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Ehemalige Rebellen in Kolumbien Haben sie entführt? Erpresst? Getötet?

Jahre im Dschungel, ein halbes Leben an der Front: Viele ehemalige Farc-Kämpfer in Kolumbien versuchen nach dem Friedensabkommen eine Rückkehr in die Gesellschaft. Ein weiter, steiniger Weg.
Rebellen der Farc im Dschungel der Region Antioquia, Anfang 2016

Rebellen der Farc im Dschungel der Region Antioquia, Anfang 2016

Foto: Rodrigo Abd/ AP

Sie sitzen so nah nebeneinander, als stünde kein jahrzehntelanger Krieg zwischen ihnen: Ricardo und Yordan. 26 und 28 Jahre alt, der eine Student mit Brille, der andere Vertriebsmanager mit gegeltem Haar. Der eine trägt Kapuzenjacke und Sneakers, der andere Jackett und Lederschuhe. Sie unterhalten sich, lachen sich an. Nichts deutet darauf hin, dass sie im kolumbianischen Krieg mit 220.000 Todesopfern und sechs Millionen Vertriebenen gegeneinander gekämpft haben: Ricardo in der linksextremistischen Farc-Guerilla und Yordan in der Autodefensa, den rechten Paramilitärs.

"Wir waren mal Feinde, jetzt sind wir Freunde", sagt Yordan. "Es geht doch darum, was man sieht, wenn man die Waffen weglegt und keine Uniform mehr trägt", ergänzt Ricardo.

Die beiden gehören zu den "desmovilizados", die mithilfe der Agencia Colombiana para la Reintegración (ACR) wieder in die Gesellschaft integriert werden sollen, nach Jahren im Dschungel oder in den Bergen, nach Jahren an der Front. Rund 58.000 Menschen haben den Rebellen inzwischen den Rücken gekehrt.

Und es werden immer mehr, seit Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos mit der Farc-Guerilla ein Friedensabkommen schloss und Ende vergangenen Jahres durch den Kongress brachte. Auch die letzten rund 6000 Farc-Kämpfer befinden sich nun in den sogenannten Transitzonen, wo sie ihre Waffen abgeben müssen, zurück auf dem Weg in die Zivilisation.

Ricardo und Yordan

Ricardo und Yordan

Foto: Rebecca Erken / UNI SPIEGEL

Ricardo und Yordan, die in den Räumen der Agencia in der Hauptstadt Bogotá so nah beieinander sitzen, erzählen, dass sie noch Kinder waren, als sie zu Kämpfern gemacht wurden. Ricardo war 14 und Yordan 15 Jahre alt, ein Alter, in dem Jugendliche in Deutschland sich entscheiden, ob sie eine dritte Fremdsprache wählen sollen oder doch lieber Informatik. Ricardo lebte damals in einem Armenviertel in Bogotá.

Er fragte sich nicht nur, warum er hier hausen muss, in einer verfallenen Baracke, sondern auch, warum die Mehrheit der Kolumbianer in solchen Verhältnissen lebt. Bei älteren Freunden schnappte er Begriffe wie Klassenkampf und Ungleichheit auf. Er begann Texte von Karl Marx zu lesen, fühlte sich verstanden und trat in die Farc ein.

Yordan kommt aus einem Dorf in Nariño im Südwesten des Landes. "Ich habe für mich dort keine Alternative gesehen", sagt er. In vielen entlegenen Regionen Kolumbiens fehlen Straßen und Schulen, eigentlich jegliche Infrastruktur. Der Staat ist dort vollkommen abwesend. Wie viele junge Männer aus seinem Dorf schloss sich Yordan der Autodefensa an. Mit ihnen, so glaubte er, könne er die Missstände bekämpfen.

