Wissenschaft vom Leben
In der Welt der Hindu-Gottheiten und Dämonen herrschte Krieg. Um einen in der Schlacht verletzten Gefährten zu retten, flog der Affengott Hanuman zum Himalaja. Dort suchte er nach einem speziellen Heilkraut, doch in der Eile konnte er es nicht von anderen Pflanzen unterscheiden. Da griff sich Hanuman einfach den ganzen Berg, brachte ihn zu den Verbündeten, und mit Hilfe des richtigen Kräuterbalsams heilten sie den Verwundeten. So steht es im uralten indischen Nationalepos Ramayana.
Voll Hoffnung auf die Heilkraft der Pflanzen ist Manuela Mayer nach Indien gekommen. Jetzt wartet sie auf ihre Behandlung, unter Palmen sitzt sie auf der Terrasse ihres Bungalows in Nagarjuna, einer luxuriösen Ayurveda-Klinik bei Kochi im südwestlichen Bundesstaat Kerala. 80 bis 100 Euro täglich kosten hier Behandlung und Unterkunft.
Regelmäßig bekommt die 53-jährige Österreicherin ihre Medizin, Krankenschwestern in blauem Sari verabreichen sie in Gläsern, die der Hygiene halber mit Metalldeckeln verschlossen sind. Mal schluckt Mayer die pflanzlichen Extrakte flüssig, mal als Pulver, vermischt mit Wasser oder Buttermilch. Oder die Essenzen werden ihr von Masseuren auf die Haut gerieben, in Form von medizinischen Ölen.
Das hört sich nach Wellness an, nach einer exotischen Wohlfühltherapie, mit der viele sogenannte Ayurveda-Resorts in Indien locken. Doch diese Klinik vermarktet eine traditionelle Form von Ayurveda, sie beruft sich auf die seit Jahrtausenden überlieferte indische Heilkunst. Und die umfasst weit mehr als Extrakte aus Kräutern, Blättern oder Baumrinden. Hier geht es um Ayurveda in seiner vollen Bedeutung - auf Deutsch: die Wissenschaft vom Leben.
Der Anspruch ist hoch. Ayurveda will den ganzen Menschen gesund machen, nicht nur Symptome kurieren. Überliefert wurde die traditionelle Medizin in Sanskrit-Schriften, nur Eingeweihte können die altertümlichen Hymnen heute noch entziffern und verstehen.
Ayurveda verfolgt das Ziel, Körper und Geist wieder ins Gleichgewicht zu bringen. "Wenn ein Mensch krank ist, dann sind seine grundlegenden Lebensenergien, die sogenannten drei Doshas, aus der Balance geraten", sagt Sajith Varma, ein studierter Arzt, der zugleich Marketing-Chef des Ayurveda-Zentrums Nagarjuna ist.
Varma zeigt auf die reiche grüne Natur der Umgebung. "Die drei Doshas - man kann sie auch als drei Temperamente bezeichnen - werden von den fünf Elementen hervorgebracht, aus denen unsere ganze Welt besteht: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther."
Der überlieferten Ayurveda-Theorie zufolge beeinflussen die drei Grundeigenschaften den Menschen. Sie bestimmen letztlich, was für ein Typ ein Patient ist. Ist er beispielsweise ein sogenannter Vata-Typ? Also ein eher sensibler Mensch, bei dem die Elemente Luft und Äther vorherrschen? Oder ein Pitta-Typ, bei dem Feuer überwiegt und die Neigung, sich aufzuregen? Oder ein Kapha-Typ, bei dem Erde und Wasser für Trägheit sorgen?
Dass es sich bei Ayurveda nicht um eine Naturwissenschaft im westlichen Sinne handelt, sondern um eine auch religiös fundierte orientalische Weisheitslehre, merken westliche Patienten spätestens, wenn die Ärzte auf Shiva, Vishnu und Brahma zu sprechen kommen. Die drei Hindu-Götter mit ihren unterschiedlichen Temperamenten verkörpern jeweils eine der drei Doshas.
