„Eine Woche abwarten“
SPIEGEL: Herr Dr. Egidi, wie viele Ihrer Patienten würden auch gesund werden, ohne zum Arzt zu gehen?
Egidi: Die meisten. Ich habe Patienten, die kommen mit Schnupfen, mit Husten, mit Rückenschmerzen oder Durchfall. Diese Krankheiten brauchen in aller Regel keinen Arzt. Sie heilen von selbst aus.
SPIEGEL: Was machen Sie in diesen Fällen?
Egidi: Zuerst frage ich, ob die Patienten überhaupt eine Therapie wollen oder ob ich ihnen nur den berühmten gelben Schein aushändigen soll ...
SPIEGEL: Viele suchen also gar keine Hilfe gegen ihre Bagatellbeschwerden, sondern brauchen eine Krankschreibung?
Egidi: Sehr viele. Der Grund dafür ist, dass wir in Deutschland eine sehr restriktive Arbeitsunfähigkeitsregelung haben. In vielen Ländern ist eine Krankschreibung vom Arzt gar nicht erforderlich. Bei uns sitzen Patienten mit Schniefnase und Durchfall in der Praxis, stecken die Belegschaft und die anderen Patienten an. Das ist völlig unsinnig, auch unter dem seuchenhygienischen Aspekt.
SPIEGEL: Ständig hört man, die Deutschen gingen ohnehin zu oft zum Arzt.
Egidi: Das stimmt. Ich vermute, das liegt an unserem früheren Abrechnungswesen. Da wurde jede Einzelleistung vergütet. In dieser Zeit haben deutsche Ärzte extrem verdient, weil sie jede Menge Umsatz gekurbelt haben.
SPIEGEL: Wie das?
Egidi: Sie haben die Anzahl der Behandlungen künstlich erhöht, indem sie mit ihren Patienten regelmäßig Folgetermine vereinbarten. Auch wenn das medizinisch nicht notwendig gewesen wäre. Dadurch haben die Ärzte einen Markt und eine Anspruchshaltung bei Patienten geschaffen.
SPIEGEL: Nehmen Patienten ihre eigene Befindlichkeit wahr, wissen sie schon, was sie haben, wenn sie zu Ihnen kommen?
Egidi: Unsere Aufgabe als Allgemeinmediziner ist es, im Trüben zu fischen. Es passiert häufig, dass Patienten sagen, sie hätten Kreislaufbeschwerden oder ihnen tue der Rücken weh. Die Ursache liegt aber ganz woanders. Wir müssen den Patienten dann so befragen, dass er uns gewissermaßen zu seinem eigentlichen Problem führt.
SPIEGEL: Wie geht das?
Egidi: Neulich sagte mir eine Patientin, ihr sei so schwindelig. Anstatt sie gleich nach Kreislaufbeschwerden zu befragen, hake ich nach: Was heißt denn das? Da erklärt sie, sie habe Kopfschmerzen und manchmal Rückenschmerzen und sei immer so schlapp. Ich lasse sie dann reden. Und irgendwann sagt sie: Ich weiß, das kommt vom Nacken. Daraufhin untersuchte ich den Nacken und stellte eine Bewegungsstörung an der Halswirbelsäule fest.
SPIEGEL: Viele Leute recherchieren im Internet und haben ganz bestimmte Vorstellungen von ihrer Behandlung. Wie gehen Sie damit um?
Egidi: Offen. Die Patienten haben eine Vermutung, googeln und sagen mir: Ich habe da diesen Hautausschlag, ist das Nesselsucht? Oder: Das sieht aus wie eine Gürtelrose. Wenn es stimmt, sage ich: Gut gemacht!
SPIEGEL: Nötigen Patienten Sie auch, etwas Bestimmtes zu verschreiben?
Egidi: Es gibt Patienten, die fordern: Spritze! Cortison! Schlaftablette! Antibiotikum! Doch bei mir gibt es so gut wie nie ein Schlafmittel, eine Spritze bei Rückenschmerzen oder ein Antibiotikum bei Husten auch nur extrem selten.
SPIEGEL: Und wenn Patienten auf eine bestimmte Behandlungsmethode - etwa ein Antibiotikum - bestehen?