Ricardo wollte das Land verändern, zunächst mit Worten, mit politischen Aktionen. Er begann ein Studium der "educación comunitaria", eine Art Gesellschaftswissenschaften. Dann reichte das Geld nicht mehr, seine Familie war zu arm, um ihn zu unterstützen. Nach sechs Jahren als politischer Aktivist ging Ricardo in den Dschungel. Er wurde Mitglied der mobilen Eliteeinheit Teófilo Forero Castro, einer Kampftruppe.

Was war seine Rolle in der Gruppe? "Jeder bei der Farc musste eine militärische Grundausbildung machen", sagt Ricardo. "Ansonsten war ich dafür zuständig, die Kleinbauern vor Ort zu mobilisieren und auf dem Land politisch zu agitieren".

Yordan patrouillierte als Mitglied der Autodefensa bewaffnet durch Dörfer, die die Paramilitärs kontrollieren. Er trieb - ähnlich wie Ricardo für die Farc - "Steuern" bei Ladenbesitzern ein, auch bei "Narcotraficantes", den Drogenhändlern, die in der Region Kokain kaufen.

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Doch je mehr Menschen Yordan leiden oder sogar sterben sah, umso mehr stellte er seine Truppe infrage. "Die Opfer hatten Familie, Söhne und Töchter. Ich mochte das Leben mit den Paramilitärs nie, aber es wurde immer schlimmer", erinnert er sich. "Ich bin mit einem Freund, der für mich wie ein Bruder war, zu den Milizen gekommen. Er starb im Kampf mit der Farc in den Bergen." Für Yordan der ausschlaggebende Punkt, nach drei Jahren zu desertieren, in einem kurzen unbeobachteten Moment einfach wegzulaufen.

Haben die beiden Verbrechen begangen? Haben sie entführt? Erpresst? Getötet? Zum ersten Mal bleiben Ricardo und Yordan stumm. "Ich fürchte, wir können diese Fragen nicht beantworten", sagt Ricardo. Sie wollen sich nicht selbst belasten, schließlich könnte auch heute noch ein Gerichtsverfahren gegen sie eröffnet werden. Überhaupt bleibt das, was im Dschungel und in den Bergen geschah, verschwommen. Nachfragen zu ihrer Rolle beantworten sie nur vage. Die Männer wollen vergessen, lieber von der Zukunft träumen als an die Vergangenheit denken.

An die Flucht erinnert sich zumindest Ricardo etwas besser. "Ich habe viele Dinge bei der Farc gesehen, die mir nicht gefallen haben", sagt er. "Ich habe einige Comandantes denunziert, wegen Korruption zum Beispiel." Ricardo hatte erkannt, dass es sein Ideal von der marxistischen Rebelleneinheit, die die Ungleichheit abschaffen und das Land verändern wird, nicht gibt. "Dann bin ich schwer krank geworden. Die nötigen Medikamente hatten wir nicht." Zu seinen Zweifeln kamen nun noch schwere körperliche Schmerzen, er beschloss zu fliehen.

Bewaffnete Farc-Rebellen (Archiv)

Bewaffnete Farc-Rebellen (Archiv)

Foto: LUIS ACOSTA/ AFP

"Für die Feierlichkeiten zum 51. Jahrestag der Farc 2015 sollte ich Plakate auf einer Straße zwischen zwei Dörfern aufhängen", erzählt Ricardo. Der Comandante stellte ihm einen Aufpasser zur Seite, mit einem Motorrad machten sie sich auf den Weg. Ricardo gab vor, noch ein paar Dinge im Dorfzentrum erledigen zu müssen.

"Mein Aufpasser hatte es mir geglaubt, weil alle Rebellen gern in die Stadt fahren, um mal etwas anderes zu sehen als den Dschungel oder um sich mit Frauen zu treffen." Sie vereinbarten, sich in einer Stunde wiederzutreffen. "Das ist meine Chance", dachte Ricardo - und stieg mit Herzrasen in einen Bus, der ihn in ein neues Leben fahren sollte.

