Rätselhafte Anpassungsfähigkeit Was hinter der Intelligenz der Tintenfische steckt

Die Schläue von Tintenfischen ist legendär. Doch woher kommt ihre Geisteskraft? Meeresbiologen verfolgen eine faszinierende Spur.
Großflossen-Riffkalmar im Roten Meer

Großflossen-Riffkalmar im Roten Meer

Foto: WaterFrame / Getty Images

Nur ein Auge ist zu sehen. Doch was das für ein Auge ist: Es quillt durch das Loch am Boden des Blumentopfs, der umgestülpt im Aquarium liegt. Hier wohnt der Besitzer dieses Auges, das er wie ein U-Boot-Periskop durch die Decke seiner Behausung reckt: ein Oktopus, der misstrauisch den Besucher mustert.

Anders verhält sich seine Krakenschwester im Tank links daneben. Begierig betastet sie die Scheiben. Sie fließt, sie schwillt, sie pulst und wogt, ein handballgroßes Knäuel aus Armen, das sein menschliches Gegenüber willkommen zu heißen scheint. Den Blumentopf, der auch hier kopfüber im Sand steckt, lässt sie unbeachtet.

"Ist es nicht erstaunlich, dass diese zwei Geschwister sind?", fragt Joshua Rosenthal. Der Unterschied liegt in der Kindheit: Das eine Tier, im linken Aquarium, wuchs ohne Rückzugsmöglichkeit auf. So verlor es die Scheu den Betreuern gegenüber. Der Bruder nebenan dagegen kennt seinen Blumentopf von Kindestagen an. Er hat gelernt, die Welt aus der Sicherheit dieses Verstecks heraus zu beäugen.

Meeresbiologen wie Joshua Rosenthal sehen in der Fähigkeit der Tintenfische, sich den Umständen anzupassen, einen Ausdruck ihrer außergewöhnlichen Intelligenz. Die Cephalopoden ("Kopffüßer") sind Mollusken wie Schnecken oder Muscheln, doch ist ihr Verhalten ungleich komplexer. Sie sind wendig, aufmerksam und einfallsreich. Sie können Schraubverschlüsse öffnen, aus Aquarien flüchten, Menschen voneinander unterscheiden.

Sie können Schraubverschlüsse öffnen, aus Aquarien flüchten, Menschen voneinander unterscheiden. Vor Indonesien beobachteten Forscher, wie Kraken Kokosnussschalen mit sich herumtrugen, um sich bei Gefahr rasch darin zu verstecken.

Unwillkürlich argwöhnen Laboranten, die mit diesen Tieren zu tun haben, dass in ihnen eine Persönlichkeit, ein denkendes Wesen beheimatet sei. Der Oktopus, schreibt der australische Philosoph Peter Godfrey-Smith, sei jenes Wesen auf Erden, das einem Alien am nächsten komme. In einem Buch ergründet der Autor die Frage, ob sich im unförmigen Eierkopf des Oktopus so etwas wie Bewusstsein regt.

Anzeige
Godfrey-Smith, Peter

OTHER MINDS

Verlag: FARRAR STRAUSS & GIROUX
Seitenzahl: 255
Für 62,35 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

28.05.2023 06.32 Uhr

Keine Gewähr

Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier

Antworten darauf zu finden ist nirgendwo so vielversprechend wie im Fischerdorf Woods Hole auf der Halbinsel Cape Cod südlich von Boston. Dort, am Meeresbiologischen Laboratorium (MBL), ist Rosenthal ein Durchbruch im Verständnis dieser Tiere gelungen. Die Aquarien der Kraken und tropischen Sepien finden sich im ersten Stock. "Im Erdgeschoss könnten sie entkommen", erklärt Rosenthal bei einer Führung. "Denn dort steht bei Springflut manchmal das Wasser."

Getarnter Krake: Stellt er sich wirklich vor, dass er wie ein Stein aussehen will?

Getarnter Krake: Stellt er sich wirklich vor, dass er wie ein Stein aussehen will?

Foto: Norbert Probst / Imagebroker / Okapia

Es sind wahrlich bizarre Kreaturen, mit denen es der Forscher da zu tun hat: Drei Herzen pumpen bläuliches Blut durch einen fast beliebig formbaren Körper. Der Mund liegt gleichsam in der Achselhöhle. Die Nahrung wandert von dort mitten durchs Gehirn. Das nämlich umschließt die Speiseröhre. Weiter geht es durch den Darm, der sich im Eingeweidesack hinter dem Kopf windet, um dann in einen Schlauch zu münden, der zugleich als Düsenantrieb zur Fortbewegung dient.

Vor allem aber: Tintenfische haben eine so große Zahl von Nervenzellen, wie es in der Welt der Wirbellosen ohne Beispiel ist. 500 Millionen Neuronen hat ein Oktopus. Er kann damit jeden einzelnen der mehr als 1500 Saugnäpfe an den acht Armen präzise steuern oder regelrechte Lichtspiele über seine Haut flackern lassen.