Egidi: Ich verschreibe nur das, was ich vertreten kann. Insbesondere bei Antibiotika habe ich meine Grenzen. Wenn ich überzeugt bin, dass mein Patient es nicht braucht, wäre es potentiell gefährlich. Zudem trage ich nicht nur Verantwortung für den einzelnen Patienten, sondern auch für die Allgemeinheit. Wir haben eine Situation, die sich dramatisch zuspitzt, da viel zu viele Antibiotika gegeben werden. Nicht nur in Arztpraxen, sondern auch in Tierställen. Das führt zur Multiresistenz bei Bakterien. Schon deshalb muss ich die Verordnungsrate niedrig halten.
SPIEGEL: Wie gehen Sie mit Patienten um, die nach alternativer Medizin fragen?
Egidi: Von Verfahren wie Homöopathie halte ich nicht viel. Aber es gibt eben Patienten, die wollen keinen Mediziner, sondern einen Heiler, eine Art Voodoo-Zauberer, an dem sie sich festhalten können. Wenn der Patient drauf besteht, sage ich: Probieren Sie es halt aus. Außer natürlich, wenn der Patient ernsthaft krank ist.
SPIEGEL: Manchmal hilft es ja den Menschen, einfach nur etwas verordnet zu bekommen - und sei es etwas Harmloses wie Echinacin. Nutzen Sie diesen Effekt?
Egidi: Selten. Aber wenn ein Patient unbedingt eine Spritze fordert, dann spritze ich halt Kochsalzlösung. Dann wirkt der Akt des Spritzens und nicht das Medikament. Ich habe auch nichts gegen Echinacea. Die Forschungen der Cochrane-Collaboration haben erwiesen, dass es wirkt, wenn die Patienten daran glauben.
SPIEGEL: Mehr als die Hälfte der Hausärzte gibt in Umfragen an, Naturheilverfahren wie Neuraltherapie, Phytotherapie oder Akupunktur einzusetzen. Was halten Sie davon?
Egidi: Es gibt Naturheilmittel, die wirksam sind. Pfefferminzöl hilft bei Kopfschmerzen wie Paracetamol, wenn man es auf die Schläfen tupft. Nimmt man es in Kapselform, wirkt es gegen Bauchbeschwerden. Quarkwickel bei Halsschmerzen lindern auch. Bringt es etwas, viel zu trinken, wenn ich erkältet bin? Nein. Es gibt eben auch Naturheilverfahren, die nicht helfen.
SPIEGEL: Patienten klagen oft, sie würden zu wenig begleitet, da bei der schulmedizinischen Behandlung das persönliche Gespräch zu kurz komme.
Egidi: In Dänemark sieht ein Hausarzt 24 Patienten am Tag, in Deutschland im Schnitt 50 bis 100. Hat man zu viele Patienten, wird eine ausgiebige Beratung schwierig. Außerdem wird in Deutschland die kommunikative Fähigkeit des Arztes zu wenig geschult, vor allem bei Ärzten, die schon im Beruf sind. In England zum Beispiel ist das eine Selbstverständlichkeit. Inzwischen kommen zumindest deutsche Universitäten langsam in Gang. In sogenannten Skills Labs trainieren Medizinstudenten mit Schauspielern ihre soziale Kompetenz, um den Patienten besser beraten zu können.
SPIEGEL: Wie findet der Patient denn grundsätzlich heraus, wann er wirklich zum Arzt gehen sollte - und wann nicht?
Egidi: Eine Faustregel für Erwachsene bei Bagatellbeschwerden wie Husten, Schnupfen oder Rückenschmerzen ist: Wenn diese Beschwerden innerhalb einer Woche abklingen, sind sie in den meisten Fällen harmlos. So lange kann man abwarten und braucht keine Medizin. Bäuerliche Gesellschaften kannten noch Hausmittel, um harmlose Beschwerden zu lindern. Mit der Verstädterung ist viel von diesem Wissen verlorengegangen. Das führt auch zur Verunsicherung bei Arztbesuchen. Viele Menschen haben verlernt, was ihre Großeltern noch wussten: dass ich mit Achselschweiß nicht zum Arzt renne. Oder dass ich mir bei Halsschmerzen einfach einen Salbei-Tee koche.
Interview: Christiane von Korff
ZUR PERSON
GÜNTHER EGIDI
Der promovierte Arzt, 57, hat eine Praxis im Bremer Arbeiter- und Rentner-Stadtteil Huchting. Er ist Mitglied des Hausärzteverbands Bremen und der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, die sich für unabhängige Wirksamkeitsstudien einsetzt.