Fast zwei Jahre ist das jetzt her. Ricardo war damals, als er Bogotá erreicht hatte, in Ohnmacht gefallen, so stark waren seine Schmerzen. Als er aufwachte, lag er - bereits operiert - im Krankenhaus. Die Behörden wussten da schon Bescheid, sie hatten ihn als Farc-Kämpfer identifiziert. "Sie haben mir gesagt, wenn ich mit ihnen zusammenarbeite, dann helfen sie mir auszusteigen." Ricardo entschied sich für das Demobilisierungsprogramm des ACR, ein Sozialarbeiter kümmerte sich von da an um ihn.

Die meisten Teilnehmer des Programms erhalten psychologische und ärztliche Hilfe, Rechtsberatung, Unterstützung beim Nachholen von Schulabschlüssen, bei der Aufnahme eines Studiums und eine Art Berufsvorbereitung. Einige bekommen auch Mikrokredite, um ein eigenes Unternehmen zu gründen. Wer wieder kriminell wird, verliert dagegen jegliche Hilfe.

Laut ACR widmen sich nur etwa zwei von zehn Programmteilnehmern nach ihrer Reintegration wieder illegalen Machenschaften. Bei Gefängnisinsassen sei es genau andersherum: Acht von zehn würden während oder nach der Haft wieder Verbrechen begehen.

Ricardo begann ein Studium der Sozialwissenschaften in Bogotá. Oft hat er Angst, wenn er durch die Straßen seiner Heimatstadt läuft. Angst, dass die ehemaligen Farc-Kompagnons ihn, den "Verräter", entdecken und sich rächen. "Manche würden mich töten, wenn sie mich finden", sagt er. Seine Familie hat ihn mit offenen Armen aufgenommen, von der Gesellschaft kann er das nicht immer behaupten.

Yordan sieht das ähnlich: "Der Großteil stigmatisiert uns, lehnt uns ab." Deshalb verschweigen beide ihre Vergangenheit meistens. "Einen Arbeitskollegen haben sie rausgeschmissen, weil sie erfahren haben, dass er ein desmovilizado ist", erzählt Yordan.

Bis zu sechs Jahre hat die Agencia für das Demobilisierungsprogramm angesetzt. Aber wann ist man wirklich angekommen in einer Gesellschaft, die einen mehrheitlich nicht aufnehmen möchte? Yordan und Ricardo sind unterwegs auf dem langen, oft steinigen Weg, den viele Exguerilleros noch vor sich haben. Einige von ihnen sitzen im Gefängnis in Medellín ein, der Stadt im Nordwesten Kolumbiens, die einmal als die gefährlichste der Welt galt.

Das Gefängnis, das auf einer Anhöhe liegt, nennen sie hier "Bella Vista" - "Schöne Aussicht". Wer mit den inhaftierten Farc-Rebellen sprechen will, muss Stacheldrahtzaun, dicke Gefängnismauern und etliche Sicherheitsschleusen passieren.

Farc-Rebellen 1996

Farc-Rebellen 1996

Foto: RICARDO MAZALAN/ ASSOCIATED PRESS

Wie Schuljungen sitzen die 27 Farc-Guerilleros der Einheit Roman Ruiz in dem kahlen Raum an Bänken mit ausklappbaren Schreibpulten und lauschen Sozialarbeiterin Nancy. Die meisten tragen Sportkleidung, bei dem ein oder anderen blitzt eine Che-Guevara-Tätowierung unter dem T-Shirt hervor. Unter ihnen sind auch die Sandkastenfreunde Martín und Oscar, die aus demselben Ort in der Region Antioquia stammen, später im selben Bataillon kämpften - und heute im selben Gefängnis sitzen.

Sie dürfen für ein paar Minuten in einem abgetrennten Raum ein Interview geben. Oscar, in Nike-Turnschuhen und Adidas-Hose, und Martín, in Converse-Schuhen und einem T-Shirt, das an zwei gefallene Farc-Comandantes erinnert, beginnen zu erzählen.

