Erfolgsserie "Tatort" Die Sonntagsmörder

Szene aus dem "Tatort"-Film "Eine Leiche zuviel" von 2004
Foto: Wdr_Jürgen_Thiele/ picture-alliance/ obsSo viel darf man verraten: Wenn Maria Furtwängler alias Kommissarin Charlotte Lindholm am Sonntag nächster Woche gefesselt auf dem Rücksitz eines Taxis einer ungewissen Zukunft entgegenzittert, dann beginnt sie, sich mit dem ebenfalls gefesselten Axel Milberg alias Kommissar Klaus Borowski zu streiten. Darüber, wie man den Mann, der beide gefesselt hat und vorn am Lenkrad des Taxis sitzt, zur Vernunft bringt. Der Dialog geht ungefähr so.
Sie: Der plant, das hier nicht zu überleben, der nimmt uns mit.
Er: Wir dürfen den nicht reizen.
Sie: Wie viele Amokläufe haben Sie denn schon überlebt?
Er: Ich hab ne Dokumentation gesehen, auf Arte, und da wurde nicht gesagt, dass man Täter so lange ärgern soll, bis sie einen abknallen.
Natürlich reden echte Kommissare nicht so, wenn ihnen die Muffe geht. Aber es gehört zu den Kollateralschäden des "Tatort"-Erfolgs, dass viele Zuschauer glauben, sonntags Augenzeuge vom deutschen Kommissar-Alltag zu sein.
"Tatort"-Krimis sollen "in der Realität denkbar sein", so definierten die Programmmacher 1970 am Anfang den Anspruch. Und die ersten Kommissare wie Trimmel, Veigl und Finke traten auch auf, als seien sie in Landeskriminalämtern gecastet worden. Heute reicht das nicht mehr.
Die Verwandlung eines Schauspielers in einen "Tatort"-Kommissar gibt ihm eine moralische und fachliche Autorität; die er wieder verlieren kann, wenn er säuft oder zu oft "Scheiße" sagt; aber wenn er glaubwürdig fragen kann: "Wo waren Sie gestern um 20.15 Uhr?", dann kann er sich breitmachen in seiner staatstragenden Rolle.
Schuld daran sind auch Schauspieler, die in 90 Minuten Mädchenhändler oder kriminelle Fleischproduzenten unschädlich gemacht haben, um dann anschließend in Talkshows über Fleischproduzenten und Mädchenhändler zu diskutieren. Oder sie geben, wie etwa die Leipziger Kommissarin Eva Saalfeld (Simone Thomalla), schon mal ein Interview über das zu laxe deutsche Strafrecht.
Wer lange genug Mörder zur Strecke bringt, bekommt von den Zuschauern die Ernennungsurkunde und ist dann auch beim Bäcker, im Taxi oder im Restaurant Hauptkommissar. Bei Hauptkommissar Ivo Batic geht die Verschmelzung mit seinem Alter Ego sogar so weit, dass Miroslav Nemec sich am 22. Juli während des Münchner Amoklaufs dabei ertappte, polizeistrategische Überlegungen anzustellen und mit den "Kollegen" zu fiebern.
Maria Furtwängler, immerhin seit 14 Jahren als Charlotte Lindholm in staatlicher Mission unterwegs, kann über solche Identitätsstörungen nur lächeln, sie hat Probleme genug damit, bei ihren Schießübungen nicht ängstlich die Augen zuzukneifen; und wenn man sie fragt, ob ihre Rolle als Kommissarin Auswirkungen hat auf ihr Dasein als Maria Furtwängler, dann liegt ihr das so fern, dass sie sich über die Frage lustig macht. Ja, klar, seit 14 Jahren ist das Handy ihres Mannes vor ihren privaten Ermittlungen nicht mehr sicher.
Die berühmte "Wussow-Linie" habe sie nie überschritten, sagt Charlotte Lindholm alias Maria Furtwängler mit leichtem Stolz. Sie habe sich nie vorgemacht, sich im wahren Leben als Kommissarin äußern zu können, obwohl Fernsehzuschauer dazu neigen, Schauspieler, die glaubwürdig und ausdauernd einen Kommissar verkörpern oder einen Arzt (wie Klausjürgen Wussow in der "Schwarzwaldklinik"), für kompetente Ärzte oder Kommissare zu halten.
