Tom Segev im Interview "Wir fürchten immer das Ende"

Autor Segev in seiner Wohnung in Jerusalem: "Ben-Gurion war definitiv nicht sympathisch"
Foto: Jonas Opperskalski/ DER SPIEGELDer israelische Historiker und Autor Tom Segev, 73, ist einer der besten Erklärer seines Landes, kaum einer hat so viele historische Mythen zertrümmert wie er. In seinem neuen Buch holt er ausgerechnet Israels größten Helden vom Sockel: David Ben-Gurion, den ersten Premierminister, der vor 70 Jahren, am 14. Mai 1948, die Unabhängigkeit erklärte.
Segev empfängt in seiner Jerusalemer Wohnung, er spricht fließend Deutsch; in den Siebzigerjahren arbeitete er als Korrespondent in Bonn, seine Mutter stammt aus Göttingen. Sie eröffnete ein Fotostudio in Jerusalem und machte 1963 das Porträt, das nun Segevs Buchcover schmückt. Ben-Gurion lächelt darauf ein wenig schelmisch, die Haare stehen wild ab. Vier Tage später trat er zurück. Das wusste er wohl schon, als das Foto entstand.
SPIEGEL: Herr Segev, in Ihrem neuen Buch haben Sie sich an den Staatsgründer David Ben-Gurion herangewagt. Sie zeigen ihn als zerrissenen Menschen, der depressive Phasen hat und oft wochenlang im Bett liegt. Er lügt und drückt sich vor Verantwortung. Waren die Israelis enttäuscht von diesem jämmerlichen Helden?
Segev: Jämmerlich würde ich ihn nicht nennen. Aber ja, manche waren enttäuscht - und andere angenehm überrascht. Ben-Gurion war immer eine sehr kontroverse Figur, er hat ja auch bei Wahlen nie mehr als ein Drittel der Stimmen bekommen. Gleichzeitig ist er heute unglaublich populär in Israel. Allein in den sechs Jahren, in denen ich an dem Buch gearbeitet habe, sind vier andere Biografien über ihn entstanden.

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Foto: Anadolu Agency/ Getty ImagesSPIEGEL: Weil die Menschen sich nach einem Staatsmann sehnen?
Segev: Das glaube ich, ja. Es gibt eine große Sehnsucht nach dem, was ich staatsmännische Integrität nennen würde. Und das hat natürlich mit Benjamin Netanyahu und seinen angeblichen Korruptionsaffären zu tun. Außerdem steht Israel auch heute noch immer vor denselben Problemen, die bereits Ben-Gurion beschäftigten.
SPIEGEL: Aber dann entzaubern Sie ihn gleich wieder. Wie kamen Sie dazu?
Segev: Inzwischen ist Material verfügbar, das bisher nicht erhältlich war, so kann ich sehr viel Neues über ihn erzählen. Außerdem schreibt Ben-Gurion Tagebuch, seit er 14 ist - er schreibt fast jeden Tag, bis er mit 87 stirbt. Die früheren Biografen haben es vor allem als politisches Dokument gelesen, aber mich haben auch seine Ängste, Gefühle und Krisen interessiert. Denn ich glaube, es ist sehr relevant, wenn ein Staatsmann einen Beschluss fasst an einem Tag, an dem er furchtbar deprimiert ist. Oder nehmen Sie seine vier außerehelichen Affären. Ich räume ihnen Platz ein, weil ich glaube, dass auch das Private etwas über einen Politiker aussagt.
SPIEGEL: Ist er Ihnen über all die Jahre sympathisch geworden?
Segev: Er hat mich sechs Jahre lang wirklich fasziniert, jeden Tag. Trotz allem, was ich über ihn wusste, war ich oft überrascht. Ich weiß nicht, ob es sympathische Staatsmänner von diesem Kaliber geben kann, aber er war definitiv nicht sympathisch. Und er hatte absolut keinen Humor. Das ist ein großes Problem für einen Biografen.
SPIEGEL: Im Tagebuch schreibt er: "Habe eine Frau geheiratet", ohne den Namen zu nennen. Das ist doch extrem komisch.
Segev: Nein, es ist traurig, weil er seine Frau auch so behandelt hat. Er hat sie einen Winter lang in Polen sitzen lassen, später hat er sie in einen Kibbuz in der Negev-Wüste geschleppt. Er war sehr oft nicht da, er hat sich zumeist nur wenig für sie interessiert. Er war nicht nett.
