Durch die Haut
"Kinder brauchen nicht erzogen werden, sie machen uns eh alles nach."
Karl Valentin
Die Biologie will es so - bei keinem anderen Lebewesen dauert es so lang, bis der Nachwuchs flügge wird, wie beim Menschen. Kinder müssen viel lernen: Wie die Menschen miteinander umgehen, welche Regeln und Wertvorstellungen gelten, welche geistigen und körperlichen Fertigkeiten wichtig sind. Das dauert. Zwei Jahrzehnte unter dem elterlichen Dach sind heute keine Seltenheit.
Zum Glück sind Kinder von Natur aus lernbegierig. Bereits Säuglinge haben den Drang nachzuahmen. Zuerst imitieren die Kleinen Eltern und Geschwister, später Oma, Opa, Nachbarn und Lehrer, natürlich auch Gleichaltrige.
Den engsten Kontakt haben die meisten Kinder über lange Zeit zu Mutter und Vater. "Eltern sind immer Vorbilder. Genauso schlechte wie gute", sagt der dänische Familientherapeut und Bestsellerautor Jesper Juul. "Wie sich Eltern und Bezugspersonen auch immer verhalten: Sie haben Vorbildfunktion", betont auch der bekannte Schweizer Kinderarzt und Autor Remo Largo. "Das Kind ist biologisch darauf angelegt, sein Verhalten nach Vorbildern auszurichten."
Es gibt also kein Entrinnen. Der Nachwuchs ahmt die Großen nach, bewundert sie, reibt sich an ihnen, setzt sich in der Pubertät von ihnen ab. Was die Alten tun oder nicht tun, was sie lieben, was sie hassen, wie sie miteinander und dem Rest der Welt umgehen - das alles formt die Kinder. "Erziehung findet zwischen den Zeilen statt. Sie ist wie Osmose, sie kommt durch die Haut", sagt Therapeut Juul.
Zahlreiche Forscher haben dies nachgewiesen: Der deutsch-amerikanische Psychologe Kurt Lewin zeigte bereits in den dreißiger Jahren, dass sich das Verhalten von Jugendlichen in verschiedenen Arbeits- und Freizeitgruppen systematisch änderte, wenn die jeweiligen Gruppenleiter gezielt unterschiedlich mit den Kindern umgingen. Lewin bewies damit, dass das Verhalten von Erziehern unmittelbaren Einfluss auf Kinder hat.
Eltern sind in der Pflicht - auf welche Weise Mama und Papa im Alltag agieren, hat langfristig große Wirkung. Vormachen zählt, nicht nur darüber quatschen.
Läuft zu Hause ständig der Fernseher, dürfen die Eltern sich nicht wundern, wenn der Nachwuchs ungern liest und selbst dauernd vor dem Bildschirm hockt. Telefonieren Eltern zig Mal am Tag, simsen und chatten, sollten sich die Erziehungsberechtigten nicht beschweren, wenn die Kinder glauben, keinen halben Tag ohne ihr Smartphone überstehen zu können. Wer sich hauptsächlich von Pizza und Fertiggerichten ernährt, braucht nicht überrascht zu sein, wenn der Sohn oder die Tochter frisches Gemüse verschmäht.
Streiten Vater und Mutter regelmäßig lautstark, werden die Kleinen oft auch fix wütend und halten wenig von Kompromissen. Wer seinen Kindern gar Ohrfeigen oder noch schlimmere Züchtigungen verpasst, nimmt in Kauf, dass der Nachwuchs womöglich körperliche Gewalt als probates Mittel ansieht, um sich im Kindergarten oder in der Schule durchzusetzen. Ein Kind, das häufig Gewalt erlebt, verinnerlicht Gewalt als eine Verhaltensmöglichkeit.
Für Kinderarzt Largo ist klar: "Wenn die Eltern etwa wollen, dass sich das Kind vor dem Essen die Hände wäscht, müssen sie selbst das auch tun." Das gilt auch beim Essen. Studien haben gezeigt: Ein- bis Vierjährige probieren ein neues Nahrungsmittel doppelt so häufig, wenn ein freundlicher Erwachsener davon zuerst nimmt.
