Krieg im Kopf
Der Schmerz von Patrick Schindler ist ein stechender Schmerz. Er bohrt sich in seinen Bauch, in seinen Kopf wie eine Stange aus Eisen. Schindler erwartet diesen Schmerz jeden Tag, er kennt ihn gut, in den letzten Jahren hat Schindler viel Zeit mit diesem Schmerz verbracht. Er hat ihn gespürt, als er im Bett lag, als er im Supermarkt an der Kasse stand und als Freunde ihn überreden wollten, mit rauszukommen auf ein Bier. "Der Schmerz ist immer da", sagt Schindler, "er erinnert mich an das, was mir passiert ist."
Schindler steht an diesem Morgen auf der Terrasse der Panorama Fachklinik in Scheidegg im Allgäu. Er spricht über sein Leben, über die Eisenstange, mit der sein Vater den Bruder töten wollte, und über den Bruder, der auch sein bester Freund war und sich mit Zyankali das Leben nahm. Schindler blickt über die nassen Hügel, über denen früh am Tag der Nebel aufsteigt; eine Landschaft, die so wirkt, als wäre die Welt ein Märchenland.
Patrick Schindler ist 33 Jahre alt, er sieht aber älter aus. Er ist nach Scheidegg gekommen, weil seine Welt kein Märchenland ist. Ist sie nie gewesen. Schindler hat eine schwere Depression, wegen der er nicht mehr arbeiten kann. Er hält seine Schmerzen nicht mehr aus.
In Deutschland haben etwa 13 Millionen Menschen chronische Schmerzen. Meistens sind Erkrankungen der Knochen und Gelenke die Ursache. Aber es gibt auch Schmerzen, von denen zunächst einmal keiner weiß, woher sie kommen. Sie haben keine organische Ursache. Fachleute nennen sie auch funktionelle Schmerzen, es sind die Schmerzen von Patrick Schindler: Signale, mit denen der Körper zeigen will, dass die Psyche verletzt ist und dass ein Mensch Hilfe braucht, um damit klarzukommen.
In der Panorama Fachklinik in Scheidegg, in der auch Miriam Meckel vor einigen Jahren zur Behandlung ihres Burnouts war, geht es 30 Prozent aller Patienten wie Schindler. Sie haben Schmerzen, die kein Arzt einfach wegmachen kann. Viele haben traumatische Erlebnisse hinter sich, andere haben sich kaputtgearbeitet und über die Jahre vergessen, wie man sich um sich selbst kümmert. Insgesamt hat die Klinik 160 Therapieplätze; 33 Ärzte und Psychologen bieten klassische Psychotherapie und alternative Heilverfahren an. Die Behandlung dauert meist vier bis sechs Wochen.
"Unsere Therapie konzentriert sich nicht auf das Symptom, sondern nimmt den ganzen Menschen in den Blick", sagt Christian Dogs, der ärztliche Direktor der Klinik, ein Mann mit Jeans und lichtem Haar, der auch einmal als Müllmann gearbeitet hat und sagt, dass er die Probleme normaler Leute daher verstehe. Er sitzt in seinem Büro mit Fensterfront zu den Alpen, auf der Wiese davor grasen Kühe mit einer Glocke um den Hals. Dogs erklärt das Konzept seiner Klinik. Er betont, dass es hier nicht um einen Wettstreit der Symptome gehe, also nicht darum etwa, wer den schlimmsten Tinnitus habe und damit die größte Aufmerksamkeit verdiene. "Wir wollen an die Stelle kommen, an der es einem Menschen wirklich weh tut, und alternative Verfahren sind dabei unsere Steigbügelhalter."
Sanfte Methoden wie Akupunktur oder Pflanzenheilkunde sind also Türöffner, die es dem Therapeuten erlauben, mit dem Patienten in Kontakt zu kommen. Das ist bei Schmerzpatienten oft nicht so einfach. Denn viele "Schmerzkarrieren", wie Dogs sagt, beginnen mit einer Verneinung: "Ein Mensch hat Schmerzen, vielleicht tut ihm der Kopf weh, der Bauch, das Herz. Sein Arzt findet aber nichts. Der Patient fühlt sich in seinem Schmerz nicht ernst genommen. Er geht zu einem anderen Arzt, der auch nichts findet. Der Patient verliert das Vertrauen in die Medizin. Dass der Schmerz Ausdruck einer seelischen Verletzung sein kann und sich nur löst, wenn sie behandelt wird, wollen viele nicht sehen." So war es auch bei Patrick Schindler.
Der Patient mit traumatischen Kindheitserfahrungen und einer schweren Depression hat seine Krankheit vor seinen Freunden versteckt. Und auch sich selbst habe er sie nicht eingestanden, sagt er. Er habe sich in den letzten Jahren mit Fernsehen und Internet betäubt. "Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt auf der Welt bin", sagt er.
