Alles so schön grün hier
Von wegen "sanfte Medizin": Mit kräftigen Stößen zerstampfen die fünf Frauen frisch gesammelte Kräuter in ihren steinernen Mörsern - Beifußbüschel, Schafgarbeblüten, Ringelblumen und Beinwellwurzeln. Laut ist es in dem engen, orangefarben getünchten Kellerraum nicht weit von Storkow in der Mark Brandenburg. Am Morgen hatte noch andächtige Stille geherrscht, als die Teilnehmer des "Heilpflanzen-Intensivkurses" Weihrauch, Lavendel und Rosenblüten auf einem Stückchen glühender Kohle verbrannten - "damit wir alles, was Alltag ist, mit dem Rauch abgeben und fortziehen lassen", deklamierte die Kursleiterin Kristin Peters, die ihr Wissen über Heilpflanzen an interessierte Laien, Heilpraktiker oder Krankenschwestern weitergibt.
Die Natur als Apotheke steht hoch im Kurs: Tees, Tinkturen, Salben, Öle, Extrakte oder Essenzen - rund 80 Prozent der Deutschen bevorzugen pflanzliche Arzneimittel, ergab eine Umfrage des Instituts für Naturheilkunde der Universität Köln. Die Apotheken machen jährlich rund 1,2 Milliarden Euro Umsatz mit manchmal mittelalterlich anmutenden Präparaten etwa aus Mönchspfeffer, Ignatiusbohne, Tigerlilie oder Rosskastanie. Und das, obwohl die meisten Pflanzenarzneien nicht im Katalog der Krankenkassen stehen. Denn nur von wenigen wissen Forscher, ob sie wirklich helfen und wenn ja, warum.
Einige davon haben immerhin schon den Weg in die ärztlichen Behandlungsleitlinien gefunden. So gehören Johanniskraut-Präparate mittlerweile zur gängigen Therapie leichter bis mittelschwerer Depressionen. Spezielle Ginkgo-Extrakte werden sogar vom kritischen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen als genauso wirksam gegen Demenz im Frühstadium eingestuft wie konventionelle Mittel, die auf chemisch synthetischen Wirkstoffen basieren.
Inzwischen folgen auch große Pharmafirmen dem Kräutertrend. Sie haben verstanden, dass sich mit Pflanzenheilmitteln, sogenannten Phytopharmaka, Geld verdienen lässt. So kaufte der sonst auf Chemie setzende Bayer-Konzern im Sommer den Phytopharmaka-Hersteller Steigerwald. Auch Boehringer Ingelheim, eher für Biotech-Arzneien bekannt, verdient mit, seit ein Präparat aus rotem Weinlaub in Studien an rund 500 Patienten schmerzlindernde Wirkung bei bestimmten Venenerkrankung zeigte. Und die Darmstädter Pharmafirma Merck hat in einer Studie mit 143 Patienten gezeigt, dass Beinwellwurzel-Extrakt mindestens so gut gegen Muskel- und Gelenkschmerzen wirkt wie konventionelle Salben mit Diclofenac.
Im Kellerraum bei Storkow sind die knubbeligen Stücke der Beinwellwurzel auch nach fünf Minuten noch immer nicht zu der klebrigen, "popelartigen" Masse geworden, die Kristin Peters in Aussicht gestellt hat. Die Frauen, die nach Kräften in ihren Mörsern herumstößeln, geraten ins Schwitzen: Die Bankangestellte Heike, die sich mit einer Phytotherapie-Praxis ein zweites Standbein aufbauen will; die Heilpraktikerin Eike, die die Pflanzen, die sie verschreibt, besser kennenlernen und auch mal selbst verarbeiten will; die Übersetzerin Kristin, die sich einfach für Natur interessiert; die Rentnerin Nora, die sogar schon eine Ayurveda-Ausbildung in Indien gemacht hat.
