, auch wenn ich mit meinem Vorstellungsvermögen nicht ganz folgen kann." Sie habe schließlich erlebt, wie gut die Kügelchen wirken.
Die Globuli helfen ihren Kindern, das sagen viele Eltern. Auch eine Menge Erwachsene haben gute, persönliche Erfahrungen mit den Kügelchen gemacht. Wer heilt, hat recht, sagen sie.
Die Kritiker der Homöopathie halten mit den wissenschaftlichen Studien dagegen. Jede Heilung ist ein Einzelfall, erklären sie, eine Anekdote, nichts weiter.
Aber wie sollen Eltern ihre Kinder betrachten, wenn nicht als Einzelfälle?
Das wünschen sie sich auch von den Ärzten, die ihre Kinder behandeln. Individuelle Therapien, keine Standardlösungen.
Kirsti Kriegel sagt, dass sie eigentlich zu rational sei für die Theorie hinter der Homöopathie. Aber diese Ärztin habe Matti bisher immer mit den Kügelchen wieder gesund bekommen, "und ich bin total dankbar, dass das ihr erster Weg ist".
Sie läuft mit ihrem Sohn durch den Treptower Park, es ist der Tag vor den Herbstferien. Matti sammelt Kastanien, mit denen er am Wochenende die Tiere in einem Wildgehege füttern will.
Die Kinderärztin, zu der Kirsti Kriegel mit Matti geht, hat eine große Schublade in ihrem Schreibtisch. Sie untersucht Matti, auch sie nimmt sich viel Zeit. Dann zieht sie ihre Schublade auf. "Da sind Tausende Kügelchen drin, in verschiedenen Größen", sagt Kirsti Kriegel. Sie lacht, weil sie ahnt, dass das ein bisschen nach Magie klingt.
Kirsti Kriegel bekam die Adresse der Ärztin von ihrer Hebamme, schon beim ersten Besuch hatte sie ein gutes Gefühl. Als Matti mal eine Mittelohrentzündung hatte, schaute Kirsti Kriegel trotzdem etwas skeptisch in die Schublade. Aber die Ärztin sagte, die Entzündung sehe noch nicht schlimm aus. Matti bekam Globuli. Seine Mutter entschied sich, der Ärztin zu vertrauen. Nach drei Tagen war Matti gesund.
"Ob es die Kügelchen waren? Weiß ich nicht", sagt Kirsti Kriegel. Sie weiß, dass es ihrem Sohn bisher nach jeder Behandlung mit Globuli rasch besserging. Auch sie ist früher selbst sehr oft mit Antibiotika behandelt worden. Sie war anfällig für Entzündungen von Hals und Rachen, irgendwann schlugen die Medikamente nicht mehr an. Nachdem ihr als Erwachsene die Mandeln entfernt worden waren, stellte ein Arzt hohe Entzündungswerte in ihrem Blut fest. Einen "Rheumawert" habe der Arzt das genannt. Sie hatte aber gar keine Symptome von Rheuma. Der Arzt riet ihr trotzdem, sicherheitshalber Cortison einzunehmen, und machte Witze über die Nebenwirkungen.
Kirsti Kriegel war dann bei vielen Ärzten, auch bei einer Heilpraktikerin, der Wert blieb hoch, bis ihr ein Rheumatologe sagte, dass ihr Körper wohl noch auf die ständigen Entzündungen aus der Zeit vor ihrer Mandelentfernung eingestellt sei.
"Nach so einer Erfahrung ist man mit einem Kind extrem vorsichtig", sagt sie.
Annika Isterling, eine Yoga-Lehrerin aus Hamburg, und ihr Mann vertrauten den Ärzten, der modernen Medizin, als es ihrem Sohn schlechtging. Der Kleine war noch kein Jahr alt, ständig entzündeten sich seine Ohren, oft bekam er auch hohes Fieber.
Annika Isterling ist die Tochter einer Krankenschwester, auch sie wuchs fern von alternativen Behandlungsmethoden auf. Die Ärzte verschrieben ihrem Sohn Antibiotika, schließlich sagten sie, der Junge müsse wohl Paukenröhrchen bekommen, Röhrchen aus Silikon, die in das Trommelfell gesetzt werden und dafür sorgen sollen, dass das Mittelohr besser belüftet wird, sich nicht mehr so leicht entzündet.