Schindlers Mutter nahm während der Schwangerschaft Valium, weil die Wehen zu früh eingesetzt hatten; als Schindler zur Welt kam, hatte er Entzugserscheinungen. Schindlers Vater war gewalttätig und verprügelte die Mutter später, bis ihre Beine brachen. Er schlug und missbrauchte den Bruder, bis dieser sich eines Tages umbrachte. Das war der Punkt, an dem auch Schindlers Welt endgültig kaputtging.
Trotzdem kämpfte er. Patrick Schindler versuchte eine Lehre zum Anlagentechniker, eine weitere zum Bürokaufmann. Er nahm viele Anläufe, bis er es eines Tages schaffte, sich mit einem Transportunternehmen selbständig zu machen. Doch er fühlte nichts. Er funktionierte nur. Die Depression wurde immer schlimmer, und irgendwann konnte Schindler seine Wohnung nicht mehr verlassen. Er saß auf dem Sofa. Er schaute aus dem Fenster und hatte Hunger. Aber er traute sich nicht, in den Supermarkt zu fahren. Eine Freundin ermutigte ihn schließlich, in eine Klinik zu gehen.
Als Schindler in Scheidegg ankam, bekam er eine Massage. "Wenn die Patienten auf einer Liege liegen, den Kopf nach unten, und ein Therapeut ihre Verspannungen löst, fühlen sie sich auf der Ebene ihres körperlichen Schmerzes ernst genommen", sagt Dogs. Es fällt dann leichter, ins Reden zu kommen. Massagen, Aromatherapie oder Akupunktur können also wohltuende Umwege sein, eine Möglichkeit, sich den Verhärtungen vorsichtig und behutsam zu nähern.
Wenn die Patienten sich langsam öffnen, folgen Einzelgespräche mit einem Psychotherapeuten, der ihnen zugeordnet wurde. In Gruppensitzungen tauschen sie sich außerdem mit den anderen Patienten aus. Sollte es ihnen nicht möglich sein, ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Therapeuten aufzubauen, können sie auch einen Wechsel beantragen.
Bei einer solchen Wanderung üben die Patienten, ihren Körper besser wahrzunehmen. Manche ziehen, wie Schindler, die Schuhe aus und laufen barfuß mit einer Gruppe über die Wiesen und durch den Wald. Schindler mag dieses Gehen, sagt er. Er atmet die würzige Luft ein, das tue ihm gut. Seine Erfahrung hat er auf einem Blog im Netz aufgeschrieben, jeder kann sie lesen. Sie lautet so:
Bisher hatte ich ein paarmal Meditatives Gehen - wir nennen es hier "die Schwäbische Waldraserei". Dabei geht man sehr, sehr langsam und braucht somit für eine Strecke, die man normal in drei bis fünf Minuten langsam geht, circa 45 Minuten. Dabei soll alles, was man währenddessen fühlt oder hört, aufnehmen, ohne es zu bewerten. Alle Gedanken, die kommen, sollen wie Wolken an einem vorbeiziehen, ohne auch diese zu bewerten. Das fällt mir sehr schwer, denn ich bin eine Persönlichkeit, die alles, was ich fühle, sehe oder denke, auch bewerte.
Patrick Schindler ist jetzt gern an der frischen Luft. Er weiß, dass Bewegung seinem Körper hilft, Endorphine zu produzieren und dass die Endorphine auch den Schmerz betäuben. Er denkt darüber nach, auch einmal beim "Tanz der Gefühle" mitzumachen. Dabei dürfen die Patienten eine Nacht lang nicht schlafen und treffen sich dann am frühen Morgen zu einem dreistündigen Tanz in einem abgedunkelten Raum, bei lauter Musik. Sie lachen, schreien, weinen. "Sie kommen an ihre Gefühle", sagt Klinikleiter Dogs.
Auch Ruth Parsch hat ihre Gefühle zu lange unterdrückt und ist darüber krank geworden. Parsch ist eine offene Frau mit wasserblauen Augen und grauen Locken. Sie liegt an diesem Mittag auf einer Liege in einem der Behandlungsräume. Eine Schwester nimmt einen blauen Tontopf aus dem Regal, in dem acht Blutegel schwimmen. Sie setzt die Blutegel an Parschs Beinen und Füßen an. Parsch fürchtet sich ein wenig vor den Tieren, aber deren Sekret soll helfen, ihre Gelenkschmerzen zu lindern. Die Egel kitzeln ihre Haut, sagt Parsch, sie liegt ausgestreckt, so dass sie die Ringelwürmer nicht sehen kann. Sie lacht. Aber vielleicht ist auch das ein Reflex.
Ruth Parsch kommt aus Regensburg, sie ist 67 Jahre alt, eine liebenswürdige Frau. Ihre Adoptivmutter schlug sie mit einem Stock, als sie ein Mädchen war. Sie sagt: "Ich gab keinen Mucks." Es ist die Haltung, mit der sie durchs Leben gegangen ist. Zwei Ehen scheiterten, sie verlor den Kontakt zu ihrer Tochter. "Es lag vielleicht daran, dass wir nicht genug geredet haben", sagt sie. Ihre Arbeit als Altenpflegerin hatte ihr immer Freude bereitet. Sie nahm sich Zeit für die Menschen. Doch als die Kollegen begannen, sie zu mobben, wehrte sie sich nicht. Sie kümmerte sich weiter, sie sprach mit niemandem über die Demütigung und die Einsamkeit, die sie empfand.