Kursleiterin Peters, eine promovierte Agrarwissenschaftlerin, atmet tief durch, dann beantwortet sie die Frage, warum man die Pflanzen eigentlich nicht im Mixer zerhäckseln könne: "Ich bin der Meinung, dass durch die industrielle Herstellung die Nähe zum Produkt und die Qualität verlorengeht. Da wird man bestimmt auch in Zukunft Beweise finden." Sie besteht auf dem Mörsern, damit die "Liebe in das Produkt übergeht". Es mache ja auch einen Unterschied, wenn man die Kräuter sammelt, während man gedanklich noch bei der Steuererklärung ist: "Dann habe ich die Pflanze nicht richtig wahrgenommen, und auch die Pflanze fühlt sich nicht richtig gewürdigt", sagt Peters mit Nachdruck. "Das macht sich im Heilmittel bemerkbar."
Kann das sein? Theodor Dingermann kennt die Welt der Pflanzen sehr genau, für Mystik hat er nichts übrig. "Ein gutes pflanzliches Arzneimittel ist ein Hightech-Produkt, das hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards erfüllen muss", sagt der Molekularbiologe. Dingermann ist Seniorprofessor am Institut für Pharmazeutische Biologie der Universität Frankfurt am Main, er macht sich seit Jahrzehnten für eine wissenschaftlich fundierte Phytotherapie stark.
Vom Heilkräuter-Heimwerken hält er nicht viel: Natürlich könne sich jeder selbst eine Kamillensalbe bereiten, aber man dürfe sich nicht einbilden, dass dabei ein zuverlässig wirksames Medikament entsteht. "Da nimmt man mal mehr, mal weniger Kamille, lässt sie länger oder kürzer köcheln - das ist doch alles viel zu variabel."
Tatsächlich ist der Weg vom Kraut zum echten pflanzlichen Arzneimittel ein komplexer Prozess, der mit Selbstgesammeltem und Hexenküche nicht mehr viel zu tun hat.
Es beginnt damit, dass der pflanzliche Rohstoff, die sogenannte Droge, von der richtigen Art stammen muss und von einer Sorte, deren Wirkstoffanteil verlässlich gleich bleibt. Mitunter nämlich ähneln sich Pflanzen oder Wurzeln so, dass sogar kommerzielle Hersteller sie verwechseln, wie das Beispiel einer Diätpille zeigt. Anstelle der chinesischen Heilpflanze Stephania tetrandra hatte ein Produzent die im Chinesischen ähnlich heißende, aber giftige und krebsauslösende Aristolochia fangchi verarbeitet. Allein in Belgien erkrankten deshalb Anfang der neunziger Jahre über hundert Frauen an Nierenversagen, 18 von ihnen entwickelten später sogar Nierenkrebs.
Entscheidend für den Nutzen einer pflanzlichen Arznei ist jedoch nicht allein der Rohstoff, der aus Blättern, Blüten, Früchten, Stängeln, Wurzeln oder dem gesamten Kraut entsteht. "Das Produkt ist der Extrakt", erklärt Dingermann. Je nachdem, wie ein und dieselbe Pflanze verarbeitet und die wirksamen Inhaltsstoffe extrahiert werden, entstehen völlig unterschiedliche Medikamente.
Wässrige Extrakte wie Tee enthalten andere Bestandteile der Pflanze als Öle oder Auszüge mit Hilfe von Lösemitteln wie Methanol, Ethanol oder Aceton. Jede Variante wirkt unterschiedlich. "Deshalb sind Überschriften wie 'Ginkgo wirkt' oder 'Ginkgo wirkt nicht' einfach Blödsinn", erklärt Dingermann. Ginkgo-Extrakt ist eben nicht gleich Ginkgo-Extrakt. Darum hat der Karlsruher Hersteller Schwabe ein patentiertes Verfahren entwickelt, um die giftige Ginkgolsäure aus der Ausgangssubstanz seines Produkts zu entfernen.