Das war der Moment, in dem Annika Isterling zum ersten Mal einen Heilpraktiker aufsuchte, einen Kinderheilpraktiker. Ihr Sohn war ein Jahr alt. Seine Ohren waren schon wieder entzündet. Aber das Kind operieren lassen? Das wollten Annika Isterling und ihr Mann verhindern, falls irgendwie möglich.
Der Heilpraktiker gab ihrem Sohn ein homöopathisches Mittel, "ein Akutmittel", sagt Annika Isterling. Es ging ihrem Kind nach wenigen Tagen wieder gut. Paukenröhrchen bekam er nie. Inzwischen gehen auch die Eltern zum Homöopathen, der inzwischen fünfjährige Sohn und die dreijährige Tochter sowieso, und Annika Isterling sagt zu den Globuli: "Die Kinder sprechen so gut darauf an. Ich bin sehr offen für das, was die Natur kann."
Medizindozent Gottschling sagt, dass er sich über solche Geschichten freue. Natürlich sei es gut, einem Kind eine Operation zu ersparen, ein starkes Medikament, Nebenwirkungen. Vor allem aber freue er sich über Eltern, die offen darüber sprechen, wie sie ihr Kind behandeln lassen.
Sven Gottschling ist Chefarzt für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlands in Saarbrücken. In seiner Habilitationsschrift, in Studien und Umfragen hat er sich mit Komplementär- und Alternativmedizin in der Kinderheilkunde befasst. Wie viele Kinder werden alternativmedizinisch behandelt? Warum möchten ihre Eltern das? Wie wirken sich diese Methoden aus?
In mehreren Umfragen hat Gottschling die Erfahrungen von insgesamt rund 2500 Familien in Deutschland gesammelt. Die Eltern wurden nach 70 alternativen Behandlungsmethoden gefragt, von Akupunktur über Eigenbluttherapien bis zur Geistheilung. Waren ihre Kinder schon einmal mit so einer Methode behandelt worden?
In einer Befragung von 405 Familien gaben 53 Prozent der Eltern von Kindern, die im Großen und Ganzen gesund waren, und 59 Prozent der Eltern von chronisch kranken Kindern an, schon einmal alternative Heilmethoden für sie versucht zu haben. Am häufigsten vertrauten die Eltern auf die Homöopathie. Aber auch die anthroposophische Medizin, basierend auf Kräuteranwendungen, Einreibungen, schwer abzugrenzen von der Homöopathie, sei beliebt, sagt Gottschling. Gefolgt von Akupunktur, Bachblüten, hochdosierten Vitaminen. Auch nach den Gründen fragte Gottschling; am häufigsten gaben die Eltern an, sie wollten das Immunsystem stärken, eine körperliche Stabilisierung erreichen; bei schwerkranken Kinder wurde auch "nichts unversucht zu lassen" oft genannt.
Gottschling sagt, dass er als Arzt damit lebe könne, wenn Kinder bei alltäglichen Krankheiten homöopathisch behandelt werden. Es gebe keine Nebenwirkungen, keine Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Die meisten Eltern gaben in den Befragungen zudem an, alternative Behandlungsmethoden parallel zur sogenannten Schulmedizin zu verwenden.
Als Wissenschaftler legt Gottschling großen Wert auf einen Satz, der den aktuellen Forschungsstand zusammenfasst: "Es gibt bisher überhaupt keine Daten über die Wirksamkeit von Homöopathie bei Kindern. Allerdings auch keine, die die Wirkungslosigkeit belegen würden. Im Grunde genommen ist dieser Bereich bislang nicht angemessen erforscht." Aber er sagt auch: "Man muss den psychischen Nutzen anerkennen."
Gottschling sagt, dass Eltern und Kinderärzte über alle Fragen der Behandlung sprechen sollten. So offen wie möglich, ohne Polemik, auf beiden Seiten. Auch darüber, was Heilpraktiker möglicherweise noch nebenbei verschreiben. Manche pflanzliche Medikamente vertragen sich nicht mit anderen Medikamenten.
Eltern wollen, dass etwas passiert, wenn ihr Kind krank ist. Sie leiden mit. Sie haben Angst um ihre Kinder. Sie haben auch Angst vor Nebenwirkungen - von Eingriffen, von Medikamenten. Aber viele wollen nicht auf jede Therapie verzichten. Sie wollen ein Mittel, ein Ritual, eine Hoffnung.
"Auch die meisten herkömmlichen Hustensäfte bewirken medizinisch kaum etwas", sagt Gottschling.
Die Kügelchen sind mit etwas versetzt, an das man glauben kann. Sie helfen den Eltern dabei abzuwarten. ■