Dass ein "Tatort"-Krimi in der Realität möglich sein muss, das hat vor 46 Jahren Gunther Witte als Grundgesetz der Reihe formuliert, damals Fernsehspieldramaturg des WDR, heute Pensionär in Berlin. Inzwischen guckt er "Tatort" nicht mehr am Sonntag, da ist er lieber in der Oper oder im Theater, aber später schaut er sich die Krimis an. Anfangs war jeder "Tatort" von seinem dichten Regelwerk umzingelt: keine komplizierte Story, keine extreme Gewalt, wenig Privatleben der Kommissare, keine Rückblenden.
"Wir wollten die Einheitlichkeit in den Grundzügen, weil ja viele verschiedene Sender beteiligt waren", sagt Witte, und er war als "Tatort"-Koordinator auserkoren, die Marke zu schützen. Vor allem ging es dem damals als "rot" verdächtigen WDR darum, den gesellschaftlichen Aufklärungsanspruch der Reihe durchzusetzen; nicht nur Morde sollten aufgeklärt, sondern auch gesellschaftliche Missstände aufgedeckt werden.
Zum Robin Hood der Kommissare wurde Horst Schimanski alias Götz George, Arbeitersohn aus Duisburg, Beschützer der Schwachen, Jäger der Mächtigen, einer, der mehr Anarchist ist als Polizist. Schimanski brach mit allen Regeln, nach denen fast alle Kommissare vor ihm ermittelt hatten. Die halbe Nation diskutierte am Tag nach seinem ersten Auftritt in "Duisburg-Ruhrort": Darf es einen solchen Polizisten geben in Deutschland?
Horst Schimanski war antiautoritär, er war der Traumkommissar der Achtundsechziger in den Rundfunkanstalten, wenn schon Polizist, dann so einer, und darum wurde Schimi von 1981 bis 1991 auf alle gesellschaftlichen Probleme gehetzt, die endlich mal in einem Krimi bearbeitet werden mussten. Schwarzarbeit, Waffenhandel, Mädchenhandel, Steuerbetrug, Sekten, Umweltverbrechen, BKA-Schweine, Rindermast, Prostitution, Medikamentenbetrug und natürlich Geldgier.
Animation: Wie erzählt man einen spannenden Kriminalfall? Wie viele Eier verbraucht Kommissar Nik Tschiller pro Folge? Und wie lautet die geheime "Tatort"-Formel? Antworten in der Animation.
Für Maria Furtwängler war der Bulle aus dem Pott weniger ein Agent der Aufklärung als vielmehr ein cooler Typ, Vorbild für junge Männer, die seinen breiten Gang übernahmen und seinen Parka trugen; Schwarm von jungen Frauen, die keine Lust mehr auf Schlipsträger hatten.
Dem "Tatort" wird angedichtet, ein Kompendium deutscher Geschichte der letzten Jahrzehnte zu sein; wer alle Folgen schaue, brauche kein Geschichtsbuch. Das ist Blödsinn, aber der Zeitgeist lässt sich im "Tatort" besichtigen. Neben dem emanzipierten Macho tauchten die ersten ermittelnden Frauen neben den Leichen auf. Lena Odenthal alias Ulrike Folkerts wird zum Rollenmodell der tüchtigen, emanzipierten Frau, die einen hohen Preis zahlt für den Einbruch in das Reservat der aufklärenden Männer: Wenn sie nach Hause kommt, warten da nur eine hungrige Katze und ein leerer Kühlschrank.
Lena durfte rennen wie ein Mann, schießen wie Schimanski, "auch küssen durfte ich", sagt Ulrike Folkerts heute, wenn es nach ihr gegangen wäre, ruhig öfter. Als sie von der "Bild" vor 17 Jahren als lesbisch geoutet wurde, fürchtete sie kurz, die Kommissarinnen-Rolle zu verlieren; da spürte sie, wie Rolle und Leben zusammenhängen, wenn man "Tatort"-Kommissarin ist. Zwei Jahre später traute sie sich dann, in der Folge "Fette Krieger" eine Frau zu küssen, lang und innig. Aber einsam blieb Hauptkommissarin Odenthal dennoch.
Im Moment sind 19 Kommissarinnen am Sonntag im Einsatz, für Maria Furtwängler der Grund, sich über ein TV-Format zu freuen, in dem Frauen unbestritten tonangebend sein dürfen, aber gleichzeitig darüber zu staunen, "wie spaßbefreit wir alle unseren Job runterreißen".