SPIEGEL: Wir haben beim Lesen auch manchmal gelacht.
Segev: Das ging mir beim Schreiben ebenso. Ich habe aber gerade gestern von jemandem gehört, er habe geweint.
SPIEGEL: Man kann sicher auch weinen, er ist fast schon ein tragikomischer Held.
Segev: Ja, vielleicht. Manches, was er tut, ist widersprüchlich und schwer zu erklären. Er hat oft verrückte Einfälle. So wollte er Nasser in Ägypten stürzen. Oder Albert Einstein zum Präsidenten machen. Und, auch das war ein Ergebnis meiner Recherchen: Ben-Gurion hat im Frühjahr 1947 versucht, das britische Mandat um fünf bis zehn Jahre zu verlängern. Dieser Mann, der sein Leben lang von einem jüdischen Staat träumt - einem Staat, der in diesem Moment schon so nah erscheint -, der bittet plötzlich die Briten, doch nicht aus Palästina abzuziehen. Er tut das, weil seine Streitkräfte noch nicht bereit sind für den Krieg. Und das ist natürlich hauptsächlich seine Schuld. Doch wenn man ihn damit konfrontiert, sagt er nur: Ich bin ja kein General, ich kenne mich damit nicht aus! Aber wenn ihr wollt, kann ich zurücktreten.
Preisabfragezeitpunkt
20.03.2023 10.13 Uhr
Keine Gewähr
SPIEGEL: Er tritt quasi ständig zurück.
Segev: Ja, diese Drohung hat immer funktioniert. Das wirkte dann so, als ginge es ihm gar nicht um die Macht, sondern nur um die Sache.
SPIEGEL: In seinem zweiten Brief, den er aus Palästina an seinen Vater in Polen schreibt, da ist er 20, bittet er ihn, alle Briefe aufzuheben. Er ist sich seiner historischen Rolle sehr früh bewusst.
Segev: Ich habe Ben-Gurion ein einziges Mal getroffen, vor genau 50 Jahren; er war damals 81, wir waren Anfang 20 und arbeiteten für eine Studentenzeitung. Er hat uns da erzählt, er habe mit drei Jahren gewusst, dass er nicht in Polen bleiben werde. Ich habe die Aufnahme noch, man hört mich da ungläubig fragen: "Aber Herr Ben-Gurion, das haben Sie wirklich mit drei Jahren schon gewusst?" Und er sagt: "Ja, ja, natürlich mit drei Jahren. Alle haben es gewusst, natürlich, das war gar keine Frage." Ich dachte damals, dass da ein alter Mann Unsinn redet. Aber als ich nun recherchiert habe, habe ich begonnen, das zu glauben. Der Zionismus war für ihn der Kern seiner Identität, sein Lebensinhalt.
SPIEGEL: Gleichzeitig hat man oft das Gefühl, die Juden als Menschen seien ihm egal. Etwa wenn er die Holocaust-Überlebenden als enttäuschendes "Menschenmaterial" bezeichnet, das er gar nicht in Israel haben will. Oder über die "primitiven" Juden aus den arabischen Ländern spricht.
Segev: Es geht ihm um die Nation; es geht ihm darum, das historische Schicksal seines Volkes neu zu gestalten. Den Holocaust betrachtet er daher in erster Linie als ein Verbrechen gegen den Staat Israel.
SPIEGEL: Und trotzdem wurde Israel am 14. Mai 1948, gerade drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gegründet.
Segev: Ja, und wenn man heute auf diesen Staat blickt, kann man sagen: Er ist eine der größten Erfolgsstorys des 20. Jahrhunderts. Wenn Sie sich die internationalen Statistiken anschauen, ist Israel oft unter den Top 15. Das alles wurde unter Ben-Gurion aus dem Nichts erschaffen. Und genauso kann es auch wieder verloren gehen. Das ist die ständige Angst, die wir Juden in uns tragen. Die Angst vor einem zweiten Holocaust. Ben-Gurion hatte sie. Netanyahu hat sie. Wir fürchten immer das Ende.
SPIEGEL: Ben-Gurion ist von Anfang an überzeugt, es könne nie Frieden mit den Arabern geben. Wieso?
