Hoffnung, pulverisiert
Jedes Kind lernt in der Schule, wie wichtig Vitamine sind. Und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) sorgt dafür, dass man es auch als Erwachsener nicht vergisst: Regelmäßig wiederholt die DGE den Ratschlag, täglich zwei Portionen Obst und drei Portionen Gemüse zu essen. Aber wer schafft schon fünf Portionen?
Viele haben deshalb das Gefühl, zu wenig Vitamine zu bekommen. Die Hersteller von Vitaminpräparaten nutzen das schlechte Gewissen: "Unsere heutigen Lebensgewohnheiten machen es nicht immer leicht, sich ausgewogen zu ernähren und ausreichend mit allen lebensnotwendigen Stoffen versorgt zu sein", schreibt die Vitaminfirma Centrum verständnisvoll auf ihrer Homepage. Centrum, eine Tochter des Pharma-Multis Pfizer, bietet gleich die Lösung: passgenaue Vitaminpillen für Kinder, Frauen, Männer und Rentner.
Glaubt man Centrum, enthalten die Präparate "alle lebenswichtigen Vitamine und Mineralstoffe in ausgewogenem Verhältnis"; sie ergänzten die Nahrung so, "dass eine gute Vitamin- und Mineralstoffversorgung zuverlässig erreicht werden kann".
900 Millionen Euro geben die Deutschen jedes Jahr für Vitaminpillen, Kapseln, Pulver oder Brausetabletten aus. Jeder vierte Bundesbürger hat zu Hause mindestens ein entsprechendes Pillendöschen stehen, sei es von Aldi oder - zehnmal so teuer - aus der Apotheke.
Aber nützen die Mittelchen wirklich etwas? Reicht es, statt Äpfel, Bananen oder Broccoli zu essen, einfach Multivitaminpillen zu schlucken? Oder schaden die Präparate am Ende sogar mehr als sie nützen?
Im Jahr 2008 veröffentlichte das Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe die "Nationale Verzehrstudie II", die bis heute genaueste Befragung von 20 000 Menschen in Deutschland über ihre Ernährungsgewohnheiten. Seitdem weiß man immerhin, dass 24 Prozent aller Männer und über 30 Prozent aller Frauen regelmäßig Mineralstoffe und Vitaminpräparate schlucken. Die meisten Fans gibt es in der Gruppe der über 65-jährigen Frauen, die wenigsten hingegen unter den 19 bis 25 Jahre alten Männern aus der niedrigsten Sozialschicht.
Für die Studie wurden 29 133 männliche Raucher zwischen 50 und 69 Jahren in verschiedene Gruppen eingeteilt. Das unerwartete Ergebnis: In der Gruppe, die Betacarotin schluckte, stiegen die Fälle von Lungenkrebs um 18 Prozent an, die Gesamtsterblichkeit der Vitaminkonsumenten war um 8 Prozent erhöht.
"Das Ergebnis war ein Schock", erinnert sich Ingrid Mühlhauser, Gesundheitswissenschaftlerin an der Universität Hamburg. "Man hielt das zunächst für ein Zufallsergebnis, deshalb wiederholte man die Studie in den USA."
Diesmal musste die Studie 21 Monate früher als geplant abgebrochen werden. Wieder traten bei den Vitaminkonsumenten deutlich mehr Fälle von Lungenkrebs auf, und es kam auch häufiger zu Todesfällen als in der Vergleichsgruppe. Es wäre unverantwortlich gewesen, den Studienteilnehmern weiter Vitaminpillen zu geben. "Damit war klar, dass die als Rauchervitamine angepriesenen Vitamine A und Betacarotin für Raucher schädlich waren", sagt Mühlhauser. "Einen besseren Beweis als eine reproduzierte Studie gibt es nicht."
Aber wie kann das sein? Wenn Rauchern Vitamine fehlen, müsste es doch gut sein, den Vitaminspiegel zu erhöhen.