In Berlin darf die Kollegin schon mal eine Affäre mit einem Kollegen haben und ein Kommissar mit seinem schwulen Sex prahlen, auch einen Callboy darf sich eine Kommissarin schon mal leisten - der "Tatort" ist so etwas wie ein Sittendetektor. Mit viel nackter Haut und Sex-Erpressern fängt es in den Siebzigern in den Dünen von Sylt an, Ehebruch als Mordmotiv ist en vogue. In den Achtzigern bestaunen die "Tatort"-Zuschauer die Sexualisierung der Gesellschaft. Das Kind als Sexualobjekt ist in den Neunzigern Thema, übergriffige Väter werden zu Tätern, und Schwule und Lesben machen sich verdächtig oder werden vorgeführt.
Als Spiegel der Gesellschaft funktioniere der "Tatort" in doppeltem Sinn, sagt die Drehbuchautorin Dorothee Schön, und sie muss es wissen, denn sie gehört zu den Agenten des Zeitgeistes, die Normen und Tabus aus der Wirklichkeit in den "Tatort" transportieren. Sie hat Fälle für die Kommissare Flemming, Odenthal, Borowski, Blum (Eva Mattes) und Thiel/Boerne (Axel Prahl/Jan Josef Liefers) entwickelt. "Das passiert auf einer äußeren Ebene, durch Kleidung, durch technische Errungenschaften, durch neue Ermittlungsmethoden; aber auch viel mittelbarer spiegelt der 'Tatort' die Konflikte der Gesellschaft. Wie leben wir? Was für Familienmodelle haben wir? Was macht uns Angst?"
Der "Tatort" spiegele "die vorherrschende Moral", und wenn eine Folge abweiche vom moralischen Common Sense, "dann kann es schon passieren, dass die ,Bild' aufruft, morgen nicht 'Tatort' zu schauen". Ist ihr passiert: In jenem "Tatort" von ihr "ging es um Suizidforen im Internet".
Video: "Tatort"-Fans kennen ihn als Gerichtsmediziner im Kölner Ermittlerteam. Joe Bausch ist ausgebildeter Schauspieler und studierter Mediziner. SPIEGEL TV hat ihn bei einem Dreh begleitet.
Für Christoph Darnstädt, als Autor von Odenthal und Nick Tschiller (Til Schweiger) im Einsatz, sind die oft gesendeten "Themen-'Tatorte'" kein idealer Weg, zu guten Krimis zu kommen. "Ein gesellschaftlich wichtiges Thema, das heute in der Zeitung steht, zu einem 'Tatort' umzuschreiben", funktioniere für ihn nicht.
Vor einigen Wochen lief einer dieser "Themen-'Tatorte'", vom "Tatort"-Twitter-Dienst angekündigt mit dem Tweet: "Im Jahr 2013 fanden in der Schweiz 819 Fälle von Suizidhilfe statt. 197 Personen davon waren im Ausland wohnhaft." Und so ist klar, worum es in "Freitod" geht: um eine Deutsche, in die Schweiz gereist, um zu sterben. Deren Sterbebegleiterin dann allerdings umgebracht wird, um alle Pro- und Kontra-Argumente wie in einem Schultheaterstück rauf- und runterbeten zu können.
"Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu vereinfachen ist der banalste Weg, den Zuschauern das Gefühl zu geben: Am Ende der 90 Minuten ist die Welt wieder in Ordnung", sagt Darnstädt. Ihn interessiert die Geschichte, nicht das Thema, vor allem die Wendungen in der Geschichte, die den Zuschauer überraschen.
Sascha Arango, der viele "Tatorte" für den Kieler Kommissar Borowski schreibt, sucht "nicht nach den großen Themen, sondern die ganz kleinen Geschichten, bei denen das Thema in der Peripherie der Geschichte bleibt". Weil seine Freundin eines Abends fragte, ob er das Badezimmerfenster offen gelassen habe, machte er diese Urangst zum Thema seiner "Tatorte" "Der stille Gast" und "Die Rückkehr des stillen Gastes".