Bevor die Ayurveda-Ärzte einen Kranken überhaupt behandeln, versuchen sie herauszufinden, mit was für einem Typ sie es zu tun haben. Wie stark sind seine Doshas jeweils ausgeprägt, welche der drei Grundeigenschaften herrscht vor?
Erst nach dieser Diagnose verordnen die Ärzte eine passende Therapie und die Medikamente, welche die außer Gleichgewicht geratene individuelle Natur ihrer Patienten wieder ins Lot bringen sollen.
Ayurveda wird zunehmend auch bei Allergien und Rückenleiden angewandt, von denen die antiken Schöpfer dieser Heilkunst noch wenig ahnten. Sie kannten dagegen Seuchen wie Cholera. Mittlerweile wird Ayurveda selbst zur ergänzenden Behandlung von Krebspatienten eingesetzt, beispielsweise um das Immunsystem bei Chemotherapien zu stärken.
Für Prem Malhotra, 64, geht es nicht um Leben oder Tod, gleichwohl sieht der 136-Kilo-Mann Ayurveda praktisch als letzte Hoffnung. Im Kräutergarten der Klinik lässt er sich auf eine Bank fallen. Sie bietet drei Menschen Platz, doch Malhotra braucht sie fast für sich allein.
Was hat der Geschäftsmann aus der Industriestadt Pune nicht schon alles versucht, um abzunehmen: Erst hungerte er und probierte auch im Westen gängige Schlankheitskuren aus. Dann strampelte er sich im Fitnessstudio ab. Es half nichts: Malhotra blieb dick, und selbst wenn er ein paar Kilogramm verlor, nahm er alsbald wieder zu.
Unter Anleitung der Ayurveda-Ärzte wächst nun seine Zuversicht, wieder schlanker zu werden und damit gesünder leben zu können. Über zwei Kilo hat er bereits abgenommen. Einfach wird die Therapie aber nicht für ihn, er muss auch sein Leben ändern - nach Ayurveda-Prinzipien eben.
Malhotra hat gerade eine Massage hinter sich: "Erst haben mich zwei Leute von beiden Seiten durchgeknetet, dann musste ich in einem Holzkasten schwitzen", sagt er. "Das angelagerte Fett soll praktisch verbrennen." Oft reiben die Masseure den Körper auch mit kleinen Leinenbeuteln ab, darin befinden sich aufgewärmte Kräutermischungen.
Auf ähnliche Weise, nur mit anderen Medikamenten, behandeln Ärzte hier diverse Leiden - von Schuppenflechte über Rheuma bis zu psychischen Erkrankungen. Während der Massage liegen die Patienten auf speziellen Tischen, die das Öl über Rinnen und Vertiefungen ableiten.
Die Öle werden auch in die Nase geträufelt, mit einem löffelartigen Behälter nacheinander in jedes Loch. Nasya heißt diese Methode, die beispielsweise bei chronischen Erkältungen und entzündeten Nebenhöhlen angewendet wird.
Diätpatient Malhotra muss die Medizin im Zuge seiner Therapie auch oral einnehmen. Mal schluckt er Öle oder Pulver, welche die Verdauung fördern sollen, mal solche, die Brechreiz auslösen. "Der Ballast und die Verhärtungen, die sich in Gewebe und Organen abgelagert haben, müssen entsorgt werden." So haben die Ärzte es ihrem Patienten erklärt - wissenschaftlich gesehen eine fragwürdige Sache.
Panchakarma heißt diese klassische Ayurveda-Methode. Dabei wird der Körper angeblich einer Grundreinigung unterzogen. Die Abführmittel werden auch mit einer Art Blasebalg durch den After in den Darm gepresst.
Die radikale Entschlackung kann für Patienten sehr anstrengend sein, sie dauert über sieben Tage, am Ende hat sich der Körper gleichsam mit Öl vollgesogen. Anschließend werden die Kräfte des Patienten mit Hilfe einer speziellen Diät behutsam wieder aufgebaut.
Mit Panchakarma behandeln die Ärzte nicht nur akute Krankheiten. Sie empfehlen die Therapie auch zur regelmäßigen Vorsorge, um die Folgen der Alterung zu mildern.