Doch wie verarbeiten die Nervenzellen all die Informationen, die von den vielen Tastsensoren ausgehend ins Gehirn gelangen? Wie fällt ein Tintenfisch seine Entscheidungen? Und gleicht sein Denken in den Grundzügen dem unseren? Mit anderen Worten: Hat die Natur, als sie den Tintenfisch hervorbrachte, dieselben Prinzipien der Datenverarbeitung genutzt wie bei den Wirbeltieren, oder gibt es verschiedene Weisen, intelligent zu sein?

Rosenthal hat im Erbgut der Tiere nach Antworten auf diese Fragen gesucht - und ist dabei auf ein faszinierendes Phänomen gestoßen: Kraken, Sepien und Kalmare nutzen genetische Informationen anders als die Wirbeltiere. Ihre Zellen lesen die Instruktionen im Erbgut nicht nur, wie es die Zellen anderer Tiere tun, sondern wandeln einzelne Bausteine systematisch ab.

Erstmals wurde Rosenthal stutzig, als er molekulare Poren untersuchte, die den Strom durch die Zellmembran von Neuronen steuern. Diese sogenannten Ionenkanäle, so stellte Rosenthal fest, entsprechen nicht genau der Bauanleitung, wie sie im Erbgut steht. Das erschien dem Forscher merkwürdig. Zwar sind auch bei Wirbeltieren einige wenige Fälle bekannt, in denen genetische Informationen beim Auslesen von den Zellen manipuliert werden. Könnte dies bei Tintenfischen die Regel sein? Rosenthal durchforstete das Erbgut von Oktopus, Sepia und Kalmar nach Hinweisen auf weitere Manipulationen.

Das Ergebnis war frappierend: Wo immer im Erbgut er auch suchte, wurde Rosenthal fündig. Rund die Hälfte aller Geninstruktionen wird redigiert. Während für einen Menschen die Gene ein Schicksal sind, dem er zeit seines Lebens nicht entrinnen kann, pfuscht der Tintenfisch ohne Unterlass an seiner Erbinformation herum.

Noch ist unklar, wozu dieser Mechanismus vonnöten ist. Dass er jedoch einen Nutzen hat, scheint offenbar. Rosenthal vermutet, dass die Fähigkeit, die eigene Erbinformation abzuwandeln, den Tintenfischen dabei half, ihre Intelligenz zu steigern. Denn nirgendwo werden die Geninstruktionen so umfänglich redigiert wie in den Nervenzellen.

Bei einigen der Ionenkanäle etwa wählen die Zellen zwischen mehr als einem Dutzend verschiedener Varianten. Und jede von ihnen hat andere elektrische Eigenschaften. Das dürfte die Komplexität der Datenverarbeitung deutlich vergrößert haben.

Und noch eine weitere mysteriöse Eigenschaft der Tintenfische könnte der von Rosenthal aufgedeckte Vorgang erklären helfen: ihre seltsame Kurzlebigkeit. Kopffüßer wachsen und altern schnell. Viele Arten leben lediglich ein Jahr. Sie paaren sich nur einmal und sterben kurz darauf.

Dass ausgerechnet die Geistesgrößen unter den Weichtieren ein so kurzes Leben führen, ist rätselhaft. Denn wozu dient ihnen all ihre Gelehrigkeit, wenn ihnen doch die Zeit zum Lernen fehlt? Hinzu kommt, dass die Heranwachsenden auf sich gestellt sind. Weil die Eltern sterben, kaum dass ihre Brut geschlüpft ist, lehrt niemand die Kleinen, wie sie Garnelen fangen können, dass Robben Gefahr bedeuten oder dass Kokosnussschalen zum Verstecken taugen. All das müssen sie allein herausfinden.

Rosenthal nimmt an, dass ihnen dabei die Flexibilität im Umgang mit ihrem Erbmaterial zugutekommt. Vermutlich passen sie die Art der Proteine, die sie herstellen, jeweils den Umständen an. Vielleicht können sie Erinnerungen gleichsam im Erbgut speichern. All das könnte ihr Lernvermögen deutlich steigern. Der Tintenfisch, so scheint es, lebt und lernt im Turbomodus.

Noch sind das Spekulationen. Um tiefer in die Geheimnisse der Kopffüßerwelt eindringen zu können, versucht Rosenthal in seinem Labor, Zwergtintenfische zu züchten. Er hofft, dass er die Haltung dieser Tiere so lange vereinfachen kann, bis es möglich wird, an vielen Tausenden von ihnen Experimente durchzuführen, wie es heute schon mit Mäusen oder Fruchtfliegen üblich ist. Er träumt von einer Cephalopodenbank, mit der sich das Phänomen ihrer Intelligenz systematisch ergründen ließe.

Von "Intelligenz" mag Rosenthals Kollege Roger Hanlon nicht reden. Lieber spreche er von "komplexen Verhaltensweisen". Denn die Versuchung sei groß, in Kraken oder Kalmare etwas hineinzuprojizieren, was dort gar nicht vorhanden sei. "So eindrucksvoll die kognitiven Fähigkeiten der Tintenfische auch sind", sagt Hanlon, "so verhalten sie sich doch manchmal erstaunlich dumm."