So schlicht jedenfalls dachten die Ärzte - und viele denken bis heute so. Es sei ein typischer Denkfehler in der Medizin, sagt Mühlhauser. "Man verbessert Blutwerte in Richtung Normalwert und hofft, damit einem Patienten zu helfen." Entscheidend sei aber nicht, ob ein Patient bessere Werte hat, sondern ob es ihm bessergeht, ob er länger lebt oder seltener krank wird.
Diese Frage versuchen Mediziner mit Hilfe aufwendiger Forschungsprojekte zu klären. Die sichersten Ergebnisse liefern randomisiert-kontrollierte Studien. Die Teilnehmer werden dabei per Zufallsgenerator in zwei Hälften geteilt (engl. "randomised", zufällig). Die eine Hälfte bekommt das Testpräparat, die andere eine Tablette ohne Wirkstoff, ein Placebo.
Nach einer bestimmten Zeit werten die Forscher aus, in welcher Gruppe es mehr Schlaganfälle, mehr Herzinfarkte, Krebserkrankungen oder Todesfälle gibt. Wenn sich beide Gruppen nicht unterscheiden, ist das ein klarer Hinweis, dass das Präparat nicht wirkt. Ist dagegen die Gruppe, die das Placebo bekommen hat, am Ende gesünder, kann man davon ausgehen, dass das Präparat schadet. Das war in den Raucher-Studien bei der Einnahme von Vitamin A und Betacarotin der Fall.
Im Jahr 2012 veröffentlichten Forscher der Cochrane-Collaboration, einer internationalen Vereinigung unabhängiger Medizinwissenschaftler, ein Gutachten über die vorbeugende Wirkung antioxidativer Vitamin- und Mineralstoffpräparate, 78 hochwertige Studien mit insgesamt 296 707 Teilnehmern wurden dafür ausgewertet.
Das für die Vitaminindustrie niederschmetternde Ergebnis: In den qualitativ besten Studien erhöhte die Zufuhr von Tabletten mit Vitamin E und Betacarotinen die Sterblichkeit signifikant. Möglicherweise gilt das auch bei höheren Dosen von Vitamin A. Bei Vitamin C und Selen zeigte sich kein Effekt, es war also weder ein Nutzen noch ein Schaden erkennbar. Im September 2013 bestätigte eine weitere Analyse in der US-Wissenschaftszeitschrift "Plos One" die negativen Befunde für Vitamin E und Betacarotin.
Kein Nutzen, nirgends. Fast alle untersuchten Präparate bleiben die Wohltaten schuldig, die man ihnen nachsagt. So schützt nach neuesten Erkenntnissen Vitamin D Frauen nicht vor Knochenbrüchen ab den Wechseljahren. B-Vitamine verhindern keine Herzinfarkte; auch Vitamin E kann dagegen nichts ausrichten. Und das beliebte Vitamin C ist gegen Erkältungen so gut wie wirkungslos, es kann allenfalls die Dauer der Erkrankung minimal verkürzen.
Für die Hamburger Gesundheitsforscherin Mühlhauser ist nach all diesen Untersuchungen klar, dass die Vitaminpräparate "Teil eines großen Irrtums der Medizingeschichte sind". Für gesunde Menschen sei die Einnahme schlicht überflüssig bis gefährlich.
Doch angekommen ist diese Erkenntnis noch nicht so richtig - weder in der Bevölkerung, noch bei den Profis in den Heilberufen. Der Mythos von den angeblich gesundheitsförderlichen Vitaminen hält sich hartnäckig. Die Vitaminindustrie hält ihn ebenso am Leben wie selbsternannte Experten, die allerlei Wundermittel gegen Altern bis Rheuma anpreisen.
Die Firma mit Sitz in Nordrhein-Westfalen versteht sich als Verfechterin der "Orthomolekularen Medizin". Unter diesem Schlagwort versammeln sich Vitaminextremisten, die sich auf den Chemiker und zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling (1901 bis 1994) beziehen.