Um den Wirkstoffgehalt zu standardisieren und damit verlässliche und sichere Dosierungen zu ermöglichen, betreiben seriöse Hersteller einigen Aufwand. 300 Tonnen pflanzliche Rohstoffe verarbeitet beispielsweise die Phytopharmaka-Firma Bionorica in Neumarkt bei Nürnberg pro Jahr. Um aus ihnen die Wirkstoffe herauszulösen und aus den Extrakten rund 25 Millionen Tinkturen, Säfte oder Pillen herzustellen, benötigt Bionorica 300 000 Liter Ethylalkohol und 750 000 Liter Wasser.
Zwar haben die Großeltern von Geschäftsführer Michael Popp in den dreißiger Jahren ihre ersten Tees und Extrakte noch in Heimarbeit für den Freundeskreis produziert. Doch inzwischen zeugen sterile, glänzende Rohrleitungen und Mitarbeiter mit Mundschutz, Kittel und Handschuhen davon, dass der Unterschied zwischen Phytopharma- und Pharmaproduktion nur am Ausgangsstoff und am besseren Geruch zu erkennen ist.
Im Analytik-Labor nebenan bemühen sich die Firmenforscher um konstante Qualität der Extrakte. Das ist alles andere als trivial, weil man wie bei vielen pflanzlichen Arzneien gar nicht weiß, welche Substanzen für die Wirkung verantwortlich sind. Die Wissenschaftler behelfen sich damit, die Konzentration bestimmter "Markersubstanzen" zu messen. So lange die in einer Stichprobe in ausreichender Menge nachzuweisen sind, gehen sie davon aus, dass genug Wirkstoffe vorhanden sind - und dass die richtige Pflanze geerntet wurde.
Erst wenn auf diese Weise sichergestellt ist, dass ein Extrakt über Jahre eine gleichbleibende Qualität und Wirkstoffkonzentration enthält, macht es überhaupt Sinn, seine Wirksamkeit in klinischen Studien zu testen, erklärt der Frankfurter Arzneiexperte Dingermann.
Das allerdings macht bisher kaum ein Hersteller. Einer Studie des Komitees Forschung Naturmedizin zufolge, in dem Dingermann als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates tätig ist, gibt es zwar über hundert unterschiedliche Johanniskraut-Präparate, aber nur neun seien in klinischen Studien getestet worden. Doch alle sind zugelassen und beziehen sich auf die Wirksamkeitsforschung, die einige wenige Hersteller finanziert haben.
Forschung lohnt sich für viele Firmen nicht. Das liegt am Zulassungsverfahren, das Medikamente absolvieren müssen, bevor sie auf den Markt kommen dürfen. Phytopharmaka genießen dabei noch immer einen Sonderstatus.
Synthetische Medikamente müssen vor ihrer Zulassung in drei streng reglementierten Studienphasen auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit untersucht werden. Ein neues Johanniskraut-Mittel dagegen bekommt seinen Stempel allein dadurch, dass auf bereits zugelassene Präparate und die darüber vorliegenden Daten verwiesen wird.
Diese Sonderbehandlung erklärt Norbert Schmacke, Gesundheitswissenschaftler an der Universität Bremen, mit Interessen von Politikern quer durch alle Parteien: Weil Pflanzenmittelchen populär sind, will niemand der Spielverderber sein, der Nachweise für ihre Wirksamkeit fordert.
Das führt aber dazu, dass Patienten nicht sicher sein können, dass ihr Medikament überhaupt wirkt. Vielleicht schadet es sogar. Zudem bestraft die Behördenpraxis Firmen, die in teure klinische Forschungsprojekte investieren, um Wirksamkeit zu belegen - denn andere Firmen müssen ja später nur noch auf diese Studie verweisen und können mitverdienen. "Phytopharmaka müssten genauso beurteilt werden wie andere Arzneimittel auch", fordert Schmacke.
