Extremforscher am Südpol "Die Sonne ist ja im März untergegangen"

Südpolbewohner Robert Schwarz, 46, vor Observatorium
Foto: Robert SchwarzSPIEGEL: Herr Schwarz, wie spät ist es bei Ihnen?
Schwarz: 3.45 Uhr in der Frühe. Wir richten uns nach neuseeländischer Zeit. Aber die Uhrzeit spielt hier am Pol eigentlich keine Rolle. Die Sonne ist ja im März untergegangen. Erst seit Kurzem steigt sie langsam auf, derzeit herrscht permanent Morgengrauen.
SPIEGEL: Kein Mensch hat mehr Zeit am Südpol verbracht als Sie ...
Schwarz: ... streng genommen stimmt das nur für den geografischen Südpol, auf dem antarktischen Kontinent bin ich noch kein Rekordhalter. Dies ist mein zwölfter Winter in der amerikanischen Amundsen-Scott-Forschungsstation, außerdem habe ich hier fünf Sommer verbracht. Insgesamt habe ich mehr als zehn Jahre am 90. Breitengrad verlebt - davon sechs Jahre in der Polarnacht, also in ständiger Dunkelheit.
SPIEGEL: Sind Sie immun gegen Finsternis, Extremkälte und Isolation?
Schwarz: Die grüne Welt fehlt mir natürlich schon. Im Juni, wenn der Temperaturunterschied zwischen hier und München bei 100 Grad Celsius liegt, wünsche ich mir schon manchmal, im Biergarten zu sitzen. Aber eigentlich macht mir dieses Leben nichts aus, sonst würde ich das ja auch nicht tun. Die Polarlichter und der Sternenhimmel faszinieren mich noch immer. Ich bin kein Eigenbrötler, und ich fühle mich auch nicht am wohlsten, wenn ich allein bin. Aber allein sind wir hier ja ohnehin nicht: Es überwintern immer 40 bis 50 Leute in der Station. Im kurzen Sommer sind sogar mehr als 150 Kollegen an Bord.
SPIEGEL: Seit Februar sind Sie auf engstem Raum zusammengepfercht. Was macht die Isolation mit der Gruppe?
Schwarz: Sie schweißt eigentlich zusammen. Es fühlt sich an wie eine große Familie. Natürlich gibt es immer ein paar Leute, mit denen man nicht so gut klarkommt. Neben mir leben hier elf Forscher, die verschiedene Experimente betreuen; der Rest sind Köche, Elektriker, Mechaniker oder Klempner. Und einen Stationsmanager und einen Arzt haben wir natürlich auch.

Schwarz in Polarstation
SPIEGEL: Wie hält man eine solche Gruppe bei Laune?
Schwarz: Wir haben eine geräumige Turnhalle und einen Fitnessraum, es gibt Filmabende, Gesellschaftsspiele und Vorträge. Ich gebe seit Jahren eine 13 Stunden dauernde Einführung in die Astronomie, die meisten hier haben ja damit noch nie etwas zu tun gehabt. Wir haben auch Mathe- und Programmierklassen. In diesem Polarwinter war sogar ein Schweißerkurs im Angebot.
SPIEGEL: Und wie sieht das Unterhaltungsprogramm aus?
Schwarz: Eine besondere Tradition ist der "300er Club". Wenn die Temperatur auf minus 100 Grad Fahrenheit fällt, also minus 73,4 Grad Celsius, heizen wir uns bei plus 200 Grad Fahrenheit in der Sauna auf. Und dann laufen wir nur mit Schuhen bekleidet um den geografischen Südpol. Für ein, zwei Minuten kann man das gut aushalten. Ich habe das dieses Jahr auch wieder gemacht. Wir haben zudem regelmäßig Kostümfeste, Bandproben und, immer sehr beliebt, ein Oktoberfest.
SPIEGEL: Stimmt es, dass am Südpol viel getrunken wird?
Schwarz: In manchen Wintern war es ziemlich schlimm, in diesem recht gut. Ich selber trinke gar keinen Alkohol, und ich denke, es wäre schon besser, wenn die Station trocken bliebe. Aber die Menge, die man pro Woche in unserem Laden kaufen kann, ist reglementiert. Außerdem sind wir alle auch noch Teil verschiedener Notfallteams; denn wir sind unsere eigene Feuerwehr und unsere eigenen Sanitäter. Ich zum Beispiel bin nebenher Chirurgie-Assistent. Wer so einen Dienst übernimmt, der muss natürlich in dieser Zeit komplett nüchtern bleiben.
SPIEGEL: Führt die lange Polarnacht zu Depression, Vitamin-D-Mangel und Langeweile?