Für ihn liegt die Kunst eines Krimis, erstens, in der absoluten Identifikation mit dem Täter. "Der Zuschauer soll nachvollziehen können, warum der Mörder jemanden umbringt." Denn jeder Mensch kenne den Impuls, einen störenden Menschen beseitigen zu wollen. Die Leiche ist "die Glocke zum Dinner". Und dann verfolgen wir, zweitens, wie der Mörder sich verheddert in den Folgen der Tat, "die er meist nicht so durchdacht hat wie die Tat". Drittens sei psychische Gewalt immer bedrohlicher als die physische. Und wenn man es dann noch, viertens, schaffe, die Spannung zu halten und dem Zuschauer Phasen der Entspannung zu gönnen, dann würde die Dramaturgie eines "Tatorts" bis zum Ende tragen.
Andreas Pflüger, Autor für sieben "Tatort"-Kommissare, lässt sich bei der Entwicklung eines Falles von der Frage leiten: "Was ist das Schlimmste, was meinem Helden, der auch der Mörder sein kann, passieren kann?" Ein guter "Tatort" unterscheide sich vom schlechten dadurch, dass der Zuschauer des guten hinterher nicht nur wisse, wer der Mörder ist, sondern verstehe, warum der Mensch zum Verbrecher wurde.
Für "Tatort"-Erfinder Gunther Witte sind die Autoren und ihre Storys das Erfolgsgeheimnis. Für ihn persönlich sind die Münchner "Tatorte", neben denen aus Köln, heutzutage am nächsten an der Grundidee der Reihe, "die kriegen die doppelte Aufklärung am besten hin", also einen Mordfall aufzuklären und gleichzeitig in gesellschaftliche Nischen zu leuchten. Witte erheitert das, weil in den ersten "Tatort"-Jahren der Bayerische Rundfunk dem roten WDR gelegentlich vorwarf, "Tatorte" zu machen, die zu wenig Krimi und zu viel Sozialreportage waren.
Video: Nach dem 1000. "Tatort" sendet die ARD eine Dokumentation über die beliebte Krimi-Reihe, in der Kommissare, Regisseure und Produzenten erzählen, was den "Tatort" so erfolgreich macht. SPIEGEL-Leser sehen hier eine exklusive Vorschau.
Friedrich Ani, einer der Autoren der Münchner "Tatorte" und engagierter Zuschauer der Reihe, sieht den Grund des Erfolges in Wittes Erfindung, "den 'Tatort' durch die Bundesländer wandern zu lassen". Der "Tatort" zeige, "das Verbrechen ist überall, und nun schaut, wie die in München, Hamburg oder Kiel damit umgehen". Ein guter "Tatort" erzähle Geschichten, "die wehtun, weil sie von Menschen erzählen, die wir sein können". Die Schülerin, die ihren Lehrer liebt, wie in "Reifezeugnis", und zur Mörderin wird. Das Thema verfolgt uns, wenn der "Tatort" zu Ende ist.
Die Münchner "Tatorte" spielen mit der Stadt, wie es sonst in anderen Städten nicht gelingt. Die beiden Schauspieler leben tatsächlich in München, viele Autoren der Reihe ebenso.
"Es ist wichtig für einen 'Tatort', dass der Zuschauer das Gefühl hat, der Kommissar will seine Heimat gegen das Böse verteidigen", sagt Ani, "das war auch die Stärke von Schimanski, der passte ins Ruhrgebiet, als wäre er dort groß geworden, der verteidigte eine Heimat, die bedroht ist, nicht nur durchs Verbrechen. Und das gilt auch für die beiden Münchner Kommissare."
Und weil der Münchner "Tatort" so bodenständig verortet ist, waren das Fremde und der Fremde oft Thema, anfangs vom Kommissar Veigl gern mal als der "Itacker" attackiert und mit allen möglichen volkstümlichen Attributen bedacht. Wenn ihm ein Espresso gereicht wurde, sagte Veigl: Ich wollte eigentlich einen Kaffee.
In 46 Jahren "Tatort" ging es oft um die Fremden, die Ausländer, die Gastarbeiter, die schnell mal als Verdächtige herhalten mussten. Alle Irrtümer, alle Illusionen, alle Vorurteile der Gesellschaft durchziehen die "Tatort"-Folgen, in denen Ausländer auftraten, viele der 1000 "Tatorte" thematisieren Migration und Fremdenfeindlichkeit. Dass Deutschland sich zum Einwanderungsland verändert hat, ist im "Tatort" relativ früh zu beobachten.