Im Video: Hanlons berühmter Oktopus

DER SPIEGEL

Sein Lieblingsbeispiel ist die Partnerwahl, bei der sich Sepiamännchen leicht täuschen lassen. Hanlon hat beobachtet, wie männliche Sepien ein Weibchen aggressiv gegen einen Rivalen verteidigen. Manchmal jedoch wechselt dieser, wenn er sich deutlich unterlegen fühlt, unvermittelt seine Taktik: Statt den Platzhirsch weiter anzugreifen, wandelt er plötzlich seine Gestalt und tarnt sich als Weibchen.

"Man mag es kaum glauben, aber oft ist dieses Manöver erfolgreich", sagt Hanlon. Dann ist es so, als wäre das stärkere Männchen von akuter Amnesie befallen. Vergessen scheint der erbittert geführte Kampf. Nun macht der Überlegene dem, der gerade noch als Männchen ein Rivale war, als Weibchen sexuelle Avancen. Hanlon: "Da fragt man sich doch: Wie kann man nur so töricht sein?"

Seit 22 Jahren schon erforscht er am MBL in Woods Hole das Verhalten von Cephalopoden. Er ist eine Koryphäe in dem Fach, das Standardwerk darüber hat er herausgegeben. Sein wichtigstes Anliegen sieht er darin, diese Tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu studieren. Tausende Stunden ist Hanlon Oktopussen und Kalmaren mit der Pressluftflasche auf dem Rücken gefolgt. "Oft muss man lange warten, bis sie sich beruhigt haben."

Besonders interessiert er sich für eine Fähigkeit, die mehr als jede andere die Andersartigkeit der Tintenfische unterstreicht: ihr einzigartiges Tarnvermögen. Binnen Sekundenbruchteilen kann sich ein Oktopus in eine Koralle oder einen Fels verwandeln. Urplötzlich zaubert ein Kalmar Fleckenmuster auf seine Haut, über die dann auch noch täuschend echte Lichteffekte wandern. Und einige der Tiere können sogar noch Wulste auf ihrem Leib wuchern lassen, sodass sie vollends vor dem jeweiligen Hintergrund verschwinden.

In einem Video, das Millionen Zuschauer im Netz bestaunt haben, filmte Hanlon, wie er sich einem von Algen überwucherten Stein nähert. Plötzlich erweist sich ein Teil davon als Oktopus, der Tinte ausstoßend flüchtet. Der Forscher wusste, dass ihm außergewöhnliche Aufnahmen gelungen waren. Von der Resonanz war er dennoch überrascht: "Ein solches Filmchen auf YouTube weckt mehr Aufsehen als jede wissenschaftliche Veröffentlichung."

Hanlon hatte maßgeblichen Anteil daran, das Geheimnis der Cephalopodentarnung aufzuklären. Es findet sich versteckt in ihrer Haut. Eingebettet darin sind mit Pigment gefüllte Zellen, die das Tier mit Muskelkraft einzeln spreizen kann. Auf diese Weise kann der Tintenfisch jeden Punkt seiner Haut wie das Pixel eines Bildschirms einfärben und daraus ein Muster zusammensetzen. Obendrein lässt er bei Bedarf auf seinem Körper Beulen wachsen, indem er ringförmige Muskeln in der Haut zusammenzieht. "All das geschieht mutwillig", sagt Hanlon. "Das Tier entscheidet aktiv, wie es sich tarnen will." Erst entsteht das Design des Musters im Gehirn, dann wird es an die Haut gesandt, das wie ein lebender Bildschirm funktioniert.

Doch was denkt sich ein Tintenfisch dabei? Stellt er sich wirklich vor, dass er jetzt wie ein Stein aussehen will? Ist, wenn er eine neue, nie zuvor erzeugte Musterung auf seiner Haut erprobt, so etwas wie Kreativität im Spiel? Wie Rosenthal, so würde auch Hanlon gern verstehen, was im Gehirn eines Tintenfischs wirklich vor sich geht. Bisher ist nicht einmal klar, ob das Nervensystem eines Cephalopoden ähnlich demjenigen eines Wirbeltiers aufgebaut ist. "Falls sich zeigen sollte, dass die Anatomie grundsätzlich anders ist, fände ich das sehr spannend", sagt Hanlon.

Ein Unterschied steht schon fest: Anders als bei Frosch, Maus oder Mensch finden sich beim Tintenfisch verstreut über den ganzen Körper mehr Neuronen als im Gehirn; zwei von drei Neuronen sitzen in den Armen. Diese sind teilautonome Organe, die weitgehend unabhängig von der Zentrale agieren können.

Für Hanlon, den Cephalopodenforscher, wirft das eine faszinierende Frage auf: Könnte es sein, dass der Tintenfisch gar nicht mit dem Kopf allein, sondern mit dem ganzen Körper denkt?

Im Video: Mal Fisch, mal Stein, mal Koralle

DER SPIEGEL

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren