Das Geheimnis der Mistel
Claudia Duschl trägt ihre silbergrauen Locken offen; die Mähne ist ihr kleiner Triumph über die Krankheit. "Jedes Mal, wenn ich zur Nachsorge muss, schüttelt es mich regelrecht vor Angst", sagt sie mit belegter Stimme. "Wenn die wieder was finden, dann war's das."
Im Februar wurde bei der Münchnerin Krebs diagnostiziert; einen Monat später amputierten die Ärzte ihre linke Brust. Seit Mai gehört die 50-Jährige zu den Patienten des Kompetenzzentrums für Komplementärmedizin und Naturheilkunde der Technischen Universität München (TUM).
Sie ist froh, in die kleine Außenstelle gefunden zu haben. "Davor war ich bei einem Arzt für biologische Krebsbekämpfung. Der verschrieb mir haufenweise Vitamine und Selen." Von dem Präparate-Cocktail bekam sie Gliederschmerzen. Die TUM-Ärzte klärten sie auf, dass die Hoffnung auf Vitamine oder Spurenelemente als natürliche Mittel gegen den Krebs wissenschaftlich längst überholt ist. Zu viel davon kann sogar schaden.
"Ich wollte was Naturheilkundliches, weil ich die Chemotherapie nicht antreten konnte. Ich bin den Strapazen nicht gewachsen", sagt Duschl. Sie schluckt. "Das kann mich mein Leben kosten, ich weiß." Ein Schwindel setzt der Münchnerin seit Jahren schwer zu. Mit ihrem Krebs hat es nichts zu tun, die Gleichgewichtsstörung geht von der Halswirbelsäule aus. Die zarte Frau kann nur noch mit Mühe liegen oder sitzen.
Die Antihormontherapie, die ihr der Onkologe zur Vorbeugung gegen ein erneutes Tumorwachstum für fünf Jahre verordnet hat, will Duschl aber auf jeden Fall durchhalten. "Auch wenn die Schwitzerei nachts nervt." Zur Not, weiß sie, haben die TUM-Ärzte Pflanzenpräparate im Repertoire, die solche Beschwerden abmildern könnten.
Beinahe die Hälfte aller Krebspatienten in Deutschland sucht wie Duschl neben der schulmedizinisch-onkologischen Behandlung noch Hilfe in der Naturheilkunde. Typisch ist dabei leider auch, dass die empfohlene Komplementärbehandlung nicht hält, was sie verspricht: Die verordneten Mittel bleiben wirkungslos oder schaden sogar.
Fast immer aber geht die Therapie ins Geld: Erst neulich hatten sie in München einen Patienten, der angeblich 50 000 Euro für Aprikosenkernpräparate hingelegt hat. Für das als Wunderdroge gehandelte "Laetril" hatte schon Hollywood-Star Steve McQueen geworben - bevor er 1980 seinem Tumor erlag.
Krebs liegt bei den Todesursachen in westlichen Industrienationen weit vorn. Gleichzeitig überleben heutzutage immer mehr Betroffene - dank verbesserter Arzneien und Früherkennung (siehe Grafik). Die meisten von ihnen probieren dann so gut wie alles aus, damit das Unheil niemals wiederkehrt. Dazu kommt die wachsende Zahl der "Watch and Wait"-Patienten, etwa Männer mit Prostatakrebs im Frühstadium: Ihnen raten die Ärzte, erst mal nichts zu tun, außer die Zellveränderungen zu beobachten. Angesichts der Zeitbombe im Körper fällt Abwarten vielen Menschen aber schwer, der Gang zum Heiler erscheint ihnen als Chance.
2002 rief die EU das Netzwerk "CAM Cancer" ins Leben (CAM steht für "Complementary and Alternative Medicine"). Es soll den Informationsaustausch über wirksame Zusatzbehandlungen aus der Naturheilpraxis fördern. In Deutschland versucht der Forschungsverbund Kokon, das Nebeneinander von Schul- und Alternativmedizin zu verstehen und ins Miteinander zu bringen. Kokon ("Kompetenznetz Komplementärmedizin in der Onkologie") wird von der Deutschen Krebshilfe mit 2,5 Millionen Euro gefördert. Das Klinikum Nürnberg koordiniert die sieben Forschungsprojekte zu Informationsbedarf, Beratung, Weiterbildung und Methoden. Nürnberg ist in Deutschland führend in der Krebsversorgung; mit dabei sind Forscher in Hamburg, Rostock, Berlin, Essen, Freiburg, Frankfurt am Main und München.
Das Fenster im Büro von Markus Horneber steht trotz der herbstlichen Kälte sperrangelweit offen, der Nürnberger Onkologe im karierten Hemd ist Frischluft-Fan. Horneber leitet Kokon; als Mitglied der "Arbeitsgruppe Biologische Krebstherapie" seiner Klinik hat er jahrelang die Wirksamkeit von Pflanzenheilmitteln, Akupunktur und anderen Methoden bei Krebspatienten für die Cochrane-Collaboration begutachtet. "Ich bin durch und durch Naturwissenschaftler", sagt der 49-Jährige. "Die Leitfrage für uns Ärzte heißt aber nicht nur: Welches Mittel hilft? Sondern: Wie nützen wir dem Patienten?"