Mit Kommissar Ivo Batic bekam der "Tatort" den ersten Kommissar mit Migrationshintergrund, auch wenn er von vielen Zuschauern dank seines leicht bayerischen Akzents eingedeutscht wurde. Für seinen Kollegen Udo Wachtveitl ist klar, "dass auch ein Migrant und Flüchtling ein Verbrecher sein darf - wenn man immer nur politisch korrekt sein will, wie soll man da spannende Geschichten erzählen?"
Für Wachtveitl ist der "Tatort" eine Parabel der westlichen Weltanschauung, "in der Reihe fühlen wir uns zu Hause, weil die Krimis ein Weltbild liefern, das uns behagt: Diese Welt ist nicht magisch, sie ist nicht mystisch, sie ist nicht schwarz und weiß, wir verurteilen das Verbrechen und kitten die Welt wieder". Und gehen beruhigt schlafen und am Montagmorgen wieder zur Arbeit.
Am Weltbild des "Tatort" stört Gebhard Henke, wie Wachtveitl, die besorgte Ängstlichkeit. Henke ist WDR-Fernsehspielchef und "Tatort"-Koordinator der ARD, seit 1998 Wittes Nachfolger. "Wir sollten uns trauen, im 'Tatort' auch Migranten oder Flüchtlinge zum Täter zu machen - wie es schon mal der Fall ist. Es ist unser Anspruch, auch in diesem fiktionalen Format die Wirklichkeit abzubilden." Das Problem von (abgelehnten) Drehbüchern sei allerdings noch etwas anderes: "Nach einer halben Stunde weiß ich, wer der Täter ist."
Seit 2006 steigen die Zuschauerzahlen des "Tatort" deutlich an, im Moment schwanken sie pro Folge zwischen 7 und 13 Millionen. Das liegt, laut Henke, an der Resonanz der Krimis in den sozialen Medien und vor allem an dem lustigen Münsteraner Ermittlerduo, das ganz neue Zuschauer gebracht habe. Inzwischen beweisen Hunderte Kneipen, in denen jeder "Tatort" zum Gemeinschaftserlebnis wird, und jede sonntägliche Twitter-Schlacht zwischen 20.15 und 21.45 Uhr, dass der "Tatort" die Grenzen des Fernsehens überschritten hat.

Motive aus dem Vorspann zur ARD-Krimireihe "Tatort"
Foto: Wdr/ picture alliance / dpaBücher, Spiele und nun auch eine App sind Teile des "Tatort"-Kosmos. Die App erlaubt dem Zuschauer sogar, den Mörder live zu jagen, was allerdings das Decodieren der Dramaturgie kontraproduktiv einfach macht.
Den Vermarktungstrubel erträgt Henke mit der Gewissheit eines Redakteurs, der davon überzeugt ist, dass der "Tatort" in seiner Mischung aus Unterhaltung und Information "das politischste Fernsehspiel im deutschen Fernsehen" ist und wie kein anderes Format die beiden Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verbindet.
In den 46 Jahren haben fünf große Einfälle das "Tatort"-Format "ausdifferenziert", wie Henke es nennt. Schimanski war der ganz andere Kommissar; die ersten Ermittlerinnen tauchten auf; Teams in München, Köln und anderswo lösten den unfehlbaren Einzelgänger ab; und nun ermitteln die Clowns in Münster und Weimar, die mehr mit Worten kämpfen als mit Waffen und Mörder komödiantisch erledigen.
Da die "Tatort"-Marke inzwischen so stark und so flexibel ist, sieht Henke kein Problem darin, dass Wittes Grundregeln kaum noch Beachtung finden. Auch Witte hat aufgehört, sich über Ufos im "Tatort" oder 47 Tote in einer Folge zu wundern, "solche Experimente werten die Reihe auf".
Nick Tschiller (Til Schweiger) ist der fünfte Einfall und bislang letzte Herausforderer des Formats, ein Kommissar, der lieber schlägt und schießt, als zu ermitteln, der "Tatort" als "Stirb langsam"-Format, das mit Actionstreifen im Kino konkurriert. Er wollte das "Tatort"-Spektrum ausdehnen und jüngere Zuschauer ansprechen, sagt NDR-"Tatort"-Redakteur Christian Granderath: "Wenn wir den erfolgreichsten deutschen Schauspieler zum 'Tatort'-Kommissar machen, dann gewinnen wir neue junge Zuschauer, die ihn aus dem Kino kennen." Die jüngeren Zuschauer wurden gewonnen, wenn auch die absoluten Zahlen vom ersten bis zum vierten Fall stark gesunken seien.
