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Marburg: Stadt der Blinden

Foto: Markus Hintzen/UNI SPIEGEL

Blinde Studentin "In Marburg kann ich fast ein normales Leben führen"

Mara, 21, ist blind - und studiert Jura in Marburg. Die Uni ist bei Sehbehinderten besonders beliebt, weil sie viele simple Hilfen anbietet.

Mara Witzenrath betritt Vorlesungssaal 101 der juristischen Fakultät, öffnet ihre Tasche, zieht eine bunte Fleecedecke heraus und breitet sie auf dem Boden aus. Die weiche Unterlage ist für ihren Begleiter: Camelot. Mit einem wohligen Seufzer lässt sich der Labrador darauf nieder. Mara hat es weniger bequem, sie hockt sich auf einen Klappsitz, greift abermals in ihre Tasche und zieht einen Laptop heraus.

Ein Hund in einer Juravorlesung? In Marburg, wo Mara studiert, findet das niemand merkwürdig. Maras Sehvermögen beträgt weniger als ein Prozent. Damit gilt die 21-Jährige offiziell als blind. Im Alltag ist sie auf Camelots Hilfe angewiesen. Er leitet sie durch die Straßen und Gassen der Universitätsstadt, führt sie zu Aufzügen und warnt sie vor Treppen.

Junge Leute mit Stock oder Blindenhund gehören in Marburg seit je zum Stadtbild. An keinem anderen Ort in Deutschland gibt es im Verhältnis zur Einwohnerzahl so viele Sehbehinderte - jeder dritte blinde Student lebt und studiert in Marburg. An der Philipps-Universität sind es laut Schätzungen derzeit rund 150. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn Erkrankungen werden mit den Stammdaten nicht erfasst.

Sprechende Aufzüge und Kaffeemaschinen mit tastbaren Punkten

Durch diese hohe Anzahl sind die Hochschule und ihre Mitarbeiter sensibilisiert für die Belange Sehbehinderter, zahlreiche Hilfsmittel erleichtern den Alltag: In der Mensa unterstützen eigens für diesen Zweck angestellte Mitarbeiter beim Zusammenstellen des Essens, sprechende Aufzüge und plastische Stadtpläne helfen bei der Orientierung. In der Cafeteria gibt es Kaffeemaschinen mit tastbaren Punkten, und in Bibliotheken und Instituten findet man PC-Arbeitsplätze mit Sprachausgabe, Großschrift und tastbaren Displays für die Blindenschrift Braille.

Das macht es möglich, dass sehbehinderte Studenten von Psychologie über Pädagogik bis hin zu Jura fast alle Fächer belegen können. "In Marburg kann ich als Blinde ein fast normales Leben führen", sagt Mara.

Mara und Camelot sind in Marburg keine Ausnahme: An der Philipps-Universität studieren rund 150 Menschen mit Sehbehinderung

Mara und Camelot sind in Marburg keine Ausnahme: An der Philipps-Universität studieren rund 150 Menschen mit Sehbehinderung

Foto: Markus Hintzen/UNI SPIEGEL

Sie weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Sie hat es in ihrer Jugend anders erlebt. Als Mara wenige Monate alt war, bemerkte ihr Vater beim Wickeln, dass etwas mit ihren Augen nicht stimmt. Die Linse schien nicht klar, wirkte ausgefranst. Die Diagnose: Glaukom, grüner Star. Ein hoher Augeninnendruck sorgt dafür, dass der Augapfel zu fest wird und langsam den Sehnerv zerdrückt.

Bis zu ihrem 15. Geburtstag merkt Mara kaum etwas von der Erkrankung, sie trägt eine Brille, wie viele andere auch, aber ansonsten gibt es kaum Einschränkungen. Dann geht plötzlich alles ganz schnell. "Ich habe im April meinen Mofaführerschein gemacht, und im November war ich blind", erzählt sie.

Nicht alle Mitschüler zeigten Verständnis

Mara besucht zu dieser Zeit die Realschule in ihrem Heimatort in Rheinland-Pfalz, doch schnell merkt sie: Hier bin ich nicht richtig.