Der Unterschied zwischen Phytomedizin und Schulmedizin ist ohnehin ein künstlicher. Die Schulmedizin wäre ohne Heilpflanzen gar nicht entstanden. Die "Apotheke der Welt", zu der sich die deutsche Pharmakologie vor etwa 200 Jahren zu entwickeln begann, gründete ihren Erfolg auf dem Erfahrungswissen der Vorfahren über heilende Kräuter.
Aus Opium isolierte der Paderborner Apothekergehilfe Friedrich Sertürner 1804 das Schmerzmittel Morphin. 1828 extrahierte der Münchner Pharmazeut Johann Buchner den Stoff Salicin aus Weidenrinde, die bereits in der Antike gegen Schmerzen eingesetzt wurde - das Schmerzmittel Aspirin ist eine Weiterentwicklung aus dieser Substanz. Das Herz-Kreislauf-Mittel Atropin aus Tollkirsche oder Stechapfel, das Gicht- und Krebs-Mittel Colchizin aus der Herbstzeitlosen, das Herz-Mittel Digitalis aus Rotem oder Wolligem Fingerhut - die Liste der heute gängigen Arzneimittel aus Wirkstoffen, die in traditionellen Heilpflanzen enthalten sind, ist lang (siehe Seite 126).
Bis zur Entwicklung von moderner Chemie und Pharmazie blieb den Menschen gar nichts anderes übrig, als auf die heilende Wirkung der Natur zu setzen. Dennoch bekamen sie kaum eine schwere Krankheit in den Griff.
Das liegt auch daran, dass jede Heilpflanze ein Gemisch aus vielen verschieden Wirkstoffen ist, nicht gleichzusetzen mit den hochkonzentrierten Einzelstoffen. Solche Vielstoffgemische wirken in der Regel schwächer oder zumindest anders. Das kann von Vorteil sein, weil die Nebenwirkungen geringer sind - ist häufig aber von Nachteil, weil die Wirkung weniger kräftig ausfällt.
Gesichertes Wissen, seit wann die Menschen Heilkräuter gezielt nutzen, gibt es nicht. Bei der Gletschermumie "Ötzi" fand man Birkenporlinge, Pilze, die gegen Darmparasiten helfen sollen. Ob Ötzi sie vor mehr als 5000 Jahren allerdings tatsächlich gezielt gegen Würmer im Bauch verwendete, ist unsicher. Gleiches gilt für die Interpretation, schon die Neandertaler hätten Schafgarbe und Kamille als Heilpflanzen und nicht nur als Nahrung benutzt - deren Reste fanden Forscher im fossilen Zahnstein der Frühmenschen.
Bis heute ist die Pflanzenheilkunde überwuchert von vorwissenschaftlichen Traditionen und scheinbar uraltem Halbwissen. Das lernt man bei einem Spaziergang mit Martin Koradi durch das Zürcher Oberland bei Winterthur. Auf seinen "Phytotherapeutischen Expeditionen" vermittelt der Diplom-Drogist sein Wissen. In seinem "Heilpflanzen-Info-Blog" versucht er wie kaum ein anderer, mystisches Hokuspokus von bedenkenswerten Erfahrungen und gesichertem Wissen zu trennen.
Wer mit ihm über den Chöpfi, einen Hügel mit kopfähnlichen Sandstein-Formationen, gewandert ist, hat am Ende mehr Fragen als Antworten. Ein gutes Zeichen, denn "Scharlatane sind daran zu erkennen, dass sie so tun, als sei scheinbar alles geklärt, und Fragen nicht zulassen", meint Koradi.
Als der Weg durch ein Stück Wald führt, hockt sich der Pflanzenheilkundler neben ein unscheinbares, kniehohes Kraut mit feinen, fünfblättrigen rosa Blüten, den Stinkenden Storchenschnabel. Wenn die Blüte verwelkt ist, sieht die Frucht aus wie der Schnabel des Vogels. "Man hat das Kraut früher vor allem für Hautkrankheiten verwendet, weil die roten Stängel als Hinweis darauf interpretiert wurden."
