FH Dortmund Flüchtlingshelfer kann man jetzt studieren

Helferin für andere: Boran Al Yousef.
Foto: Julia Sellmann/ UniSPIEGELHozan Khalaf ist ein bisschen aufgeregt. "Hast du noch Fragen zu deinem Praktikum?", fragt Beraterin Sibel Turhan. Khalaf blickt nervös in dem Büro umher. Bilder aus Urlaubsparadiesen glänzen an den Bürowänden. Hinter ihm lächelt ein Einhorn von einer Postkarte. Sibel Turhan schaut ihn aufmunternd an. "Kann ich das Praktikum auch verlängern?" Die Studentin nickt. "Ja, natürlich. Aber am besten fängst du erst einmal an und schaust, ob es dir gefällt."
Für Hozan, den 23-jährigen Syrer, kann es gar nicht schnell genug gehen. Er möchte in sein neues Leben starten - sofort! Seit zwei Jahren lebt er in Deutschland, tat sich anfangs schwer mit der Sprache, musste lange auf einen Platz im Deutschkurs warten. Jetzt aber will er endlich arbeiten.
Sibel Turhan vom Multikulturellen Forum in Hamm hat ihm ein Praktikum in einer Autowerkstatt vermittelt. Wenn er sich gut anstellt, hat er sogar die Chance auf einen Ausbildungsplatz als Mechatroniker. Gute Aussichten für Hozan.
Flüchtlingshilfe vom Profi
Dass die junge Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs, die ihn so professionell berät, selbst noch mitten in der Ausbildung steckt, fällt ihm gar nicht auf. Dabei ist Sibel Turhan sogar noch ein Jahr jünger als er. Die Dortmunderin studiert "Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Armut und (Flüchtlings-)Migration" - und wird wohl eine der ersten akademisch ausgebildeten Flüchtlingshelferinnen Deutschlands sein.
Seit dem Wintersemester 2014/15 bietet die FH Dortmund diesen besonderen dualen Bachelorstudiengang an. Neben ihren Vorlesungen und Seminaren arbeitet Sibel 20 Stunden pro Woche beim Multikulturellen Forum in Hamm.
Die 22-Jährige ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, ihre Eltern kommen aus der Türkei. "Ich habe oft Druck gespürt, zwischen meinen beiden Kulturen balancieren zu müssen." Da war einerseits die Familie, die erwartete, dass sie zu jeder türkischen Hochzeit entfernter Verwandter mitkam. Andererseits waren da die Freunde, die am Wochenende Party machen wollten.
Zerrissen zwischen den Kulturen
In ihrer Klasse an einem Dortmunder Gymnasium sei sie die einzige Schülerin mit türkischen Wurzeln gewesen. "Ich hatte Probleme, die niemand anderes hatte." Zerrissen zu sein zwischen den Kulturen, dieses Gefühl kennen auch viele Flüchtlinge. Sibel Turhan glaubt, dass ihr die eigenen Erfahrungen helfen, die Probleme und Sorgen von Zuwanderern nachzuvollziehen.