Es fällt Ruth Parsch nicht leicht, ihre Geschichte zu erzählen. Sie sitzt nach der Egel-Behandlung in ihrem Zimmer. Sie erzählt, wie sie mit der Zeit immer mehr körperliche Schmerzen bekam. Der Rücken tat ihr weh, die Beine und Hände wurden zum Teil taub. Bald brach Parsch alle sozialen Kontakte ab, sie wurde immer trauriger. Dann kam sie nach Scheidegg.
Viele Patienten haben, wie Parsch, ein schlechtes Verhältnis zu ihrem Körper, wenn sie nach Scheidegg kommen. Sie haben ihn bisher nur als lästig empfunden, als Störfaktor, der Probleme bereitet. In Scheidegg legen die Therapeuten Wert darauf, den Patienten klarzumachen, dass der Körper die Landkarte der Seele ist. Regelmäßig versammeln sich die Patienten in einem großen Saal und hören sich Vorträge an. Über hundert Menschen sind an diesem Tag gekommen, um zu erfahren, welchen Zusammenhang es zwischen Schmerzen und Gefühlen gibt. "Wenn die Seele die Sprache verliert, fängt der Körper an zu reden", sagt ein Therapeut. Wer gesund werden wolle, müsse nach innen hören.
Um die Schmerzen zu lindern und das Wohlbefinden zu steigern, können die Patienten eine Behandlung mit Ohrkerzen machen oder sich schröpfen lassen. Nach dem Vortrag legt sich ein Patient auf eine der Liegen. Er hat, wie Schindler, Depressionen und Rückenschmerzen. Eine Schwester nimmt eine Wanne voll runder Gläser aus dem Regal, erhitzt das Innere mit einer Art Bunsenbrenner und setzt sie am Rücken des Patienten an. Durch den Unterdruck werden die Haut und Unterhaut in das Innere des Glases gesogen, die Gefäße erweitern sich. Die Haut wird vermehrt durchblutet, das gestörte Gleichgewicht der Körperflüssigkeiten soll wiederhergestellt werden. Vor allem tiefer liegende Verspannungen lösen sich manchmal so.
Im Nebenraum liegt eine Patientin, die ein Trauma erfahren hat. In ihrem Ohr steckt eine Art brennende Kerze, ähnlich einem Räucherstäbchen, sie knistert. Ohrkerzen bestehen aus Baumwolle, die mit Bienenwachs und Kräuterpartikeln getränkt werde. Sie strahlen Wärme ab, die sich auch auf das Trommelfell richtet. Das Mittelohr wird dadurch stärker durchblutet, und es entsteht oft ein warmes Gefühl von Geborgenheit. "Ich fühle mich dadurch gehalten", sagt die Patientin. Viele haben diese Empfindung lange Zeit nicht gehabt.
Beispielsweise mit Hilfe von Aromatherapie. "Über die Nase wird Kontakt zu emotionalen Erfahrungen aufgenommen, und es kann zu korrigierenden, neuen Erfahrungen kommen", sagt die Aromatherapeutin, die für jeden Patienten, der möchte, eine eigene Mixtur herstellt. Bei chronischen Schmerzzuständen, wie Parsch sie hat, empfiehlt sie einen Mix aus Lavendel, Zimt, Pfefferminze, Rosmarin, Wacholder, Majoran und Pfeffer. "Eine Bauchsalbung mit diesen Essenzen kann sehr gut tun", sagt sie. "Der Bauch ist das Zentrum aller Gefühle."
Wenn die Patienten untröstlich sind, gibt die Aromatherapeutin ihnen eine kleine Dose mit auf den Weg. Außen steht "Das süße Leben" darauf. Darin ist eine Creme, die nach Kokos riecht. Die Patienten sollen sie sich auf den Handrücken reiben und daran riechen, wenn sie das Gefühl haben, an einem Tag nicht mehr weiterzukommen.
Patrick Schindler sagt, er befinde sich auf dem richtigen Weg. Er wird sich in der Klinik zum Gespräch mit seiner Mutter treffen und hofft, dass ein Sozialarbeiter ihn danach im Alltag unterstützen kann. Ruth Parsch sagt, sie sei in den sechs Wochen Therapie sehr viel weitergekommen. Sie wird in wenigen Tagen abreisen. Sie will wieder fotografieren, vielleicht einen Kochkurs machen, sich mehr bewegen und mit anderen reden.
Sie trägt in ihrer Tasche ein Tagebuch mit sich. Auf der letzten Seite steht in schwarzer, dünner Schrift ein Satz: "Ruth Parsch ist eine wunderbare Frau". Sie hat diesen Satz nicht selbst geschrieben, eine Mitpatientin war es. Aber sie sagt, es bedeute ihr viel, dass er da steht. ■