"Zu Hause waren wir zehn", sagt Oscar, der ein wenig stottert. "Wir hatten kein Geld, ich habe keine Perspektive gesehen, mit zwölf Jahren bin ich der Farc beigetreten", berichtet der heute 32-Jährige. Bei Martín war es ähnlich, er schließt sich mit 15 Jahren den Rebellen an. Zugang zu Bildung und Arbeit bleibe den meisten Menschen auf dem Land verwehrt.

"Studieren können in Kolumbien nur die Reichen", sagt Martín. "Es gibt hier sogar noch Menschen, die an Hunger sterben", sagt er über das Land, das doch so reich an Rohstoffen ist.

Heute im Gefängnis hätten sie mehr Angst als damals im Dschungel, sagen beide. Schließlich sei die Wahrscheinlichkeit, auf den Gängen auf ihre ehemaligen Feinde, die rechtsgerichteten Paramilitärs, zu treffen, größer. Sie sind nach wie vor überzeugt von den Ideen der Farc, nur glauben sie nicht mehr daran, dass man den Kampf gegen Ungleichheit mit Waffen führen sollte. "Ich möchte, dass der Krieg aufhört", sagt Martín, dass der Frieden sich nicht nur auf dem Papier, sondern auch auf den Straßen, im Dschungel, und, ja, auch im Gefängnis, durchsetzt.

Was würden sie tun, wenn sie freikommen? Zur Schule gehen, studieren. Ein Stück Kindheit und Jugend zurückbekommen. Die beiden sind kriegsmüde, die meiste Zeit ihres jungen Lebens haben sie im Kampf verbracht, und es könnte sein, dass Martín die restliche Zeit seines Lebens im Gefängnis ausharren muss. "In erster Instanz wurde ich freigesprochen, aber es gab eine Revision", erklärt der 28-Jährige. "Entscheidet das Gericht gegen mich, könnte ich 50 Jahre bekommen."

Er sagt das so nebenbei, als bedeute das nicht, dass er vielleicht für immer diese kahlen, leicht gelblichen Wände anstarren muss. Dass er möglicherweise nie aus der Haftanstalt auf der Anhöhe heraustreten wird, und in den Genuss der "schönen Aussicht" kommt, die man von drinnen nicht sieht.

Unterstützer der Friedensgespräche (Archiv)

Unterstützer der Friedensgespräche (Archiv)

Foto: © John Vizcaino / Reuters/ REUTERS

Sein Freund Oscar ist schon seit 31 Monaten im Gefängnis, er wurde zu neun Jahren Haft verurteilt, "wegen Rebellion", sagt er. Hätten die Kolumbianer sich nicht beim Volksentscheid im vergangenen Oktober gegen die erste Version des Friedensvertrags entschieden, wäre er schon längst frei. Denn das Abkommen sieht unter anderem vor, dass Farc-Kämpfer mit kleineren Delikten schneller entlassen werden.

"Das war ein großer Schock", sagt Oscar. "Ich dachte, ich hätte das Gefängnis gleich nach dem Tag der Abstimmung als freier Mann verlassen können." Aber eine knappe Mehrheit der Kolumbianer machte Oscar zunächst einen Strich durch die Rechnung. Jetzt, da das zweite - angepasste - Abkommen vom Kongress verabschiedet worden ist, hofft er, bald freizukommen. Zum Abschied recken die beiden Exkrieger synchron ihre Fäuste in die Höhe. Nur kampfesmutig sieht es nicht mehr aus. Eher etwas halbherzig.

Ein paar Wochen nach dem Treffen meldet sich eine Sozialarbeiterin aus dem Gefängnis. "Oscar und Martín dürfen gehen", schreibt sie. Zum ersten Mal seit Langem werden die beiden frei sein. Ob sie jemals ihren Frieden finden, bleibt jedoch ungewiss.

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