Nicht alle Mitschüler zeigen Verständnis für ihre neue Situation. Neid entsteht, wenn Mara bei Klassenarbeiten mehr Zeit zur Bearbeitung der Aufgaben bekommt, manche werfen ihr sogar vor, sie würde schauspielern. "Keine schöne Situation", sagt Mara rückblickend. Zu schaffen macht ihr auch die plötzliche Abhängigkeit von den Eltern. "Mein Vater musste mir während der Vorbereitungszeit für die Prüfungen ständig alles vorlesen, meine Mutter mir beim Schminken helfen", sagt sie. "Damit konnte ich nicht gut umgehen."

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Ihr Augenarzt in der Mainzer Uniklinik gibt schließlich den entscheidenden Hinweis. Er erzählt Mara von einer vorbildlichen Einrichtung für Sehbehinderte: der Carl-Strehl-Schule in Marburg. Sie wurde vor rund hundert Jahren als weltweit erstes Gymnasium für Blinde gegründet, um jungen Männern, die im Ersten Weltkrieg ihr Augenlicht verloren hatten, eine Chance auf Bildung zu geben.

Mara entscheidet sich für einen Umzug nach Hessen. Zunächst lernt sie in einem zwölfmonatigen Kurs, der sogenannten blindentechnischen Grundausbildung, sich als Blinde in der Welt der Sehenden zurechtzufinden. Sie übt, mit dem Stock in der Stadt unterwegs zu sein, am PC mit speziellen Programmen zu arbeiten und die Brailleschrift zu lesen. In diesem Kurs trifft sie auch ihren Freund, mit dem sie heute zusammenlebt.

Camelot leitet Mara durch die Straßen und Gassen der Universitätsstadt, führt sie zu Aufzügen und warnt sie vor Treppen

Camelot leitet Mara durch die Straßen und Gassen der Universitätsstadt, führt sie zu Aufzügen und warnt sie vor Treppen

Foto: Markus Hintzen/UNI SPIEGEL

Nach dem Abitur steht für Mara fest: Hier, in Marburg, möchte sie bleiben. Erneut wegzuziehen, sich an eine andere Stadt zu gewöhnen und sich dort zurechtzufinden, das kam nicht infrage. "Ich fühle mich sehr wohl, weil ich als Sehbehinderte kaum Berührungsängste erlebe", sagt sie. "Ob die Kassiererin in der Bäckerei, die Dozenten an der Uni, meine Kommilitonen, fast alle Menschen, die ich treffe, behandeln mich ganz normal."

Sie schreibt sich für Jura ein, "ein typisches Blindenfach", wie sie sagt. Die Lehrenden in Marburg hätten bereits jahrelang Erfahrung gesammelt, wie sie den betroffenen Studenten das Lernen leichter machen könnten.

In Hörsaal 101 tippt Mara in ihren Laptop, was die Dozentin erzählt. Zu Hause wird ihr eine Software vorlesen, was sie geschrieben hat. "Die technischen Möglichkeiten, die es heute gibt, sind enorm. Sie erleichtern das Leben entscheidend."

Auch bei Klausuren darf sie ihren Laptop benutzen - unter strenger Aufsicht natürlich. Sie schreibt die Prüfungen in einem separaten Raum. "Vor dem Staatsexamen wird ganz besonders stark kontrolliert", erzählt Mara, "dann muss ich vorher den Rechner abgeben, damit sichergestellt werden kann, dass keine Dateien darauf versteckt sind."

Bundesteilhabegesetz: Was bringt die Reform?

