Schicksale Der mysteriöse Tod des Timo Kraus

Vor elf Wochen verschwand Timo Kraus in Hamburg, nun wurde die Leiche des HSV-Managers aus dem Hafen geborgen. Ein Unfall? Seine Frau Corinna glaubt nicht an einen Unglücksfall, die Umstände sind rätselhaft.
Museumsschiff "Cap San Diego" im Hamburger Hafen

Museumsschiff "Cap San Diego" im Hamburger Hafen

Foto: A3576 Maurizio Gambarini/ dpa

An diesem Samstag Anfang Januar herrscht in Hamburg wieder mal Schmuddelwetter. Es ist stürmisch, grau und nass. In der Nacht zieht Nebel auf. Die Temperaturen sinken unter den Gefrierpunkt. Der leichte Schneefall geht in Sprühregen über. Im Radio wird vor Glatteis gewarnt.

In dieser Nacht zum 8. Januar verschwindet Timo Kraus, Leiter der Merchandising-Abteilung beim Fußballbundesligisten Hamburger Sportverein.

Manager Kraus 2016: "Er hat das Leben geliebt"

Manager Kraus 2016: "Er hat das Leben geliebt"

Foto: Witters

Kraus ist ein erfolgreicher Mann, 44 Jahre alt. Groß, sportlich, gepflegter Vollbart, eine auffällige Erscheinung. Seit 16 Jahren verheiratet, Vater von zwei halbwüchsigen Söhnen. In Buchholz, rund 30 Kilometer südlich von Hamburg, besitzt er ein Eigenheim. Er ist beliebt bei den Kollegen vom HSV, als Kumpel geschätzt im heimischen Tennisklub.

Zuletzt gesehen wurde Kraus an den St.-Pauli-Landungsbrücken am Hamburger Hafen, dort, wo sich tagsüber die Touristen drängeln und nachts nichts los ist. Erst elf Wochen später, am Donnerstag, tauchte er wieder auf: tot.

Feuerwehrleute zogen seine Leiche kurz nach sieben Uhr morgens aus dem Hamburger Hafenbecken nahe dem Museumsschiff "Cap San Diego". Der Schiffsführer einer Fähre hatte den Körper im Wasser treiben sehen. Was ist geschehen? Tragischer Unglücksfall, Selbstmord oder tückisches Verbrechen - nichts scheint ausgeschlossen.

Bis heute gibt es mehr Fragen als Antworten. "Ein höchst mysteriöser Fall", erklärt Polizeihauptkommissar Jan Krüger von der Polizeiinspektion Harburg.

Die Sorge über das Schicksal des Mitarbeiters hatte beim HSV in den letzten Wochen manche Aufregung über Fußballergebnisse und Abstiegsgefahr in den Hintergrund gedrängt. "Es lässt sich nicht leugnen, dass dies wie ein bleierner Schatten über dem Verein liegt", sagte Heribert Bruchhagen, Vorstandschef des Klubs.

Corinna Kraus, die Witwe des Managers, ist trotz ihrer Trauer erleichtert, dass sie jetzt Gewissheit hat. Die zierliche Frau, kurz geschnittene blonde Haare, markante Brille, musste über zwei Monate die Ungewissheit ertragen und trotz allem den Alltag bewältigen, als sei nichts passiert.

Die Grundschullehrerin musste morgens zum Unterricht, mittags die Söhne vom Fußballtraining abholen, zwischendurch kochen und mit Behörden telefonieren - und alles im Bewusstsein, dass der Mann, der 18 Jahre lang an ihrer Seite stand, einfach weg war, von jetzt auf gleich: "Das fühlte sich unwirklich an, als würde man in einem absurden Film mitspielen." Seit dem Verschwinden ihres Mannes hat sie so sehr abgenommen, dass ihr der Ehering fast vom Finger rutscht.

Auf den Abend des 7. Januar hat sich Timo Kraus gefreut. Für die verspätete Weihnachtsfeier seiner Abteilung wurde ein großer Tisch im Block Bräu am Hafen gebucht, einem rustikalen Lokal, in dem es selbst gebrautes Bier und deftige hanseatische Spezialitäten wie Labskaus, Krabben auf Schwarzbrot und MatjesStulle gibt.