Natürlich wird nicht jede Eigenschaft der Eltern zwangsläufig von den Kindern übernommen. Trotzdem ist das "Wie" häufig entscheidender als das "Was". Der große deutsche Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich notierte: "Ein Vater, der seinen Kindern Zurückhaltung beim Rauchen und Trinken predigt, sich aber selbst jeden Genuss erlaubt, vermittelt zweierlei: erstens die Norm - und zweitens den Trick, wie man diese Norm umgeht."
Müssen Eltern nun perfekte Menschen sein? Nein. Dürfen sie Fehler machen? Aber natürlich. Der Augenblick, in dem sich Eltern über ihr eigenes Verhalten ihren Kindern gegenüber ärgern - geschenkt. Ein Tag, an dem die Mutter oder der Vater ein Kind ungerecht behandelt hat - ohne Bedeutung. Wichtig sind sich wiederholendes Verhalten und grundsätzliche Haltungen.
"Vorbild sein kann mühevoll sein. Zeit, Einfühlungsvermögen und Geduld sind nötig", sagt Largo. "Ein Kind erwartet zu Recht von den Eltern und den Bezugspersonen, dass sie als Vorbilder zur Verfügung stehen."
Das gilt auch für etwas, das viele Erwachsene ärgert: Wenn Kinder nicht danke sagen und nicht dankbar sind. "Wichtig ist für uns Ältere allerdings zu erkennen, dass wir ebenfalls oft nicht dankbar sind", erklärt der Psychologe Philip Watkins von der Eastern Washington University in den USA. Auch hier gilt die Einsicht, dass eine Tugend erfahren werden muss und nicht gelehrt werden kann.
Wertschätzung für große und kleine Dinge muss in der Familie praktiziert werden - dann kann sie erheblichen Nutzen haben. Mehrere US-amerikanische Studien zeigen, dass Kinder, die ihre Familie, ihre Freunde, ihren Wohlstand zu schätzen wissen und dafür auch Dankbarkeit empfinden, im Durchschnitt in der Schule besser sind, seltener unter Depressionen leiden und insgesamt eine positivere Lebenseinstellung besitzen als ihre Altersgenossen, die alles um sich herum als selbstverständlich hinnehmen.
Die Haltbarkeit der meisten medialen Heldengestalten ist allerdings begrenzt, in Zeiten der Castingshows überdauern manche Idole kaum einige Monate. Auch sind diese Leitbilder häufig an Entwicklungsphasen der Heranwachsenden gebunden, Promi-Hopping ist weit verbreitet.
Eltern sind nicht austauschbar. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - kommen sie bei vielen Kindern gut weg. Im Rahmen der letzten Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2010 gaben 58 Prozent der befragten Jugendlichen an, eigene Kinder einmal ungefähr so erziehen zu wollen, wie sie selbst erzogen worden sind; 15 Prozent möchten es sogar genauso machen wie ihre Eltern. Jugendliche aus der Unterschicht sahen die Erziehung durch ihre Eltern allerdings weniger positiv, nur 40 Prozent von ihnen waren von den Erziehungsleistungen angetan.
Fragt man Menschen unterschiedlichen Alters in Deutschland nach ihren Vorbildern, tauchen Mutter und Vater seit Jahren auf den vordersten Rängen auf. Mädchen sind dabei häufig Mama-Kinder. Nach einer aktuellen Umfrage der evangelischen Zeitschrift "Chrismon" sagen 38 Prozent der Frauen: Mama war mein Vorbild, als ich klein war. Männer antworten genau umgekehrt: Für 40 Prozent bot Papa die nötige Orientierung.
Woraus sich der Schluss ziehen lässt, dass viele Eltern vieles richtig machen. Und es bedeutet: Leben die Eltern eine gute und verantwortungsvolle Lebensweise ihren Kindern vor, ist dies zwar keine Garantie dafür, dass sich der Nachwuchs erfreulich entwickelt. Aber es erhöht die Chancen ungemein. Denn Vorbilder sind die Eltern ja auf jeden Fall. ■