Balanciert zwischen zwei Kulturen: Sibel Turhan.
Foto: Julia Sellmann/ UniSPIEGELDrei Viertel ihrer Kommilitonen haben einen Migrationshintergrund. Auch wenn viele von ihnen wie Sibel Turhan in Deutschland zur Welt gekommen sind, scheint ihr Bedürfnis groß zu sein, anderen das Ankommen in Deutschland zu erleichtern. Die Schwerpunkte des Studiengangs, der sich aus den Fächern Soziologie, Erziehungswissenschaft, Psychologie und Recht zusammensetzt, klingen so, als wäre dieser einzig zur Bewältigung des Flüchtlingszustroms eingeführt worden. So gehören zum Curriculum "die Willkommenskultur der Mehrheitsgesellschaft", "die Sensibilisierung für eigene Vorurteile" und "Theorien und Lösungswege zu gesellschaftlicher Diskriminierung".
Die Pläne sind schon mehrere Jahre alt
Dabei hatte die Einführung des Studiengangs nichts mit den Ereignissen von 2015 zu tun, die Planungen begannen lange Zeit vorher. "Die Fachhochschule hat den Studiengang in Zusammenarbeit mit der Stadt und freien Trägern als Reaktion auf die angespannte Lage in Dortmund eingeführt", erklärt Studiengangskoordinator Michel Boße. "Viele Menschen aus Südosteuropa, etwa aus Rumänien und Bulgarien, leben hier in prekären Verhältnissen", sagt Boße. "Für die Sozialarbeiter war es häufig schwierig, an sie heranzukommen." Die Studierenden mit dem Schwerpunkt Migration sollten "Brückenbauer" zu bestehenden Hilfsangeboten sein.
Trotzdem habe die Zuwanderung der Flüchtlinge seit Sommer 2015 natürlich Spuren hinterlassen: In den ersten beiden Jahren habe es etwa so viele Bewerbungen wie Plätze gegeben, sagt Boße. Mit dem Flüchtlingsstrom hätten sich die Bewerberzahlen mehr als verdoppelt. "Wir hatten auf einmal 80 Bewerbungen auf 35 Plätze", so der Sozialpädagoge.
Dabei sind die Hürden für die Zulassung hoch: Die Studierenden müssen sich eigenständig einen Träger der Sozialen Arbeit suchen, der ihnen für ihre 20-Stunden-Stelle im ersten Jahr monatlich 900 Euro brutto zahlt. Zudem müssen die Bewerber in einem sozialpädagogischen Arbeitsfeld eingesetzt werden, aber nicht als Fachkraft.
Das Multikulturelle Forum in Hamm, Sibel Turhans Arbeitgeber, beschäftigt derzeit sieben Studenten aus dem Studiengang. Standortleiter Taylan Kutlar ist überzeugt, dass alle Beteiligten von dem dualen Modell profitieren. Sibel Turhan hat schon häufiger Theorien aus der Vorlesung im Arbeitsalltag angewandt. "Gerade das Fach Aufenthaltsrecht hat mir in der Flüchtlingsberatung viel gebracht", sagt sie.
"Wir brauchen unbedingt ein Einwanderungsgesetz"
Aber manchmal hilft keine Theorie der Welt. Dann nämlich, wenn Menschen für ihre Integration gekämpft haben, sehr gut Deutsch sprechen, arbeiten - und trotzdem einen Ablehnungsbescheid bekommen. "Es ist frustrierend, wenn Menschen alles richtig machen und trotzdem nicht bleiben dürfen", sagt Sibel. "Wir brauchen unbedingt ein Einwanderungsgesetz."
An einem Donnerstagmorgen sitzt sie in der Vorlesung "Soziale Informationsverarbeitung" von Psychologieprofessorin Bianca Wühr. Die Dozentin fragt die Studenten nach dem Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die meisten von ihnen glauben, dass Menschen andere generell positiver einschätzen als sich selbst. Wühr ist überrascht, die Flüchtlingshilfe-Studenten seien wohl schon besonders sensibilisiert. "Es ist nämlich genau andersherum: Die meisten Menschen sehen sich selbst als Maß aller Dinge." Dann kommt sie auf Stereotype und Vorurteile zu sprechen.
In derselben Hörsaalreihe wie Sibel sitzt Boran Al Yousef. Sie kennt Vorurteile nicht nur aus der Theorie. "In Deutschland wurde ich schon oft beleidigt, weil ich ein Kopftuch trage", sagt die 25-Jährige. Dabei sei sie Feministin!
Boran kam vor drei Jahren selbst als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland - heute studiert sie im dritten Semester. Zuvor hatte sie in Aleppo Elektroingenieurwesen studiert. "Einmal haben wir eine Klausur geschrieben, und in einem anderen Gebäude der Uni sind Bomben eingeschlagen", erzählt sie. Drei Studenten seien gestorben. "Wir mussten weiterschreiben." Boran bestand die Klausur.
"Militärs haben Demonstranten aus dem fünften Stock geworfen"
Wie irreal muss ihr das vorkommen, in Dortmund im Café zu sitzen, zwischen Studenten, deren größte Sorge die pünktliche Abgabe ihrer Hausarbeit ist. "In Aleppo haben wir demonstriert für unsere Kommilitonen, die unschuldig im Gefängnis saßen", erzählt sie. "Das war sehr gefährlich. Die Militärs haben manche der Demonstranten gepackt und aus dem fünften Stock des Studentenwohnheims geworfen."
Al Yousef kann viele solcher Geschichten erzählen, aber es fällt ihr sichtlich schwer. Als ihre Knie zu zittern beginnen, möchte sie lieber nicht weitersprechen. 2013 flüchtete sie aus Syrien in den Nordirak, doch dort rückte der IS immer weiter vor. Ende 2014 holte ihr Bruder, der schon länger in Moers lebt, sie schließlich nach Deutschland. Sie lernte sehr schnell Deutsch, zahlte den Sprachkurs selbst, solange sie noch keinen offiziellen Platz hatte, arbeitete als Dolmetscherin. "Ich wollte loslegen, nicht warten."

Ausgabe 1/2018
Sprich mich an!
Wie wir lernen, wieder offline zu flirten
Seit sie Flüchtlingshilfe studiert, kommen ihre Erinnerungen wieder öfter hoch - obwohl sie die lieber verdrängen würde. Boran sagt, sie wolle anderen Flüchtlingen helfen, von denen die meisten ein schlechteres Los hätten als sie. "Meine Eltern und Geschwister leben jetzt sicher in Deutschland." Ein Jahr lang hat Boran minderjährige Flüchtlinge in Moers betreut, begleitete sie zu Anhörungen, zum Arzt, zur Ausländerbehörde. Vor allem aber übernahm Boran die Rolle einer "großen Schwester", wie sie sagt. "Sie hatten ja sonst niemanden."
Seit dem Sommer arbeitet sie nun bei der AWO in Dortmund, um sich das andauernde Pendeln zu ersparen. Dort hilft die junge Frau EU-Zuwanderern beim Start in den deutschen Arbeitsmarkt. Später möchte sie bei einer großen internationalen Organisation wie der Uno arbeiten - um sich dafür einzusetzen, dass es keine Kriege mehr gibt.