Als abends Eisregen einsetzt, die Straßen immer glatter werden, will die Ehefrau ihren Mann noch von der Fahrt nach Hamburg abbringen. "Ich kann mich da nicht drücken", entgegnet er, "ich bin doch der Chef." Timo Kraus hatte sich beim HSV vom Praktikanten bis zum Leiter der Merchandising-Abteilung hochgearbeitet. Der Vertrieb von Fanartikeln floriert seitdem prima: von Schlafanzügen in den Vereinsfarben über Fahnen in allen Größen bis zu Schlüsselanhängern, Sitzkissen und Kaffeetassen mit der HSV-Raute.

Weil in Buchholz wegen der Glätte keine Busse mehr fahren, schlittert Kraus zu Fuß zum Bahnhof, das Auto lässt er stehen. Die EC-Karte und 35 Euro steckt er in seine beige Adidas-Jacke mit Fellkragen, das iPhone in die Hosentasche. Seine Hausschlüssel nimmt er nicht mit, er will früh zurück sein. Am nächsten Morgen muss er einen seiner Söhne zu einem Fußballturnier chauffieren.

Bei der Feier am Hafen herrscht tolle Stimmung. "Ein wunderbarer Abend", erinnert sich eine Teilnehmerin. Bier fließt reichlich, die Mitarbeiter prosten sich auf ein Umsatzplus von acht Prozent zu. Mit dem Erlös von Fanartikeln konnten Einnahmen von über acht Millionen Euro erzielt werden, ein Lichtblick für den hoch verschuldeten Fußballverein, ein Riesenerfolg für den Boss. Und in gut einer Woche steht die große internationale Merchandising-Messe im Volksparkstadion an, die von Kraus zum zwölften Mal organisiert wird und die weitere Zuwächse verspricht.

Kurz vor 23.30 Uhr ist die Party vorbei, die HSVler brechen gemeinsam auf. Das Ende der Weihnachtsfeier ist gleichzeitig der Beginn jenes rätselhaften Geschehens, das sich bis heute niemand erklären kann. Kraus will eigentlich wieder mit der Bahn nach Buchholz zurückfahren. Er entscheidet sich dann aber für ein Taxi.

Hat er wirklich viel zu viel getrunken, wie einige Partyteilnehmer später aussagen? Oder ist er nur fröhlich angeheitert, wie sich andere erinnern? "Ich habe meinen Mann noch nie stockbetrunken erlebt", sagt Ehefrau Corinna, "dass er sich als Chef vor seinen Mitarbeitern volllaufen lässt, kann ich mir nicht vorstellen."

Signal von Kraus' Handy(Screenshot aus der App "Find My iPhone" am 8. Januar) "Was suchte er dort?"

Signal von Kraus' Handy(Screenshot aus der App "Find My iPhone" am 8. Januar) "Was suchte er dort?"

Weil bei diesem Wetter die Telefonleitungen der Taxizentralen überlastet sind und der nahe gelegene Standplatz leer ist, halten die Kollegen ein vorbeifahrendes Taxi an, einen Mercedes der B-Klasse. Der Chauffeur, ein Schwarzafrikaner, hat ein mobiles Navigationsgerät im Auto, er lässt sich bei der Eingabe des weit entfernten Fahrziels helfen. Und fragt noch, ob er durch den Elbtunnel oder über die Elbbrücken nach Buchholz fahren soll. Kraus, der sich hinten in den Fond setzt, winkt den Kollegen zum Abschied zu: "Tschüss, bis Montag."

Dass der Taxifahrer später zur Schlüsselfigur des mysteriösen Falls wird, ahnt in diesem Moment niemand. Ebenso wenig, dass alle Versuche, ihn ausfindig zu machen, scheitern werden. Sicher ist, dass er mit dem Manager von den Landungsbrücken wegfährt. Es wird eine kurze Tour.

Ehefrau Corinna Kraus macht sich zu diesem Zeitpunkt keine Sorgen. Um 22 Uhr hat sie mit ihrem Ehemann noch Nachrichten über WhatsApp ausgetauscht, jetzt rechnet sie mit seiner baldigen Heimkehr. Denn sie sieht auf ihrem Mobiltelefon, dass er sich vom Hafen entfernt - die Familienmitglieder haben sich über die App "Find My iPhone" zu einer Gruppe zusammengeschlossen, in der jeder den Standort des anderen jederzeit abrufen kann.