Segev: Das Interessante ist, dass er zu diesem Schluss nicht etwa 1948 kommt, sondern bereits 1919. Er sagt da: Ich kenne keinen Araber, der bereit sein wird, uns hier zu akzeptieren. Er träumt daher schon früh von einem Transfer der arabischen Bevölkerung, deswegen war er sogar bereit, die Teilung Palästinas zu akzeptieren¿- wenn dieses Land dann möglichst frei von Arabern wäre. Alles, was seither geschehen ist, kann man als das Resultat dieser Erkenntnis sehen: dass es mit den Arabern keinen Frieden geben kann.
SPIEGEL: Das widerspricht der üblichen Lesart, Israel habe die Teilung und Frieden gewollt, die Araber hätten das abgelehnt¿- und seien somit schuld an den Folgen.

Politiker Ben-Gurion mit Enkel 1967: "Er war zutiefst enttäuscht von diesem Land und seiner Gesellschaft"
Foto: Sven SimonSegev: Die Araber haben ja in der Tat die Teilung abgelehnt und sich geweigert, Israel zu akzeptieren. Für Ben-Gurion war das eben ein Teil des Preises; das Leben in einem unabhängigen jüdischen Staat in Palästina, das bedeutete auch: ein Leben ohne Frieden. Allerdings äußerte er sich öffentlich oft anders als privat. In Interviews hat er stets gesagt: Ja, natürlich glaube ich an Frieden. Einmal hat er erklärt, warum er das sagen müsse: weil sonst niemand auf der Welt den Zionismus unterstützen würde und weil sonst keine jüdischen Einwanderer zu erwarten seien. Warum sollten sie in ein Land kommen, das sich in einem ewigen Krieg befinde?
SPIEGEL: Dass es nie Frieden mit den Arabern geben kann, glaubt Netanyahu auch.
Segev: An vielem hat sich bis heute eben nichts geändert. Ben-Gurion ist quasi der Erfinder der Idee, dass man diesen Konflikt nicht lösen, sondern nur managen kann. Er sagte: Nur wenn Israel stark ist, wenn die Araber einsehen, dass sie Israel nicht vernichten können, dann werden sie akzeptieren, dass wir hier sind. Mit Ägypten und Jordanien ist es so gekommen, mit den Palästinensern nicht. Ben-Gurion hoffte, die Palästinenser vergessen ihr Land.
SPIEGEL: Es ist anders gekommen. Und so demonstrieren in diesen Tagen Tausende Palästinenser im Gazastreifen für die Rückkehr nach Israel - in Dörfer, aus denen einst ihre Urgroßeltern geflohen sind.
Segev: Es ist interessant, dass Ben-Gurion das so unterschätzt hat. Ausgerechnet dieser Mann, dessen ganzes Handeln auf dem Nichtvergessen beruht, auf der Idee: Wir Juden kehren in unser Land zurück. Aber dann hat er sich eingeredet, dass die Flucht der Palästinenser 1947/48 bedeutet, dass sie geistig und historisch nicht so tief verbunden sind mit dem Land wie wir Juden.
SPIEGEL: Deshalb forciert er auch die Vertreibung von fast einer Dreiviertelmillion Arabern und toleriert Kriegsverbrechen?
Segev: Ben-Gurion ist natürlich gegen Kriegsverbrechen. Er ist dagegen, dass die Soldaten rauben und vergewaltigen und morden, das findet er alles fürchterlich. Aber oft toleriert er es eben auch, er hat - wie soll ich es sagen? - er hat Verständnis für patriotische Verbrechen. Er redet sich ein, dass die Araber freiwillig weglaufen. Und das ist so interessant, weil er an manchen Orten dabei ist und sieht, wie Kolonnen von Flüchtlingen die Stadt verlassen.
SPIEGEL: Er geht durch das leere Haifa und schreibt danach in sein Tagebuch: "Ein fantastischer Anblick."
Segev: Ja. Und dann schreibt er, er verstehe das gar nicht, warum sind die geflohen?
Ich denke, er schreibt und sagt all das im Nachhinein, weil er den zionistischen Traum schöner haben will, als er in Wirklichkeit ist. Er will an seine moralische Überlegenheit glauben.
SPIEGEL: Dieses Gefühl der moralischen Überlegenheit spürt man noch heute. In den vergangenen zwei Wochen haben israelische Soldaten rund 30 Demonstranten im Gazastreifen erschossen. Aber in Israel rührt sich kaum Protest. Nach dem Motto: Es wird schon richtig sein, wenn unsere Soldaten Palästinenser erschießen.