Pauling verbrachte seine späten Jahre mit einem radikalen Selbstversuch: Er wollte nachweisen, dass Vitamin C in hohen Dosen nicht nur vor Erkältungen schützt, sondern auch Herzinfarkt und Krebs vorbeugt.
Bis zu seinem Tod nahm er täglich 18 Gramm Vitamin C zu sich, also das Zweihundertfache der von der DGE empfohlenen Dosis. Er starb im Alter von 93 Jahren - an Prostatakrebs.
In Paulings Institut arbeitete in den neunziger Jahren auch der deutsche Arzt Matthias Rath, der den Glauben an hochdosierte Vitamine nach Deutschland trug und mit Büchern wie "Warum kennen Tiere keinen Herzinfarkt?" populär machte.
Rath warb damit, dass er mit seinen Präparaten Krebs besiegen könne - was sich nicht nur im Fall des neunjährigen Dominik Feld als trügerisch erwies. Das Kind, das an Knochenkrebs litt, wurde in einer Werbekampagne für Raths Vitaminprodukte benutzt. Im November 2004 erlag der Junge seiner Erkrankung.
Über die niederländische Firma "Dr. Rath Health Programs" werden Raths hochkonzentrierte Mittel bis heute vertrieben. Das Starterpaket Vitacor Plus "zur Unterstützung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit" kostet 45,90 Euro.
Orthomol vertreibt seine Vitamine und Mikronährstoffe dagegen fast ausschließlich über Apotheken - zu Preisen von bis zu 127 Euro pro Packung. 2011 hat Orthomol 81 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet, im vergangenen Jahr waren es nur noch 74 Millionen. Die Umsätze seien im In- und im Ausland "allgemein" zurückgegangen, erklärt das Unternehmen. Ein Gespräch über Orthomol lehnt "Gesundheitsbotschafterin" Sabine Christiansen ab. Per E-Mail lässt sie lediglich ausrichten, dass sie mit Orthomol "immer sehr gute Erfahrungen gemacht" habe.
Auf seiner Homepage behauptet Orthomol, dass "die Orthomolekulare Ernährungsmedizin in den USA als offiziell anerkanntes Therapieverfahren gilt". Das überrascht.
Im US-Bundesstaat Oregon sitzt an der State University das Linus Pauling Institute, das die Nährstoffversorgung wissenschaftlich erforscht. In Vertretung des dortigen Direktors teilt ein Mitarbeiter mit, dass "die orthomolekulare Medizin in den USA als Behandlungsmethode nicht offiziell anerkannt" sei. Außerdem müsse man Linus Paulings Ansichten heute etwas kritischer betrachten: "Dr. Pauling hat vermutlich den Wert von hochdosiertem Vitamin C überschätzt", räumt das Institut ein. Als Pauling lebte, habe man noch nicht gewusst, dass der Körper hohe Dosen von Vitamin C einfach wieder ausscheidet; grundsätzlich halte man aber weiterhin die orthomolekulare Medizin für richtig.
Für den Präsidenten des Bundesforschungsinstituts für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe, Gerhard Rechkemmer, fällt die Orthomolekulare Medizin in den Bereich Hokuspokus. "Das Konzept halte ich für widerlegt."
Nur in sehr speziellen Situationen gebe es Hinweise auf einen Nutzen zusätzlicher Vitamine. Brustkrebspatientinnen zum Beispiel könnten in einer bestimmten Phase der Chemotherapie von einer Vitamin C Infusion profitieren. "Aber die Anwendung von sehr hohen Dosierungen der Mikronährstoffe bei gesunden Menschen halte ich für verfehlt", sagt Rechkemmer.
Durch den Verkauf in der Apotheke werde der Eindruck erweckt, der Nutzen von Orthomol und ähnlichen Produkten sei wissenschaftlich belegt, kritisiert der Institutspräsident: "Sie unterliegen als diätische Produkte jedoch nur dem Lebensmittelrecht, das heißt, sie müssen keinen einzigen Wirksamkeitsnachweis erbringen." Aus der Apotheke werden die Präparate dennoch nicht verschwinden - dafür sind die Profite der Apotheker zu groß.