Tatsächlich enthält der Storchenschnabel Gerbstoffe, die gegen nässende Ekzeme brauchbar sein können, meint Koradi, der aber andere, wirksamere Pflanzen bevorzugen würde. "Außerdem wird in Internetforen für unerfüllten Kinderwunsch Storchenschnabel-Tee ernsthaft empfohlen", sagt Koradi dann noch und zuckt etwas hilflos mit den Schultern. "Was soll man da sagen?"
Solche Behauptungen kann sich Koradi nur durch die sogenannte Signaturenlehre erklären: Demnach zeigt die Pflanze durch ihre Form und Farbe, gegen welches Leiden sie hilft. So deuten dreilappige, leberförmige Blätter eben an, dass das Kraut der Leber guttut, während die gelben Blüten von Löwenzahn und Schöllkraut auf eine Gallenwirksamkeit hinweisen. "Dahinter steht der Gedanke, dass der Schöpfer die Heilpflanzen geschaffen habe, um uns zu heilen. Er habe diese Zeichen eingebaut, damit wir sie erkennen können", erklärt Koradi, dem diese Denkweise viel zu anthropozentrisch ist.
Dennoch hat die Signaturenlehre wesentlich zur Auswahl der Pflanzen beigetragen, die heute als Heilmittel benutzt werden. Wer bei den Pflanzen nach Signalen für ihre Wirkung sucht, wird zur Behandlung von Gallenleiden gelbe Pflanzen testen - schließlich ist die Gallenflüssigkeit ja gelblich. "Und wenn man dann Schöllkraut, Löwenzahn, Goldrute oder Ähnliches findet, bestätigt sich die Signaturenlehre - scheinbar", sagt Koradi und zeigt wieder auf den Storchenschnabel. "Aber wer glaubt, dass diese Pflanze die Form eines Storchenschnabels hat, um Menschen ihre nachwuchsfördernde Wirkung anzuzeigen, der muss doch auch daran glauben, dass der Storch bei der ganzen Sache eine zentrale Rolle spielt, oder?"
Koradi lacht, doch es klingt auch Frust mit. Sicher schade es nicht, wenn Frauen Storchenschnabel-Tee schlürfen - "und wenn der Mann mittrinkt, dann klappt's vielleicht sogar". Aber solche Mythen verhindern, dass die Phytotherapie von Ärzten wirklich ernst genommen wird und vielen Patienten zugutekommt.
Nicht selten kämen Patienten mit der Frage, ob beispielsweise die Misteltherapie eine Alternative zur Chemotherapie sei, sagt Saller: "Und dann muss man erst einmal ganz klar sagen, nach allem was wir wissen: nein!" Niemand soll auf die gesicherten Methoden der Schulmedizin verzichten.
"Wir empfehlen aber, pflanzliche Arzneimittel einzubeziehen, um zum Beispiel den Auswirkungen von Strahlentherapie vorzubeugen und Übelkeit, Erschöpfung oder Depression zu behandeln." Und manchmal zeigten sich sogar Wirkungen darüber hinaus, die es in Studien zu überprüfen gelte: Bei Hirntumoren mildern Weihrauchpräparate nicht nur die Nebenwirkung der herkömmlichen Medikamente, die Ärzte haben auch teilweise verblüffende Rückbildungen beobachtet, berichtet Saller: "Solche Patienten gewinnen durch Phytotherapie nicht nur an Lebensqualität, sondern vielleicht auch an Lebenszeit - aber das sind nur sehr vorsichtige Spekulationen."
