Zellen auf Patrouille
Es sind Erzählungen aus einem Krieg: Eindringlinge werden hinter der ersten Barriere abgefangen. Schafft es doch einer, ins Innere vorzudringen, trifft er auf eine komplexe Maschinerie. Rund um die Uhr ist sie damit beschäftigt, feindliche Elemente unschädlich zu machen oder zu vernichten.
Es geht nicht um einen Staat, der verteidigt werden soll. Das Kampfgebiet ist kleiner und doch um Potenzen unübersichtlicher, komplexer, unverständlicher, als es irgendein militärischer Kriegsschauplatz sein kann: der menschliche Körper.
Die Schlacht beginnt kurz nach der Zeugung, noch im Mutterleib, und dauert an, bis das Herz zu schlagen aufhört und die ewigen Gegner damit beginnen, den Leib zu kompostieren. Dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, in einer feindlichen Umgebung zu überleben, verdankt er seinem Immunsystem.
Es besteht aus zwei großen Einheiten, der angeborenen und der adaptiven, lernenden Immunität. Angeboren sind physikalische Barrieren, Haut und Schleimhäute. In Nase, Lunge oder Darm warten Fresszellen auf Eindringlinge. Im Blut lauern die mehr als 20 Eiweiße des Komplementsystems, die Abwehrzellen an Infektionsorte dirigieren können und fremde Zellen selbst attackieren.
Die Zellen des sich anpassenden Immunsystems werden nämlich erst postnatal gebildet, im Zusammenspiel mit der Umwelt. Diese Immunzellen, B- und T-Lymphozyten, müssen sich mit Erregern auseinandersetzen und untereinander Informationen austauschen. Sie brauchen Zeit, um höchst effektive, gezielte Antikörper zu produzieren. Dazu bildet das lernende Immunsystem Gedächtniszellen, die bei einer erneuten Infektion schnell Antikörper produzieren oder Killerzellen aktivieren können.
Den vollen Schutz entwickelt das Abwehrsystem in der späten Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter. Es sind die Jahre, in denen die Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten am niedrigsten ist. Danach verliert das Immunsystem an Kraft, die Reaktion auf Angriffe wird allmählich träger, der Körper anfälliger für Infektionen.
Gefahr lauert überall. In einem Küchenschwamm drängeln sich auf einem einzigen Quadratzentimeter mehr als zehn Millionen Bakterien, hat der US-Mikrobiologe Chuck Gerba aus Arizona errechnet. Toilettensitze seien vergleichsweise rein.
Während es im Ernstfall gegen Bakterien Antibiotika gibt, kann man sich vor den meisten Viren nicht medikamentös schützen. Wie aber stärkt man seine Immunabwehr? Studien zufolge hilft nur das eigene Verhalten: viel Bewegung, eine ausgewogene Ernährung und genügend Schlaf. Stress beeinflusst das Immunsystem eher negativ.
Dennoch gibt es eine Vielzahl von Produkten, die mit Verheißungen ängstliche Käufer umwerben: Die körpereigene Abwehrkraft soll gestärkt, das Immunsystem moduliert und die Darmflora umgebaut werden. "Für die meisten dieser Versprechen gibt es keine guten und verlässlichen Daten", sagt Hans-Martin Jäck, Immunologe an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Werbesprüche, die eine Stärkung der Abwehrkräfte verheißen, führten in die Irre.
Zwar gibt es für einzelne Stoffe Hinweise, dass sie das Immunsystem anregen, doch ist die Stimulation so unspezifisch, dass der Nutzen ungewiss bleibt. Bei Wirkstoffen wie den als Umckaloabo oder Kaloba verkauften Geranien-Extrakten gibt es zwar schwache Hinweise, dass sie die Beschwerden bei von Viren ausgelösten Atemwegsinfektionen lindern und verkürzen. Doch den verhältnismäßig dürftigen Wirksamkeitsnachweisen stehen ungeklärte Nebenwirkungsrisiken entgegen, wie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) kritisch anmerkt. Und für das in früheren Jahren als Wundermittel angepriesene Vitamin C gilt: Lediglich wer Höchstleistungen wie einen Marathonlauf vor sich hat, könnte laut IQWiG unter Umständen von bis zu einem Gramm Vitamin C täglich profitieren.
Effektiver als Saunagänge und Präparate sind Schutzimpfungen. Sie bauen ein Immungedächtnis im Körper auf. Bei einer Infektion mit dem Keim können die nach der Impfung gebildeten Gedächtniszellen dann sehr schnell große Mengen schützender Antikörper produzieren.