Schwarz: Langeweile ist für mich ein Fremdwort. Ich finde immer etwas zu tun. Und Vitamine schlucke ich in Pillenform. Ich bin zum Glück immer zufrieden mit dem, was ich gerade mache. Das geht hier natürlich nicht allen so, vor allem nach Ende des Polarwinters. Die meisten zählen jetzt schon die Tage.
SPIEGEL: Wie oft gehen Sie hinaus in die Kälte?
Schwarz: Ich bin jeden Tag mindestens eine Stunde draußen, denn ich bin hier für den Betrieb des "Keck Array" zuständig. Das sind fünf Teleskope auf einer Montierung, mit denen wir nach dem Ursprung des Universums suchen. Das Observatorium steht etwa einen Kilometer von der Station entfernt. Ich muss es regelmäßig von Schnee befreien und Mechanik, Elektronik und Computer überprüfen. Bei dieser Maschine geht eigentlich dauernd etwas kaputt. Durch die extreme Trockenheit haben wir auch viele Probleme mit statischer Aufladung.
SPIEGEL: Wie gut klappt die Kommunikation mit der Außenwelt?
Schwarz: Wir haben etwa zehn Stunden Internet pro Tag, die Download-Geschwindigkeit ist aber recht langsam. Das Satellitentelefon über das Iridium-Netzwerk steht uns permanent zur Verfügung, allerdings brechen die Telefonate oft ab.
SPIEGEL: Kann man sich an die Kälte gewöhnen?
Schwarz: Nicht wirklich - allerdings daran, sich gut anzuziehen. Ich schaffe das mittlerweile innerhalb von einer Minute. Die ewigen Schwachstellen bleiben die Hände, aber mit drei Paar Handschuhen und vielleicht noch einem Handwärmer geht's. Auch das Gesicht kriegt man trotz Maske nicht richtig warm. Der Wind ist übrigens wesentlich unangenehmer als die Temperatur. Minus 60 Grad mit Wind sind schlimmer als minus 80 Grad ohne. Und minus 40 Grad kommt mir nach dem Winter sogar schon warm vor.
SPIEGEL: Fühlen Sie sich noch wie auf der Erde oder schon wie auf einem fremden Planeten?
Schwarz: Südpol ist wie Weltraum für den kleinen Mann. Alles hier ist so anders als in der warmen Welt. Das Gefühl dieser Entrücktheit hilft aber auch, die Dinge zu akzeptieren, wie sie halt sind. Hier mag ich die Dunkelheit. Aber wenn ich über Weihnachten bei meiner Familie in München bin, dann ärgere ich mich schon, wenn es um 16 Uhr wieder dunkel wird.
SPIEGEL: Wie wohnen Sie in der Station?
Schwarz: Ich hatte diesen Winter zwei Zimmer, jedes etwa zwei mal drei Meter groß. Das ist kleiner als die Mindestzellengröße für Strafgefangene in den USA. Die Zimmer werden danach vergeben, wie viel Zeit man schon am Pol verbracht hat, also hatte ich die erste Wahl. Den zweiten Raum musste ich jetzt allerdings räumen, denn bald kommt die Sommermannschaft.
SPIEGEL: Im Juni wurden in einer riskanten Aktion zwei lebensbedrohlich erkrankte Mitarbeiter per Flugzeug evakuiert. Wie geht es ihnen jetzt?
Schwarz: Es geht beiden wieder gut. Der eine versucht schon, den nächsten Job auf einer Antarktisstation an Land zu ziehen. Es war das erste Mal, dass hier ein Flugzeug im Juni gelandet ist, dem dunkelsten Monat des Jahres. Zum Glück lief alles perfekt. Bei der Kälte ist einfach alles schwieriger. Stromkabel brechen wie Streichhölzer, Tankschläuche werden steif. Wir mussten das Kerosin für den Rückflug tagelang in der Garage anwärmen, sonst hätte sich die Kabine wegen des extrem kalten Zusatztanks in ihr niemals erwärmt.
SPIEGEL: Wann fliegen Sie selber aus?
Schwarz: Geplant ist der 10. November. Das kann aber auch eine Woche länger dauern, je nach Wetter. Mit drei Kollegen hier von der Station miete ich mir dann in Neuseeland für zwei Wochen ein Segelboot.
SPIEGEL: Und dann?
Schwarz: Ende Januar komme ich wieder her - für meine 13. Polarnacht. Aber das war's dann für mich mit dem Südpol. Das Teleskop nähert sich seinem Projektende. Das Nachfolgegerät ist schon in der Planung. Für mich wird's Zeit für einen wärmeren Arbeitsplatz.
Im Video: In seiner Freizeit am Südpol filmt Robert Schwarzer die außerirdische Schönheit der Polarlichter. Im Telefoninterview mit dem SPIEGEL erläutert er seine Passion.