Tatsächlich wissen viele Onkologen gar nicht, ob ihre Patienten noch Naturheiler zu Rat ziehen. Sie fragen nicht - und die Kranken schweigen. Denn sie haben Angst, ausgelacht oder belehrt zu werden.
Der deutsche Patient, so das Ergebnis einer noch unveröffentlichten Kokon-Studie, ist in der Regel gut aufgeklärt. Nur eine verschwindende Minderheit setzt voll und ganz auf Alternativheiler. Auf Gurus, die, wie der US-Bestsellerautor Ty Bollinger oder der Deutsche Ulrich Strunz, behaupten, man könne die Wucherungen "natürlich heilen" (Bollinger) oder "Tumorgene abschalten" (Strunz).
Die meisten Deutschen wissen dagegen, dass der Dreiklang aus Operation, Chemo und Bestrahlung bösartige Zellen am effektivsten vernichtet. Sie lassen sich also die hochdosierten Therapiegifte verabreichen - und probieren dann oft noch mit Mistel- oder Weihrauchextrakten zusätzlich die Heilungschancen zu steigern.
Das Problem dabei ist, dass in der Medizin doppelt nicht besser hilft, sondern manchmal sogar schlechter. Beispiel Vitamin C: Wer genug Äpfel, Orangen oder andere Lieferanten isst, lebt gesund. Bei Menschen, die gegen ihr Multiples Myelom, eine Form von Knochenmark-Krebs, das Medikament Bortezomib einnehmen, wirkt Vitamin C dagegen verhängnisvoll: Es hemmt die heilsame Wirkung der Tumortherapie. "Besonders tückisch ist, dass sich die Patienten dabei besser fühlen", sagt Horneber. "Denn auch die Nebenwirkungen von Bortezomib, Taubheitsgefühle etwa, bleiben ihnen erspart."
Allerdings kennen auch Onkologen solche Zusammenhänge oft nicht. Um zu wissen, was die Betroffenen - Ärzte wie Patienten - überhaupt wissen wollen in Sachen Kräuter, Kügelchen & Co, wurden Fragebögen verschickt. Die Reaktionen der Mediziner rangierten von neugierig bis skeptisch. Und viele räumten ein, zu wenig von der Materie zu verstehen, um ihre Patienten gut beraten zu können. "Es gibt einen großen Informationsbedarf. Bei den Kranken, aber eben auch bei Ärzten und Pflegekräften", stellt Horneber fest. Kokon will im Internet Wissensplattformen schaffen, für Fachleute und für Laien.
So geht es bei fast allen pflanzlichen Präparaten, die in der Behandlung von Krebspatienten eingesetzt werden - sei es Weihrauch bei Hirntumoren, Grüntee-Extrakte bei Leukämie, Mariendistel zur Entgiftung der Leber oder Traubensilberkerze bei den Hitzewallungen, die Brustkrebspatientinnen durch die Hormonbehandlung oft jahrelang zusetzen. Immer gilt: Beschaffenheit des Präparats, Dosis und Stadium der Krankheit sind Faktoren, von denen Erfolg oder Schädlichkeit der Mittel wesentlich abhängen.
Große Hoffnung auf natürliche Mittel hegt Horneber bei der Linderung der chemotherapiebedingten Erschöpfung. "Diese sogenannte Fatigue ist das Symptom, unter dem Krebskranke am meisten leiden, noch häufiger als unter Schmerz." Die Fatigue kann noch drei Jahre nach der Tumorentfernung den Patienten belasten, sie führt zu Arbeitsausfällen und macht depressiv. Das Symptom ist mehr als eine lästige Begleiterscheinung. "Die Fatigue zu mindern, kann sich auf den gesamten Krankheitsverlauf positiv auswirken", weiß der Onkologe.
Ginseng, Tragant und Rosenwurz sind Pflanzen, die möglicherweise die Geister der Geschlauchten wecken können. "Amerikanischer Ginseng konnte in einer Studie der Mayo-Klinik in Minnesota eindeutig die Fatigue-Symptome reduzieren - allerdings erst ab einer Einnahmedauer von zwei Monaten." Horneber empfiehlt schlappen Krebspatienten, ihre Mattheit unbedingt ernst zu nehmen und die Ursachen abklären zu lassen. "Ginseng gibt es auch hierzulande in medizinischer Qualität und sollte nicht vergessen werden bei der Behandlung."
Asiatischen Fatigue-Patienten wiederum hat in einem klinischen Test Astralagus membranaceus geholfen, eine Art des Tragants. Darüber hinaus schreibt man dem arktischen Rosenwurz, Rhodiola rosea, zu, Erschöpfte aufrichten zu können - ein gelbblühendes Gebirgskraut, das nach Rosen duftet. Es gibt klinische Hinweise darauf, dass der Rosenwurzwirkstoff, sogenannte Salidroside, das Herz von Brustkrebspatientinnen gegen die Nebenwirkung ihrer Chemobehandlung schützen kann.