Egal, wo im Körper sich eine Infektion mit anschließender Entzündungsreaktion abspielt, innerhalb kürzester Zeit informieren Botenstoffe das Gehirn, das Ressourcen mobilisiert: Stresshormone werden produziert, die Körpertemperatur steigt an.
Wenn dann Kopf- und Gliederschmerzen einsetzen, hilft das einfachste und älteste Hausmittel am besten: Bettruhe. Sie unterstützt am effektivsten das Abwehrsystem bei der Bekämpfung der Viren. Zumal starke Grippesymptome Hinweis auf eine besonders starke Immunreaktion sind. Auch die eigene Abwehr kann den Körper schwächen.
Und diese Abwehrmechanik hat es in sich. Immunzellen patrouillieren ständig durch Blut und Lymphbahnen; sie haben die einzigartige Fähigkeit, aus den Gefäßen in das Gewebe einzuwandern und es später wieder zu verlassen. Durch einen einzelnen Lymphknoten fließen sekündlich geschätzte 14 000 Zellen auf der Suche nach Eindringlingen. Wenn Botenstoffe Verletzungen oder Infektionen melden, ballen sich sofort Immunzellen an den Angriffsorten.
Tückisch sind Krankheitserreger, die versuchen, die Abwehr auszutricksen, indem sie menschliche Eiweiße oder Zuckerketten imitieren. So gehen etwa die für Hirnhautentzündungen verantwortlichen Meningokokken vor - und verhindern dadurch die Immunreaktion.
Gefährlich kann es für die Gesundheit aber sogar ohne Angreifer werden. Bei Autoimmunkrankheiten richtet sich die Abwehr gegen den Körper selbst. Normalerweise wird das dadurch verhindert, dass Immunzellen aussortiert werden, wenn sie eigene Zellen und Eiweiße wie Eindringlinge behandeln. Versagt dieser Mechanismus, dann kann der Körper der destruktiven Wucht der eigenen Abwehr nur wenig entgegensetzen. Deutlich wird das bei Krankheiten wie Diabetes Typ 1, Morbus Crohn oder Multipler Sklerose.
Bei gesunden Menschen werden bis zu 95 Prozent der T-Lymphozyten wieder aussortiert, noch bevor sie die Arbeit aufnehmen: Weil sie eben nicht ausreichend zwischen selbst und fremd trennen. Dies wird im Knochenmark durch eine Art Funktionstest festgestellt: Wenn die Abwehrzellen sogenannte MHC-Moleküle auf den Oberflächen der Zellen nicht erkennen oder zu stark auf sie reagieren, gehen sie gleich nach der Entstehung wieder unter. Die MHC-Moleküle sind es auch, die bei einer Organtransplantation so gut wie möglich übereinstimmen müssen, damit das Immunsystem des Empfängers das Spenderorgan nicht angreift.
Wie grundlegend das Immunsystem für den gesamten Körper ist, wird am jungen Forschungsgebiet Psychoneuroimmunologie deutlich. Einerseits beeinflusst das Nervensystem die Botenstoffe und Abwehrzellen; umgekehrt hat das Immunsystem, wie Wissenschaftler zunehmend feststellen, Einfluss auf Krankheiten wie Schizophrenie, Depression oder Zwangsstörungen.
"Zumindest ein Teil der Depressionen könnte eine entzündliche Ursache haben", sagt der Psychiater Norbert Müller vom Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Erhöhte Entzündungsbotenstoffe nehmen Einfluss auf Botenstoffe im Gehirn, von denen man annimmt, dass sie psychische Veränderungen auslösen." So wirke sich zum Beispiel das bei Entzündungen produzierte Interleukin-6 auf das bei Depressionen entscheidende Serotonin ebenso aus wie auf das an Schizophrenien beteiligte Dopamin.
Hier werden, fernab von frei verkäuflichen Schnupfenmitteln, die medikamentösen Möglichkeiten spannend. Studienergebnisse zeigen, dass entzündungshemmende Arzneimittel bei depressiven Patienten und in frühen Stadien der Schizophrenie helfen könnten. Die Wirkstoffe, um die es geht - sogenannte Cox-2-Inhibitoren -, sind ausgerechnet Verwandte des berüchtigten Entzündungshemmers Rofecoxib, Handelsname "Vioxx". Er ist umstritten, weil er das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten erhöht.
Doch Psychiater Müller ist zuversichtlich, dass die Psychoneuroimmunologie noch überraschende Erkenntnisse bringen wird. "Früher hat man gedacht, das Immunsystem kommt durch die Blut-Hirn-Schranke nicht hindurch. Heute weiß man, dass die Abwehrzellen auch im Gehirn patrouillieren." Es bleibt spannend. ■