Grund zur Sorge gibt es ohnehin nicht: Die deutsche Bevölkerung sei durchweg gut mit den lebenswichtigen Stoffen versorgt, sagt Rechkemmer. Man muss auch nicht befürchten, dass die Lebensmittel heute weniger Nährstoffe enthalten als früher. "Das ist ein Märchen der Vitaminindustrie." Die landwirtschaftlichen Böden seien heute durch die gezielte Düngung sogar nährstoffreicher als früher.
Bei den Vitaminen A, E, B1, B2, B12 und C erreichen die meisten Menschen zwischen 100 und 200 Prozent der empfohlenen Tagesmenge. Einzig bei Vitamin D sehen die Werte nicht so gut aus. Doch Vitamin D produziert der Körper mit Hilfe von Sonnenlicht auch selbst. Dazu reicht es aus, zwischen März und Oktober täglich 15 Minuten ins Freie zu gehen - ohne Sonnencreme.
Frauen mit Kinderwusch empfiehlt Rechkemmer zudem, während der Schwangerschaft Folsäure-Präparate einzunehmen, das reduziere das Risiko eines "offenen Rückens" bei den Kindern.
Ansonsten rät Rechkemmer dazu, Obst und Gemüse zu essen. Vitamine über Lebensmittel aufzunehmen sei etwas ganz anderes als über Pillen oder Pülverchen. "Vitamine in Obst und Gemüse haben noch keinem geschadet", sagt er, "sie sind uneingeschränkt zu empfehlen."
Wer legt aber überhaupt fest, welche Mengen an Vitaminen empfehlenswert sind? Hierzulande macht das die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Doch deren Erkenntnisse sind keineswegs in Stein gemeißelt. Wissenschaftlich exakt zu begründen sind sie ebenso wenig. Das zeigt schon ein Vergleich der DGE-Angaben mit den Empfehlungen des Scientific Committee on Food der EU-Kommission:
‣ Bei Vitamin A rät die DGE Männern die Aufnahme von 1000 Mikrogramm pro Tag. Das EU-Committee hält dagegen 700 Mikrogramm für ausreichend. Nimmt man die deutsche Empfehlung, liegen mehr als 12 Prozent der Männer unter dem Referenzwert, nach den EU-Kriterien sind es nur 3,8 Prozent.
‣ Bei Vitamin C liegen in Deutschland 28 Prozent der Frauen unter dem DGE-Referenzwert (100 mg pro Tag), aber nur 2,6 Prozent sind unterversorgt, wenn man den EU-Wert (45 mg) zugrunde legt.
‣ Ähnliche Beispiele lassen sich auch für Folsäure, Eisen, Calcium und Magnesium finden.
Ernährungsmuffel haben also allen Grund, Anhänger der EU-Kommission zu sein. Schneller als mit einem Blick auf deren Empfehlungen können sie ihr Gewissen in puncto Vitamine nicht beruhigen. ■
Vitamin A
Kommt unter anderem vor in: Butter, Leber, Camembert, Karotten, rotem Paprika, getrockneten Aprikosen.
Vitamin C
Kommt unter anderem vor in: Sanddorn, Zitrusfrüchten, Schwarzen Johannisbeeren, Kiwi, Rosenkohl.
Folsäure
Kommt unter anderem vor in: Kalbs- und Geflügelleber, Spargel, Rosenkohl, Ei, frischem Spinat.
Magnesium
Kommt unter anderem vor in: Nüssen, Reis, Vollkorn, Soja, Kürbiskernen, Sonnenblumenkernen, Spinat.
Vitamin D
Kommt unter anderem vor in: Aal, Hering, Forelle, Champignons, Steinpilzen, Eiern; außerdem kann es der Körper aus Sonnenlicht selbst bilden.
Vitamin B6
Kommt unter anderem vor in: Kalbs- und Gefügelleber, Lachs, Sardinen, Grünkohl, Linsen, Hirse, Walnüssen, Bananen.