Sogar die hochumstrittene Mistel kann helfen - wenn man sie richtig einsetzt. Das Schmarotzergewächs wurde von Anthroposophiebegründer Rudolf Steiner als Krebsmittel propagiert; ungebrochen blüht der Mythos um das Immergrün. Die Nürnberger Onkologen beraten Krebspatienten aus ganz Deutschland am Telefon, die Hälfte der Anrufe kommt dabei von besorgten Angehörigen. "Hilft die Mistel?", sei die typische Eingangsfrage der Ratsuchenden, sagt Horneber. "Ich frage dann zurück: Was erwarten Sie sich denn von ihr?"
Die Hoffnung, dass das Gewächs den Krebs aufhalten könne, muss der Onkologe dann dämpfen. 2009 überprüfte Hornebers Team 80 Studien zur Mistel; nur 28 erfüllten wissenschaftliche Minimalbedingungen. Fazit: "Es gibt Hinweise darauf, dass Mistelextrakte bei Brustkrebspatientinnen Verbesserungen der Lebensqualität bewirken können." Seitdem sei eine Studie erschienen, nach der Kranke sogar mit weit fortgeschrittenem Bauchspeicheldrüsenkarzinom nach Mistelbehandlung etwas länger lebten als erwartet - und zwar bei merklich verbesserter Lebensqualität.
Die Immunabwehr gesunder Menschen wird durch Mistelbehandlung nicht stärker. Bei Angeschlagenen hilft sie je nach Fall. "Wir wissen, dass Frauen, deren Tag-Nacht-Rhythmus gestört ist, krebsanfälliger sind", sagt Horneber. "Eine Misteltherapie kann die Tagesperiodik wieder anregen." Und wer besser schläft, bei dem regeln sich auch andere Körperfunktionen besser.
Eine Faustregel gilt für alle begleitenden Anwendungen naturheilkundlicher Präparate: Weniger kann mehr sein. "Wichtig ist, dass man immer nur eine Behandlung zurzeit macht. Spätestens nach vier Wochen sollte sich eine Besserung einstellen. Andernfalls setzt man die Therapie besser ab."
Die Philosophie des Downsizing auf wenige, gezielte Anwendungen wird auch in München vertreten. Die Naturheilkundler von der TUM gehören erst seit Juli zum Kokon-Forschungsverbund - Patienten behandeln sie hier aber schon seit 1996. Auch bei ihnen gilt die Mistel nicht als Krebsmittel der ersten Wahl; nur etwa zehn Prozent ihrer Tumorpatienten nehmen sie in Anspruch.
Die Münchner bieten eine ganze Palette von Hausmitteln an, die Symptome lindern können: etwa Öl-Salz-Mixturen gegen das Prickeln an Händen oder Füßen, das Chemo-Behandelte oft quält, Ringelblumensalbe für strahlengeschädigte Hautpartien oder Kneippsche Wickel gegen Schlafstörungen.
Zwei Ärzte sind in Traditioneller Chinesischer Medizin ausgebildet. "Sie bietet viel, was die Beschwerden von Krebspatienten lindern kann", sagt Axel Eustachi, ein großer Mann mit langen dunklen Haaren und tief geränderten Augen. Heilung sei nicht sein erstes Behandlungsziel. "Ich möchte erreichen, dass es dem Patienten so gutgeht, wie es ihm gehen kann", sagt der Arzt salomonisch.
Brustkrebspatientin Claudia Duschl geht seit Mai jeden Dienstag ins Naturheil-Zentrum. Sie besucht hier die Qigong-Gruppe. Die ruhigen, atemgesteuerten Bewegungen tun ihr gut. Duschls müde Züge beleben sich. "Erstaunlicherweise kann ich diese Übungen trotz des Schwindels machen. Ich stelle fest, dass mein Körpergefühl besser wird. Das Qigong hilft sogar dem Kopf, das Grübeln lässt nach."
Das ist etwas, was die Sozialarbeiterin richtig nervt: der Druck ihrer Umwelt. Die Kinder, die Freunde, Kollegen - jeder erteilt ihr Ratschläge, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen solle. "Wenn ich negative Gedanken habe, sagen sie, sei ich selber schuld, wenn der Krebs wieder kommt. Aber die Angst zu sterben lässt sich nicht einfach abschalten."
Naturheilkundliche Medikamente im eigentlichen Sinn nimmt Duschl keine ein. Sie ernährt sich gesund, trinkt viel grünen Tee (siehe auch Seite 124), isst morgens Joghurt mit Omega-3-Fettsäuren-reichen Chiasamen und würzt mit Kurkuma, dem Currygewürz, dem tumorhemmende Wirkung nachgesagt wird.
Das natürliche Mittel der Wahl für die Krebspatientin ist Bewegung. Sport legen die Ärzte hier fast allen Patienten ans Herz, und Duschl befolgt den Rat gern. "Wenn ich mit meinen Hunden durch die Isar-Auen tolle, dann vergesse ich manchmal, dass ich krank bin." ■