Segev: Leider gibt es nur wenige Israelis, die sich noch für die Palästinenser interessieren. Die Unterstützung für Netanyahu ist sehr breit. Das liegt zum Teil daran, dass er es geschafft hat, den sogenannten Friedensprozess einzuschläfern wie einen alten Hund. Es drohen keine territorialen Zugeständnisse mehr. Er kann der Bevölkerung sagen: Es ist alles unter Kontrolle, es geht euch gut. Und das stimmt. Die meisten Israelis leben heute besser als je zuvor.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass trotzdem der Hass auf die 38¿000 Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan so groß ist?
Segev: Weil sie schwarz sind. Es gibt viele Gastarbeiter in Israel, aus der Ukraine, Thailand oder Rumänien. Gegen die hat keiner was. Denn die sind nicht schwarz. Ich kann mir diesen Hass nicht anders erklären als mit Rassismus.
SPIEGEL: Sogar Netanyahu hat diesen Hass offenbar unterschätzt. Vergangene Woche hatte er einen Kompromiss mit dem Uno-Flüchtlingshilfswerk erzielt, eine Hälfte der Flüchtlinge sollte nach Europa und Kanada umgesiedelt werden, die andere Hälfte in Israel bleiben. Es gab einen Proteststurm. Verstehen Sie das?
Segev: Netanyahu hatte da ein wirklich gutes Abkommen ausgehandelt. Aber vier Stunden nachdem er es verkündet hatte, musste er es revidieren. Weil die Rechten in seiner Regierung einen Aufstand machten. Stattdessen sollen sie nach Ruanda oder Uganda abgeschoben werden, eine ungeheuerliche Idee. Das bestärkt mich in meiner Furcht, dass unsere größte Bedrohung nicht der Terror oder Krieg ist. Sondern der Angriff auf die israelische Demokratie. Israel ist immer weniger demokratisch. In unserer Regierung sitzen Minister, die klingen so wie ungarische oder österreichische Rechtsradikale. Wir haben uns immer gesagt, wir hassen keine Araber, wir kennen überhaupt keinen Hass und keinen Rassismus. Aber natürlich hassen wir die Araber. Und die Schwarzen. Und wir schämen uns nicht mal mehr dafür.
SPIEGEL: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Ben-Gurion einmal gefragt wird, was denn eigentlich dieser jüdische Staat sei. Und er hat darauf keine Antwort. Wenn aber gar nicht ganz klar ist, wer eigentlich zu diesem Staat gehört - dann definiert man sich vielleicht eher über die Ablehnung und den Hass auf die anderen?
Segev: Sie haben recht. Die Schwierigkeit, eine gemeinsame Identität zu bilden, das ist unser Drama von Anfang an. Ben-Gurion führt eine Bewegung, die sich selber nicht definieren kann. Und das ist für ihn besonders schwierig, weil er sich ja als Atheist versteht; er isst Schweinefleisch und arbeitet an religiösen Feiertagen. Aber dann stellt sich die Frage: Was ist denn ein nicht religiöser Jude? Ist der überhaupt ein Jude? Und wie definiert man den? Das ist ein Problem, das den Staat Israel bis heute verfolgt. Ähnlich widersprüchlich verhält es sich mit dem Zionismus. Ben-Gurion will alle Juden nach Israel bringen. Doch viele sind in Amerika sehr glücklich, die brauchen gar keinen jüdischen Staat! Außerdem wäre Israel ohne ihre Unterstützung nicht überlebensfähig. Ben-Gurion will die Juden also hier, aber braucht sie auch dort. Ein nicht lösbares Dilemma.
SPIEGEL: Ist denn das heutige Israel der Staat, den Ben-Gurion sich vor 70 Jahren erträumt hat?
Segev: Überhaupt nicht. Ein Großisrael ist zwar sein langfristiger Traum, aber er will nicht so viele Araber im Land haben, wie es durch den Sechstagekrieg 1967 dann geschehen ist. Er wollte vermeiden, dass wir in eine Situation kommen, wie sie uns jetzt bevorsteht: dass es bald keine jüdische Mehrheit mehr geben könnte.
SPIEGEL: Sie glauben, Israel ist bald kein jüdischer Staat mehr?
Segev: Ich fürchte, dass es eines Tages so kommen wird.
SPIEGEL: Weil beide Seiten sich von der Zweistaatenlösung verabschiedet haben und so zwangsläufig auf einen gemeinsamen Staat zusteuern?