Zwar liegen die Ursprünge von Ayurveda Jahrtausende zurück. Doch die Inder forschen ständig nach neuen Einsatzmöglichkeiten - zum Beispiel auch für orthopädische Leiden, die westliche Mediziner vor Probleme stellen.
Sarasvati Veerapan ist aus Singapur nach Kerala gereist. Als die 62-jährige Übersee-Inderin ankam, konnte sie vor Schmerzen kaum gehen oder liegen. "Ein Nerv ist kompliziert eingeklemmt", sagt sie. "Ich konnte nur mit Schmerztabletten leben."
Die westlich ausgebildeten Ärzte in Singapur hatten sich geweigert, Veerapan zu operieren. Zu hoch sei ihnen das Risiko erschienen, dass sie anschließend gelähmt sei, sagt die Inderin.
Zwar können die Ayurveda-Ärzte den Rücken der Frau genauso wenig heilen. Das versuchen sie auch nicht. Vielmehr konzentrieren sie sich darauf, ihre Schmerzen zu lindern: Sie haben ihr Massagen verordnet, um die Muskulatur zu stärken, sowie Kräutermischungen in Form von Salben und Kapseln. Seit zwei Wochen, sagt die Patientin, fühle sie sich fast wieder schmerzfrei.
Solche Erfolgsberichte klingen beinah nach Wunderheilung. Auch in Indien, wo die westliche Schulmedizin im Alltag weit überwiegt, melden sich daher immer wieder Skeptiker zu Wort. "Ayurveda: Hokuspokus oder Wissenschaft?", fragte etwa das angesehene Wochenmagazin "Open".
Ist Ayurveda nachweislich wirksam - oder beruhen positive Effekte nur darauf, dass Anhänger daran glauben? Für die künftige Entwicklung ist das eine zentrale Frage.
Der Mann, der Ayurveda weltweit Respekt verschaffen soll, empfängt in einem Büroklotz in der Hauptstadt Neu-Delhi. Abhimanyu Kumar leitet Indiens Zentralrat für die Ayurveda-Forschung. Er koordiniert die ehrgeizigen Programme, mit denen die Regierung die Alternativmedizin global verbreiten will.
Allein der Pharmahersteller Nagarjuna, der die Ayurveda-Klinik bei Kochi betreibt, setzt mit seinen Arzneien weltweit 500 Millionen Rupien im Jahr um (rund sechs Millionen Euro). Zu den erfolgreichen Exporteuren zählt auch Ayurveda-Fabrikant Himalaya in Bangalore: Das Mittel Liv 52 - es soll die Funktion der Leber stärken - hat beispielsweise in Russland viele Anhänger. Liv 52 besteht aus dreiwertigem Eisen und sieben Pflanzenextrakten, darunter Schafgarbe, Tamariske und Schwarzer Nachtschatten.
In der EU oder in den USA werden Ayurveda-Präparate meistens über das Internet vertrieben. Ayurveda-Bürokrat Kumar sieht dafür vor allem einen Grund: "Im Gegensatz zu westlichen Arzneien setzen sich unsere Medikamente meist aus mehreren pflanzlichen oder mineralischen Wirkstoffen zusammen." Um diese Cocktails klinisch erproben zu lassen, müssten die Hersteller Milliarden investieren. Denn westliche Zulassungsbehörden bestehen darauf, dass jede Substanz einzeln getestet wird.
Als Beispiel für den Unterschied zwischen westlicher Medizin und Ayurveda verweist Kumar auf Reserpin, ein Mittel zur Verringerung von Bluthochdruck, das in den fünfziger Jahren von Ciba-Geigy entwickelt wurde. Schon Charaka, ein antiker Ayurveda-Arzt, rühmte angeblich die Heilkraft der Indischen Schlangenwurzel, aus der Reserpin gewonnen wird.
Wegen starker Nebenwirkungen wurde Reserpin in westlichen Ländern indes wieder vom Markt genommen. In Indien dagegen verwenden Ayurveda-Ärzte Schlangenwurzel weiterhin als Bestandteil ihrer komplizierten Kräuter-Cocktails. "Durch die Kombination mit anderen Mitteln hebt Ayurveda die Nebenwirkungen der Schlangenwurzel wieder auf", behauptet Kumar. Westliche Ärzte warnen, dass mitunter sogar Gifte wie Arsen verabreicht werden. Sie sollen, in kleinen Mengen beigemischt, der Gesundheit guttun.
Auf den ersten Blick gleicht Nairs Institut einer normalen ländlichen Klinik. In einem Schrein am Eingang wacht eine Statue des Hindu-Gottes Dhanvantari, davor brennt ein ewiges Licht: Der religiöse Schutzpatron hat für Ayurveda ähnliche symbolische Bedeutung wie der Äskulapstab mit der Schlange für die westliche Medizin.
Vor der Arzneimittelausgabe stehen die Patienten Schlange, die Männer teilweise in traditionellen Shorts, die Frauen im Sari. Durch ein Fenster werden ihnen die Kräutermischungen gereicht, die ihnen die Ärzte verschrieben haben, abgepackt in kleinen braunen Papiertüten.
Hergestellt wird die Medizin in der kleinen Fabrik des Instituts. Dort geht es zu wie in einer Zauberküche. Nair öffnet die Tür zum Vorratsraum, auf den Regalen lagern Sträucher, Wurzeln und abgesägte dünne Baumstämme. Nebenan ist ein Arbeiter dabei, die gereinigten Pflanzenteile zu Pulver zu mahlen. Einzeln schiebt er sie in den Schlund einer Raspelmaschine.
Als Nächstes wird das Pulver zu einer Art Paste verrührt, um daraus Tabletten herzustellen. In einem weiteren Raum werden Heilkräuter-Öle zubereitet: In riesigen Bottichen, unter denen offenes Feuer brennt, rühren Arbeiter mit Mundschutz und in gelber Gummischürze die pflanzliche Brühe an. Daraus filtern sie dann zum Beispiel Sesamöl heraus - es soll gegen Rheuma helfen.
Als Nächstes gewährt Nair Einblick in sein Tierlabor. In zahllosen Plastikkäfigen rascheln weiße Mäuse. Eine Chemikerin greift eines der Tiere heraus. Routiniert presst sie es so, dass es das Maul aufreißt. Mit einer Spritze drückt sie ihm dann die zu erprobende Substanz in den Schlund.
"Hier kalkulieren wir die passende Dosierung unserer Ayurveda-Präparate", sagt Nair. Er klappt einen Holzkasten auf, an dem sich eine digitale Stoppuhr befindet: Innen gleicht das Gerät einem Labyrinth. "Ans Ende des Gangs legen wir etwas Futter", sagt Institutsleiter Nair. "Auf diese Weise messen wir, wie schnell die Mäuse ans Ziel gelangen." So glaubt er nachweisen zu können, "wie stark ein Medikament belebt oder ermüdet".
Die Tests sind kompliziert, und tatsächlich widerstrebt Nair der ganze Aufwand. "Ayurveda wird seit Tausenden Jahren praktiziert", sagt er, "was gibt es da eigentlich noch zu beweisen?" Und doch bleibt ihm nichts anders übrig. "Nur so können wir unsere Medikamente und Behandlungsmethoden patentieren lassen."
Der Ayurveda-Arzt hegt indes keine Illusionen, dass die indische Heilpraxis sich bald auf die übrige Welt übertragen lässt oder irgendwann gar die westliche Schulmedizin ersetzen wird.
Gewiss, vor allem in Industrieländern wächst die Sehnsucht nach einer alternativen, sanfteren Medizin. Und diese Nachfrage versuchen indische Anbieter in ihren Resorts kommerziell zu befriedigen. "Doch dabei handelt es sich oft um Geschäftemacherei, so etwas verstößt gegen das Ethos von Ayurveda", warnt Nair. Eine Ayurveda-Kur von ein paar Tagen, wie sie viele Touristen buchen, hält der Arzt nicht für seriös. ■