Die Tschiller-"Tatorte" und auch andere Folgen weichen ab von der üblichen "Tatort"-Dramaturgie des "Whodunit" (wer war es): Die Kommissare suchen den Mörder, verdächtigen Unschuldige, bis der Täter gefunden ist.
Was braucht ein guter "Tatort"? Was ist die Erfolgsformel? Einen sehr guten Autor mit einer starken Story, einen guten Regisseur, viele Topschauspieler und möglichst wenig falsche Fährten. Was braucht er nicht? Zu viele "gesellschaftlich wichtige" Themen, die besser in Sozialreportagen erzählt werden. Und schon gar nicht den "Pädagogikfaktor", allzu Belehrendes aus der Abteilung: Jetzt erklär ich dir mal, wie du das alles zu verstehen hast.
Granderath wie auch Henke leiden unter dem Erfolg des "Tatorts", sosehr sie für ihn arbeiten. Jeder "Tatort" hat ein paar Millionen Zuschauer mehr als ein Fernsehspiel ohne Mörder; darum läuft inzwischen fast jeden Tag ein "Tatort" als Wiederholung in einem dritten Programm und sonntags im Ersten ein neuer Fall. Dazu kommen Vorabendserien und Krimireihen, in insgesamt 103 Serien wird das Verbrechen mittlerweile bearbeitet, in Sendungen wie "Der Bulle und das Landei", "Heiter bis tödlich", "München Mord", "Nord, Nord, Mord". Schon nachmittags heißt es jeden Tag: "Auf Streife" oder "Der Blaulicht Report". Im Fernsehen versinkt das Land im Verbrechen, während die Gewaltverbrechen und Morde im Land seit zehn Jahren stark abnehmen.
"Es wird alles reduziert auf Mord und Totschlag", klagt Granderath, der neben den NDR-"Tatort"-Produktionen mit vier Ermittlerteams auch noch "Polizeiruf"-Folgen redaktionell verantwortet.

Alle aktuellen "Tatort"-Teams im Überblick
Besonders ARD und ZDF sind so krimifiziert, dass kaum noch Gelder fließen in Fernsehfilme, die ohne Kommissare auskommen. Und wenn doch, dann werden die Zuschauer in Traumwelten voller Palmen, Schlösser und Regenbögen entführt.
Frauen sind besonders vom Verbrechen fasziniert, "das sieht man auch im Buchmarkt", sagt Henke. Es sind Expeditionen in die Unterwelt der Ängste, zu den Ängsten des Alltags, also Einbruch, Raub, Gewalt, aber auch zu den Urängsten Einsamkeit, Verlust, Tod. Die Helden des Krimis leiden für den Zuschauer, der sich nicht so sehr am angenehmen, ungefährlichen Gruseln freut, sondern an dem Gefühl, "dass es Kommissare gibt, die den Ausweg aus der Not weisen", sagt "Tatort"-Autor Darnstädt.
"Was haben wir nur mit diesen Krimis in diesem Krimiland?", fragt sich Maria Furtwängler, die im 1000. "Tatort" nicht nur eine Entführung zu überstehen hat, sondern in Rückblenden auch noch die Verlassensängste ihrer Kindheit; ganz so, als wolle dieser "Tatort" uns zum Jubiläum eine soziokulturelle Erklärung für den Erfolg der Krimireihe gleich mitunterjubeln.
Furtwänglers Entführer ist ein Afghanistan-Veteran der Bundeswehr, der mit seiner Kriegsschuld und um seine Freundin kämpft, die dabei ist, seinen in Schuld verstrickten Vorgesetzten zu heiraten. Da ist sie, die weite Welt des Schreckens, die Tod, Flüchtlinge und Fremdes in die Heimat spült.
"Wir leben in einer Zeit", sagt der "Tatort"-Autor Ani, "in der das Böse ganz wichtig ist für viele Menschen, die wollen das Böse zuordnen können, den anderen, den Fremden." Die sind die Bösen, "und ich gehöre zu den Guten". Aber jeder "Tatort", "der so konstruiert wäre, wie diese Menschen auf sich und die Gesellschaft schauen, der könnte so nie erzählt werden", er wäre zu platt.