Segev: Beide Seiten steuern nicht, sie werden getrieben. Eine Mehrheit von Israelis und Palästinensern glaubt nicht mehr an die Zweistaatenlösung, sie glaubt auch nicht an Frieden. Genau wie Ben-Gurion vor fast hundert Jahren. Aber niemand weiß, was kommt, niemand hat eine Alternative. Ich auch nicht. Aber ich weiß, dass es heute zu spät ist, über einen Abzug der Siedler zu sprechen. Das ist vorbei.
SPIEGEL: Die Rechten in der Regierung wollen das Westjordanland annektieren und die Palästinenser zu Bürgern zweiter Klasse machen. Ist das der nächste Schritt?
Segev: Ich weiß es nicht, aber ich bin leider ziemlich pessimistisch. Ich sehe nicht, wo dieser Staat hingeht - und ich sehe es auch deshalb nicht, weil ich mich fürchte, es zu sehen. Wir haben uns in den vergangenen Jahren in eine sehr schlechte Richtung entwickelt, nicht wirtschaftlich und technologisch, das ist alles schön und erfreulich. Aber politisch ist es möglich, dass wir uns jetzt wieder in den israelischen Dreißiger- und Vierzigerjahren befinden. Die Siedlungspolitik erinnert mich daran. Vielleicht steht ein neuer Unabhängigkeitskrieg bevor, vielleicht eine neue Nakba, eine weitere Vertreibung der Palästinenser; vielleicht waren die ersten 70 Jahre unseres Staates nur das erste Kapitel. Und das zweite Kapitel kommt erst noch.

Segev beim SPIEGEL-Gespräch: "Ich bin leider ziemlich pessimistisch"
Foto: Jonas Opperskalski/ DER SPIEGELSPIEGEL: Eine Frage zu Ben-Gurion haben wir noch: Hat er sich eigentlich in diesem Staat wohlgefühlt, den er mitgegründet hat? Er ist pausenlos gereist, er scheint unglaublich ruhelos gewesen zu sein.
Segev: Das ist interessant, nicht wahr? Ich glaube, dass er auch deshalb sehr viel gereist ist, weil er nicht lange mit seiner Frau zusammen sein konnte. Und natürlich war er ruhelos. Er ist manchmal monatelang im Ausland gewesen. Und es gab oft keinen Grund dafür. Ich glaube, er war in Israel nicht glücklich. Er war eigentlich zutiefst enttäuscht von diesem Land und seiner Gesellschaft. Die Gesellschaft, die er sich erträumt hatte, das Land, das er sich erträumt hatte - sie waren europäisch. Doch die Bevölkerung, die dieses Land vielleicht hätte aufbauen können, war vernichtet worden, und so kam es, dass die Zionisten unwillig, aber ohne andere Alternative, die Juden in der arabischen Welt entdeckten und ins Land brachten.
SPIEGEL: Wir haben jetzt ein paarmal Netanyahu und Ben-Gurion in einem Atemzug genannt. Was verbindet die beiden?
Segev: Netanyahu war sehr erfolgreich, als Offizier und Student am MIT, er war ein sehr populärer Uno-Botschafter und Politiker. Er ist, wie soll ich das sagen, ein sehr gelungener Mensch. Aber all das gefährdet er nun mutmaßlich für Schmuck, Zigarren und Champagner, das finde ich rätselhaft. Aber er ist Ben-Gurion in einigem ähnlich, wie dieser hat er wirklich das Gefühl, eine historische Mission zu erfüllen.
SPIEGEL: Und Ben-Gurion, war der auch ein gelungener Mensch?
Segev: Nein, von seiner Biografie her war er das viel weniger. Er gehörte nie zur gesellschaftlichen Elite. Er kam aus einem sehr einfachen Elternhaus, hatte kein Abitur, kein abgeschlossenes Jurastudium. Einige meinen, dass er sich deshalb mit Tausenden Büchern umgeben hat. Anders als Netanyahu jedoch machte er sich nichts aus Luxus.
SPIEGEL: Misst sich jeder israelische Premierminister irgendwie an Ben-Gurion?
Segev: Auf eine gewisse Weise sicher. Netanyahus großes Ziel ist es, länger zu regieren als Ben-Gurion. Das wäre in einem Jahr der Fall. Das ist ihm sehr wichtig. Er will sagen können, er sei der am längsten regierende Premierminister Israels gewesen. Wir werden sehen, ob er das schafft.
SPIEGEL: Herr Segev, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
»Vielleicht waren die ersten 70 Jahre unseres Staates nur das erste Kapitel. Und das zweite kommt noch.«