Im Dezember 2016 verabschiedete die Bundesregierung eine Reform des Bundesteilhabegesetzes. Diese soll für die rund siebeneinhalb Millionen Deutschen mit Behinderung eine Verbesserung ihrer Lebenssituation schaffen, auch für die rund 137.000 Studierenden mit Beeinträchtigungen.Bisher werden Assistenzleistungen für behinderte Studenten nur bis zum ersten berufsqualifizierenden Examen finanziert, nun sollen Master-Studiengänge und in Einzelfällen auch Zweitstudiengänge und Promotionen unterstützt werden. Außerdem dürfen Studierende mit Behinderung mehr Ersparnisse als bisher für sich behalten.Bis zuletzt war das Gesetz hoch umstritten. Aktivisten ging die Reform nicht weit genug, manche sprachen gar von "Exklusion statt Inklusion". Kurz vor knapp hatte sich die Koalition den Protesten gebeugt und den Entwurf in 68 Punkten geändert.Trotzdem: Rundum zufrieden sind die Betroffenen nicht. Praktika werden zum Beispiel nur finanziell gefördert, wenn diese für Studium oder Beruf erforderlich sind, ein Auslandsstudienaufenthalt nur, wenn er verpflichtender Bestandteil der Ausbildung ist.Das deutsche Studentenwerk zieht dementsprechend eine zwiespältige Bilanz: "Trotz einiger Verbesserungen sind die Regelungen noch lange nicht ausreichend an moderne Bildungsverläufe angepasst", sagt Sprecher Stefan Grob. "Unser Ziel bleibt: die Sicherung von gleichberechtigter und diskriminierungsfreier Teilhabe. Deshalb heißt es für uns: Nach der Reform ist vor der Reform."

Sonstige Erleichterungen, etwa mehr Bearbeitungszeit wie einst in der Schule, hat Mara nicht mehr nötig. Ihre Noten beweisen, wie gut sie, die Blinde, an einer Hochschule für Sehende zurechtkommt. Bisher erhielt Mara oft zweistellige Punktzahlen, was unter Juristen selten und eine große Auszeichnung ist. Wenn sie Glück hat, wird die 21-Jährige deshalb bald in die Studienstiftung des deutschen Volks aufgenommen.

Um viertel vor zwei packt Mara ihren Laptop in die Tasche und spannt Camelot sein Geschirr um. Zusammen mit ihrer besten Freundin Kathrin, die sie gleich am ersten Tag bei einer Einführungsveranstaltung kennenlernte, schlendert sie zur nächsten Vorlesung. "Dass ich Kathrin getroffen habe, ist ein großes Glück", sagt Mara über die Freundin. "Sie liest mir viel vor, scannt für mich Texte aus den Lehrbüchern. Außerdem ist Camelot ganz verliebt in sie."

Tastatur für Brailleschrift: Zahlreiche Hilfsmittel erleichtern den Alltag

Tastatur für Brailleschrift: Zahlreiche Hilfsmittel erleichtern den Alltag

Foto: Markus Hintzen/UNI SPIEGEL

Wer keine Kathrin an seiner Seite hat, kann in Marburg auf sogenannte Vorlesekräfte zurückgreifen. Kai Kortus, 23, hat in Marburg Geschichte, Mathematik und Latein auf Lehramt studiert und gerade begonnen, seine Dissertation zu schreiben. Wie Mara hat Kai, ebenfalls blind, sein Abitur an der Carl-Strehl-Schule gemacht. Für seine Promotion zum Thema Kapitulationsgeschichte sitzt er zurzeit täglich in der Bibliothek und wälzt die umfangreiche Literatur.

Besucher aus dem Ausland: Wie machen die in Marburg das?

Kai schätzt die Lesehelfer sehr. "Sie unterstützen mich, wenn es Bücher und Aufsätze nicht in digitaler Version gibt", sagt er. "Als ich mein Graecum gemacht habe, hat es zwar ein Jahr gedauert, um die notwendigen Unterlagen und Materialien zu besorgen, aber keiner hat gesagt, dass es ein zu großer Aufwand sei und ich doch besser mein Studienfach wechseln solle."

Im Aata engagiert sich Kai für die Belange behinderter und chronisch kranker Studierender. "Die Universität ist Vorreiter, was das Studium von blinden und sehbehinderten Studenten angeht", sagt er. "Wir bekommen sogar regelmäßig Besuch von ausländischen Fachgruppen, die sich anschauen wollen, wie wir das Thema handhaben."

Ob sie, wie Kai, einmal promovieren möchte, weiß Mara noch nicht. Dennoch beschäftigt sie die Frage, wie es nach dem Studium weitergehen soll, wenn sie den geschützten Raum der Hochschule verlassen muss. "Ich kenne einen blinden Richter, der mich sehr beeindruckt", sagt Mara. Es ihm eines Tages gleichzutun, sei eine verlockende Vorstellung, nicht nur wegen der Tätigkeit an sich. Mara könnte dafür sogar in Marburg bleiben.

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