46 Jahre "Tatort" erzählen nicht die Geschichte der Bundesrepublik, aber wohl doch die Geschichte des Bösen. Was als Verbrechen vorgeführt wird in den 1000 Folgen, hat sich den Zeiten angepasst. Und wer zum Beispiel in den 97. "Tatort" schaut und ihn etwa mit dem 903. "Tatort" vergleicht, vergleicht den Eifersuchtsmord eines Hamburger Bäckermeisters mit der Mordserie eines kurdischen Clans.
"Ich habe die letzten 20 Jahre gegen das Böse gekämpft", sagt ein Polizist zum anderen im 903. "Tatort", sein Blick ist von oben auf Hamburg gerichtet, er steht in der Luxuswohnung eines Clanbosses in der HafenCity, Marco-Polo-Tower, 14.000 Euro pro Quadratmeter, australischer Marmor im Bad. "Ganz dahinten bin ich aufgewachsen. Wenn ich dieses Apartment sehe, dann weiß ich, dass ich den Kampf verloren habe." - "Blödsinn", widerspricht sein Kollege, "wir versauen ihnen das Geschäft, und wenn sie pleite sind, dann ficken wir die anderen." - "Und danach die Russen." - "Von hinten, und dann die Albaner, die verschissene Balkanmafia." - "Und die Rocker, die gerade den Fleischmarkt übernehmen." - "Dann die Dschihadisten, die Neonazis, die korrupten Politiker, das ganze Pack. Von hier oben denkt man, man kann es herausreißen wie Unkraut. Wir waren aber zu geduldig, zu deutsch. Jetzt ist es zu spät."
Die Macht der ausländischen Banden, die Ohnmacht der Polizei, das sind im "Tatort" gängige Klischees, und Kommissar Tschiller hat darauf eine gängige Antwort, als Einmannarmee mit der Panzerfaust gegen das Verbrechen, das der Staat nicht mehr in den Griff bekommt.
Am Ende eines Krimis ist aus Unordnung wieder Ordnung geworden, so soll es sein; was aber, wenn auf dem Weg dahin die Ordnungshüter mehr Angst schüren als die Verbrecher? Es gibt "Tatort"-Kommissare, die saufen, fahren betrunken Auto, prügeln sich untereinander, verachten ihre Vorgesetzten, ignorieren Vorschriften, sind mehr mit aufsässigen Kindern beschäftigt als mit Verbrechern, gehen mit Täterinnen ins Bett, lassen Beweise verschwinden, agieren wie Richter, verzweifeln am Rechtsstaat, über den sie sich gern lustig machen. Das ist gut für die Story, dumm nur, wenn die Zuschauer dieses Polizistenbild mit der Wirklichkeit verwechseln. Einem Pegida-Kommissar zujubeln und AfD wählen.
Der "Tatort" mit seinem Anspruch, in der Realität möglich zu sein, fördert mehr als andere Krimis diesen Irrtum; und die "Tatort"-Kommissare sind mehr als andere Kommissare gefordert als Modellfiguren des gesellschaftlichen Konsenses. Je näher der Kommissar der Wirklichkeit kommt, desto mehr merkt man ihm die Überforderung an, einerseits ein aufregender, unterhaltender, cooler Held zu sein, andererseits die Zuschauer beruhigt ins Bett bringen zu müssen.
Oft wirken die Kommissare von den Zumutungen des Lebens und der Moderne genauso überfordert wie ihre Zuschauer; wie diese irren sie in einer Gesellschaft herum, deren Normen und Werte so instabil geworden sind, dass Trimmel, Veigl und Finke, die Kommissare aus den Siebzigern, heutzutage aus Verzweiflung straffällig würden.
Verbrechen lohnt sich nicht, soll jeder "Tatort" erzählen; Verbrechen lohnt sich, sagt jede Tageszeitung. "Ein 'Tatort' sollte niemals so tun", sagt "Tatort"-Autor Ani, "als wäre er die Wirklichkeit." Und diejenigen Kommissare, die am wenigsten so tun, als könnte es sie in der Wirklichkeit geben, die beiden ermittelnden Clowns aus Münster, haben die meisten Zuschauer.
Die Wirklichkeit des Verbrechens ist nicht so intelligent wie die Autoren des Verbrechens; etwa 90 Prozent aller Morde in Deutschland sind vollkommen einfallslos. Beziehungstaten. Da killt einfach nur der Mann seine Frau oder (selten) die Frau ihren Mann.