Kurz nach Mitternacht stellt sie überrascht fest, dass sich ihr Mann offenbar wieder zurückbewegt, sie erkennt auch, dass der Akku seines Handys fast leer ist. Und sie empfängt irritierende Signale. Die Spur führt erneut zum Hafenrand, dann eine Treppe hoch und endet schließlich unten am Wasser, nahe der Brücke 1 an den Landungsbrücken und dem Museumsschiff "Rickmer Rickmers". Da ist es genau 0.40 Uhr und das Handy stumm.

An Nachtruhe ist jetzt nicht mehr zu denken. Corinna Kraus versucht immer wieder, ihren Mann telefonisch zu erreichen. Vergebens. Sie fleht ihn über den Anrufbeantworter an, sich zu melden, stundenlang. Früh um sieben ruft sie die Hamburger Davidwache an der Reeperbahn an, meldet ihren Mann als vermisst.

Die Beamten konfrontieren die verzweifelte Ehefrau schon bald mit heiklen Fragen. Ob sie sich vorstellen könne, dass ihr Partner lebensmüde gewesen, freiwillig in die Elbe gesprungen sei? Antwort: "Mein Mann hat das Leben geliebt." Er habe nie unter Depressionen gelitten, stattdessen immer Pläne geschmiedet. Noch am Abend vor seinem Verschwinden habe er einen Südafrikaurlaub für die ganze Familie gebucht.

Ob er das scheinbar so harmonische Familienleben womöglich satt hatte? Ob er sich klammheimlich abgesetzt haben könnte, vielleicht mit einer Freundin? Antwort: ausgeschlossen. "Wir vier waren eine verschworene Gemeinschaft. Wir sagten uns oft, was es für ein großes Glück ist, dass wir uns haben."

Dass der HSV-Manager noch lebt, wird mit jeder Stunde, die seit seinem Verschwinden vergeht, unwahrscheinlicher. Der Personensuchhund Trude, den die Polizei zuvor an Kleidungsstücken von Kraus schnuppern ließ, nimmt zwei Tage nach dem Verschwinden die Spur des Vermissten auf, schlägt prompt am Hafen an. Trude führt die Ermittler zu den Landungsbrücken, und zwar fast exakt zu der Stelle nahe der Elbe, von der die letzten Handysignale gesendet wurden. Der 44-Jährige muss also dort gewesen sein.

"Wir glaubten von Anfang an, dass er ausgerutscht, ins Wasser gestürzt und ertrunken ist", sagt Kommissar Krüger. Auf dem Ponton vor der Brücke sei es in der fraglichen Nacht genauso spiegelglatt gewesen wie überall in Hamburg. Ein Unglücksfall also.

Ehefrau Corinna Kraus mag jedoch nicht an einen Unfall glauben. "Was suchte mein Mann bei Nacht auf dieser Brücke?", fragt sie. "War er allein? Ging er freiwillig dorthin? Hat ihn jemand ins Wasser gestoßen?"

Die Polizei vermutet zunächst, dass Kraus nach einem Sturz in die Elbe von der Strömung unter den Ponton von Brücke 1 gedrückt wurde, dass sich sein Körper dort verfing. 18 Polizeitaucher, die bei Niedrigwasser dort nach dem Vermissten suchen, finden jedoch nichts. Kurios: Weil Zehntausende am Schicksal des Managers interessiert waren, überträgt eine Boulevardzeitung den Einsatz live auf ihrer Facebook-Seite.

Eine Woche nach Kraus' Verschwinden keimt Hoffnung auf, Gewissheit zu erlangen. Der Kapitän einer Barkasse glaubt, auf der Elbe eine Wasserleiche entdeckt zu haben. Polizisten und Feuerwehrleute, die mit Booten ausrücken, entdecken jedoch nur einen Baumstamm.

Feuerwehrleute beim Bergungseinsatz

Feuerwehrleute beim Bergungseinsatz

Foto: Marco Zitzow / "Bild"-Zeitung

Dass der Leichnam des Managers vergangenen Donnerstag flussaufwärts geborgen wird, nur rund hundert Meter von Brücke 1 entfernt, hängt womöglich mit den Strömungsverhältnissen im Hamburger Hafen zusammen, wo es durch den Wechsel von Ebbe und Flut zu ständigen Richtungsänderungen kommt.

