Fiebrige Romantik
Der Tod kam aus dem Wartezimmer. Fünf Monate war Michael alt, als er sich in der Praxis eines Kinderarztes in Bad Salzuflen mit Masern infizierte. Zunächst schien es, als habe er die Infektion ohne Schaden überstanden. Doch fünf Jahre später brach bei ihm eine durch Masernviren hervorgerufene chronische Gehirnentzündung aus. Diese Erkrankung endet stets tödlich. An ihr ist Michael in diesem Jahr im Alter von 14 Jahren gestorben - ebenso wie schon vor ihm ein Mädchen, das sich bei demselben älteren Kind im Wartezimmer angesteckt hatte.
Michael und das Mädchen könnten noch leben, hätten die Eltern des älteren Kindes eine Masernimpfung akzeptiert. Aber sie haben, vielleicht unwissentlich, nicht nur eine schwere Erkrankung ihres eigenen Kindes riskiert, sondern auch die Ansteckung von Säuglingen, die im ersten Lebensjahr zu jung für die Impfung sind.
Die Furcht vor einer Infektion wiegt bei Impfgegnern geringer als die Angst vor Impfschäden. Solche Schäden gibt es; für den Verdacht auf schwere gesundheitliche Folgen nach dem Impfen sieht das Infektionsschutzgesetz von 2001 eine Meldepflicht der Ärzte vor.
Impfschäden sind allerdings sehr selten. So werden in Deutschland pro Jahr etwa 40 bis 50 Millionen Impfstoffdosen verabreicht - die Hälfte davon gegen Grippe. Im vergangenen Jahr meldeten Ärzte, Apotheker, Patienten und Pharmahersteller rund 2500 vermutete Impfkomplikationen bei Kindern und Erwachsenen, zum Beispiel hohes Fieber oder Hautausschlag. Dies entspricht einer Rate von einer Meldung auf 16 000 bis 20 000 Impfungen.
Deutlich größer ist die Gefahr durch die Krankheit selbst. Masern etwa, Tetanus oder eine durch Meningokokken verursachte Hirnhautentzündung können schwere Behinderungen oder sogar den Tod zur Folge haben. Das Risiko, nach einer Maserninfektion an einer Form der Gehirnentzündung (Enzephalitis) zu erkranken, liegt nach Angaben des Robert-Koch-Instituts bei eins zu tausend. Bei geimpften Kindern entwickelt nur eines von einer Million eine Gehirnentzündung.
Manchen Impfgegnern jedoch gilt die Maserninfektion als persönlichkeitsbildend. Die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland doziert in ihrem "Merkblatt Masern" über die "Sinnhaftigkeit einer Masernerkrankung". Im Fieber, der "selbst gebildeten Wärme", werde "die geistig-seelische Individualität des Kindes in gesteigertem Maße tätig". Ja, gerade "durch das Fieber", so das Merkblatt, "überwindet das Kind nicht nur die Maserninfektion, sondern individualisiert dabei seinen Organismus". Mehr Individualität für seine Kinder, wer wollte sie nicht?
Das Problem: Noch im Jahr 2000 starben auf der Welt 548 000 Menschen an Masern. Dass die Todesraten bis 2011 auf 158 000 zurückgingen, ist das Ergebnis einer großen Impfkampagne der Weltgesundheitsorganisation.
Fiebrige Anti-Impf-Romantik wie im anthroposophischen Merkblatt findet vor allem in den besseren Wohnvierteln offene Ohren. Dabei erweisen sich Impfverweigerer als Trittbrettfahrer: Selbst in jungen Jahren meist noch geimpft, nutzen sie für ihre Kinder die schützende Umgebung weitgehend immunisierter Menschen. Das gilt sowohl für die etwa 4 bis 5 Prozent totaler Impfgegner, die ihren Nachwuchs gegen gar nichts impfen, als auch für jene 20 bis 30 Prozent, die nicht alle, aber mehrere Immunisierungen, etwa gegen Masern, ablehnen.
Wer glaubt, Masern oder Mumps seien in Deutschland praktisch ausgerottet, irrt. Denn um Infektionskrankheiten zu verhindern, muss annähernd die gesamte Bevölkerung immunisiert werden. Etwa 70 Prozent Impfwillige reichten nicht aus, so die Ärztin Marion Hulverscheidt von der Charité in Berlin.
Auch die Diphtherie, durch Impfungen in Deutschland ebenfalls weitgehend beseitigt, droht aus dem Osten. So kommt es etwa in Russland immer wieder zu Ausbrüchen. Und im EU-Mitgliedsland Lettland tritt die Atemwegsinfektion bis heute weltweit mit am häufigsten auf.
Durch Argumente und Statistiken lassen sich eingefleischte Impfgegner kaum beeinflussen. So empfiehlt der Verein Libertas & Sanitas e. V. die Schrift eines Heilpraktikers unter dem Titel "Impfen - ein Jahrtausendirrtum" und setzt damit auf Emotionalisierung. Vorsitzender des Vereins und Mitorganisator einer "Impfkritiker-Konferenz" in Göttingen 2005 ist der Fahrzeugtechnik-Ingenieur Jürgen Fridrich. Anhängern von Verschwörungstheorien offeriert er das Buch "Impfen mit den Augen des Herzens betrachtet".
Mit den Polemiken der Impfgegner setzen sich das Robert-Koch-Institut und das Paul-Ehrlich-Institut auf ihrer Website in "20 Einwänden und Antworten" auseinander. Dort weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass Impfungen das Immunsystem stimulieren. Daher sei es unwahrscheinlich, dass geimpfte Kinder eine schwächere Konstitution als nicht geimpfte hätten. Die Experten verweisen auch auf Studien, die belegen, dass zwischen sich häufenden Allergien und Impfungen kein nachweisbarer Zusammenhang besteht.
Dennoch sind einige der zwölf empfohlenen Immunisierungen für Kinder nicht nur bei Anti-Impf-Fundamentalisten umstritten. Seit 2004 rät die Ständige Impfkommission zur Vorbeugung gegen Windpocken. Die Erkrankung mit den juckenden Pusteln ist für Kinder nicht lebensbedrohend. Doch wer die Impfung ablehnt, sollte sich im Klaren darüber sein, dass die Keime bei Schwangeren Fehlgeburten verursachen können. Auch Rotaviren, die neuerdings auf der Liste der Impf-Empfehlungen stehen, lösen meist lediglich eine heftige Infektion mit Durchfall und Erbrechen aus, ohne unmittelbar lebensgefährlich zu sein. Durch eine Impfung aber könnte 200 00 Kindern in Deutschland jedes Jahr ein Krankenhausaufenthalt erspart bleiben.
Die Immunisierung gehört zweifellos zu den wirksamsten Werkzeugen der Medizin. Doch die Impfkritik hat Tradition. Schon im 19. Jahrhundert traten Impfgegner in Deutschland auf. Meist waren es bildungsferne Menschen in ländlichen Gegenden, aber auch Vertreter des Bildungsbürgertums.
Sie ereiferten sich über die beginnenden Schutzimpfungen gegen Pocken, warnten vor Risiken. Damals starb jedes fünfte Kind in Deutschland an den Pocken. Epidemien 1870 und 1873 töteten im Land 181 000 Menschen. Daher führte das Deutsche Reich unter Kanzler Otto von Bismarck 1874 die Impfpflicht ein. Und es gelang, die Pocken drastisch zurückzudrängen.
In Deutschland gab es 1972 die letzte Erkrankung, 1980 wurde die Welt für pockenfrei erklärt. Gegen Pocken muss niemand mehr geimpft werden. ■