Was wirkt, kann immer auch Nebenwirkungen haben. Berichte gibt es beispielsweise über Unwohlsein, Durchfall und Kopfschmerzen nach dem Gebrauch von Nachtkerzenöl. Bei Ginkgo-Kuren kann es zu Erbrechen und Durchfall kommen, durch Tee mit Wermutkraut sogar zu Fehlgeburten. Eisenhut kann Herz- und Atemlähmungen auslösen, und wilder Huflattich steht sogar im Verdacht, Krebs zu verursachen. Das alles harrt der genauen Prüfung.
Das wohl größte Risiko der Heilkräuter aber ist, dass man ihre Wirkung überschätzt. Wenn ein Allgäuer Naturheiler propagiert, dass Borreliose nach Zeckenbissen mit der distelähnlichen Wilden Karde behandelt werden könne, "dann wird es wirklich gefährlich", warnt der Heilpflanzenaufklärer Koradi. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege, die diese Behauptung bislang stützen können. Bewiesen ist aber, dass eine rasche Antibiotika-Therapie kurz nach einer Infektion mit den Borreliose-Bakterien verhindert, dass sich die Erreger festsetzen und chronische Gelenk- oder Nervenentzündungen verursachen.
Auch bei Erkrankungen wie Polyarthritis seien die ansonsten durchaus wirksamen antientzündlichen Kräuter Teufelskralle, Weidenrinde oder Weihrauch schlicht überfordert, sagt Koradi. "Aber wenn ich das sage, dann bin ich schon nicht mehr im richtigen 'Lager' und bekomme Hass-Mails."
Und selbst wenn ein Kraut seine Wirkung für eine bestimmte Indikation bewiesen hat, heißt das nicht, dass es auch gegen ähnliche Beschwerden hilft. So verbessern spezielle Ginkgo-Extrakte zwar den Alltag von Patienten mit Demenz im Frühstadium. Doch ob Gingko als Hirn-Doping vor Prüfungen oder als Prävention von Alzheimer etwas bringt, ist völlig offen.
So wie bei chemisch-synthetischen Arzneien dürften eben auch Phytotherapeutika nur für ganz bestimmte, genau beschriebene Krankheitsbilder eingesetzt werden. "Goldrute für die Niere, das ist einfach zu pauschal", sagt Koradi. Erst müsse man diagnostizieren, um was für eine Nierenerkrankung es sich genau handelt. Doch oft genug haben selbsternannte "Phytotherapeuten" gar keine medizinische Ausbildung, weil der Begriff nicht geschützt ist; sie könnten deshalb auch keine zuverlässigen Diagnosen stellen, klagt Koradi.
Salbenseminarleiterin Kristin Peters vertraut in die Vernunft ihrer Schülerinnen: "Man darf die Leute nicht unterschätzen", meint sie. Die Cremes aus Beinwell, Ringelblume und Schafgarbe, die ihre Workshop-Teilnehmerinnen an diesem Tag im brandenburgischen Keller zusammengerührt haben, empfiehlt sie erst gar nicht gegen schwerere Krankheiten. Sie sollen leichte Beschwerden wie Gelenkschmerzen oder blaue Flecken lindern oder als Wundsalbe bei kleineren Verletzungen helfen - eine Art Hausmittel, ohne Anspruch auf überprüfte Heilkraft.
Gegen Abend, als alle Salben abgefüllt und alle Mörser gereinigt sind, kommen die Frauen noch einmal im Garten zusammen, stellen sich im Halbkreis zusammen und lassen den Tag in Stille ausklingen. Vor ihnen liegt ein wettergegerbtes Brett, das als eine Art Altar dient. Jede hat ihr "Geschenk an die Natur" drapiert - Hornspäne, Asche, ein paar knallrote Äpfel, ein Zierkürbis, Steine, Muscheln, eine Feder. Ein Dankeschön für die Pflanzen, die ausgerissen und verarbeitet wurden.
Tatsächlich sind Heilpflanzen ein Geschenk der Natur. Sie in Zukunft noch besser zu verstehen und verantwortungsbewusst und mit klarem Kopf zu nutzen, liegt in der Hand der Menschen. ■