Für die Theorie, Timo Kraus sei Opfer eines Verbrechens geworden, gibt es auch nach Entdeckung seiner Leiche keine sicheren Anhaltspunkte. Bei einer ersten Obduktion in der Hamburger Universitätsklinik finden die Gerichtsmediziner keine auffälligen Spuren von Gewaltanwendung. Der Manager ist offenbar ertrunken.

Aber: Die Aussagen von zwei Zeuginnen, die von der Polizei als glaubwürdig bezeichnet werden, lassen den Fall noch mysteriöser erscheinen.

Die beiden Frauen berichten unabhängig voneinander, den Manager in der fraglichen Nacht kurz nach Mitternacht auf den Landungsbrücken erkannt zu haben, und zwar in erstaunlichem Zustand. Kraus habe keine Jacke getragen, habe leicht geschwankt und etwas desorientiert gewirkt. Auf seinem grauen Pullover sei die kleine HSV-Raute deutlich erkennbar gewesen - eine Darstellung, die Kraus' Ehefrau verwundert. "Mein Mann wäre bei dieser Kälte niemals freiwillig ohne Jacke umhergelaufen", sagt sie, "dazu war er viel zu verfroren." Sie frage sich deshalb: Wurde sie ihm gestohlen? Wo ist sie?

Der Einzige, der dazu womöglich Auskunft geben könnte, ist der Taxifahrer. Doch der ist unauffindbar. Selbst eine private Flugblattaktion an Hamburger Taxiständen, initiiert von Kraus' Angehörigen und Freunden, bleibt erfolglos.

"Wir haben alles versucht", versichert Hauptkommissar Krüger. Alle Taxizentralen und alle privaten Unternehmer abgefragt, nichts. In der Taxiszene geforscht, einzelne Chauffeure vernommen, nichts. "Vielleicht haben wir sogar mit dem Richtigen gesprochen", räumt Krüger ein. Aber alle infrage kommenden dunkelhäutigen Fahrer hätten bestritten, etwas mit der Sache zu tun zu haben.

Unbehagen bleibt. Warum wurde kein Phantombild erstellt? Immerhin fiel den HSV-Kollegen die "große Nase" des Fahrers auf. Warum wurde keine Gegenüberstellung versucht? Immerhin hatten mehrere Personen den Mann hinterm Steuer, wenn auch flüchtig, gesehen. Und warum wurde der HSV von der Polizei aufgefordert, keine höhere Belohnung als jene mickrigen 2000 Euro auszuloben, die bisher zu nichts führten?

Tatsächlich kann es mehrere Gründe geben, warum sich der Mann nicht meldet: Der Chauffeur ist illegal in Deutschland, fürchtet, abgeschoben zu werden. Er besitzt keinen Führerschein. Ihm fehlt die Taxilizenz. Er rechnete die Fahrt nicht ab, möchte keinen Zoff mit seinem Chef.

Ob er direkt oder indirekt mit dem Verschwinden und dem Tod von Timo Kraus zu tun hat, ist Spekulation. Hatte er keine Lust, bei Glatteis ins entfernte Buchholz zu fahren, warf er den ihm anvertrauten Fahrgast kurzerhand aus dem Wagen? Plagt ihn deshalb ein schlechtes Gewissen? Geriet er mit Kraus in Streit? Nahm er ihm etwa die Jacke ab?

Fest steht nur: Die Taxifahrt in Richtung Nordheide endete nach gut einem Kilometer in der Hamburger Innenstadt - das ergibt sich aus dem Bewegungsprofil des Handys. Ob der Manager mit dem Taxi oder zu Fuß zum Hafen zurückkehrte, bleibt ungeklärt wie so vieles in diesem Fall.

Für die Angehörigen war die Situation in den letzten Wochen kaum auszuhalten. Solange Kraus nicht gefunden war, hegte die Familie noch einen Funken Hoffnung. "Gegen jede Ratio", gesteht Ehefrau Corinna, "ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass ein Anruf mit der Botschaft kommen würde: Wir haben ihn gefunden. Er lebt."

Aber je länger sie darüber nachgedacht habe, desto weniger habe sie daran geglaubt. Eigentlich sei ihr schon vor dem Auffinden der Leiche klar gewesen: "Wenn er noch leben würde, wäre er hier bei mir."

Im Video: SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep kehrt an den Ort zurück, an dem HSV-Manager Timo Kraus verschwand

DER SPIEGEL
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