
Studenten retten Verwundete: Blut in den Straßen von Caracas
Studenten retten Verwundete Blut in den Straßen von Caracas
Wer verletzt ist, dem muss man helfen. Egal, auf welcher Seite er steht. Das ist Ricardo Linares wichtig. Auch wenn es sicher nicht leicht ist, die zu versorgen, die Gewalt ausüben, die andere Menschen verwunden, ohne Skrupel - und schlussendlich ein Land ins Chaos stürzen. Ricardo und seine Mitstreiter haben in den vergangenen Monaten wohl viele Male ihre Wut und ihren Frust überwinden müssen.
In Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, gingen seit April Hunderttausende Menschen auf die Straße. Ihr Protest gilt Präsident Nicolás Maduro. Der Vorwurf: Maduro stürze das Land ins Verderben. Venezuela steht vor dem wirtschaftlichen Kollaps, Lebensmittel, Benzin und Medikamente fehlen, und die Inflationsrate ist die weltweit höchste und dürfte dieses Jahr über tausend Prozent erreichen. Die Opposition rief deshalb zu Protesten auf.
Immer wieder gerieten die Demonstranten - darunter zahlreiche Studenten - mit der Polizei und Sicherheitskräften aneinander. Die standen, natürlich, auf der Seite des Präsidenten. Mehr als 120 Menschen sind bisher bei den Protesten ums Leben gekommen.
Auch Ricardo, der Maschinenbau studiert, ging zum Demonstrieren auf die Straße. Als er die Verletzten sah, wollte er etwas tun. Verbandszeug hatte er zu Hause, wie man Wunden notdürftig versorgt, hatte er sich selbst beigebracht. Bei früheren Protesten 2014 zog er sich eine schwere Verbrennung zu. Er pflegte und verband die Wunde selbstständig - drei Monate lang.
Er verabredete sich mit Victor, einem Mitstudenten. "Wir wollten mit unserem Verbandszeug losziehen und den Verletzten helfen", erzählt Ricardo. Vor Ort trafen sie weitere Studierende, die helfen wollten. Victor und Ricardo verteilten ihr Material unter den Freiwilligen und riefen ihnen zu, was sie damit machen sollten. "Danach haben wir uns zusammengesetzt, ein Konzept geschrieben und so PAUCAB gegründet."
Der Name steht für "Primeros Auxilios Universidad Catolica Andres Bello" - Ersthelfer der Katholischen Universität Andres Bello. Sie behandeln alle, die Hilfe benötigen: Demonstranten - und ihre Gegner.

Ausgabe 5/2017
Die Sinnfrage
Was ist ein Hochschulabschluss noch wert?
Mehr als 120 Studierende haben sich der Gruppe inzwischen angeschlossen. Medizin studiert niemand von ihnen, die wenigsten hatten vorher einmal Erste Hilfe geleistet. Ricardo und Victor organisierten Schulungen mit Feuerwehrleuten und Medizinern, die Uni stellte ihnen Räume und Material zur Verfügung. "Nach wenigen Wochen hatten wir ein Team zusammen: Ersthelfer und Leute im Hintergrund, die die Einsätze organisierten."
Der Uni-Betrieb ging unterdessen weiter. Die Professoren hielten trotz allem ihre Vorlesungen. "Manche Dozenten haben uns aber erlaubt, ihre Veranstaltungen zu schwänzen, damit wir an den Protesten teilnehmen konnten", sagt Ricardo. In den letzten Wochen ist es ruhiger geworden auf den Straßen von Caracas und anderswo in Venezuela. Die Regierung und die Opposition haben Verhandlungen aufgenommen.
"Wir wissen, dass wir keine Superhelden sind"
Das Sanitätsteam trifft sich trotzdem regelmäßig, auch die Schulungen gibt es noch. Sollte die Lage wieder eskalieren, wollen sie vorbereitet sein. "Trotzdem sind wir froh", sagt Ricardo, "dass wir uns nun wieder mehr aufs Lernen konzentrieren können."
Hier erzählen vier Studenten, warum sie bei den Sanitätern mitmachen:
Oriana Ollvares, 20, studiert Kommunikationswissenschaften

Als die Proteste anfingen, ging ich fast jeden Tag auf die Straße - so wollte ich zeigen, wie unzufrieden ich mit der Lage in meinem Land bin. Bei den Demos hatte ich das Gefühl, dass sich etwas bewegte und dass wir diese Krise überwinden können. Ab und an fielen Vorlesungen aus, weil die Lehrkräfte nicht erschienen, an der Uni habe ich also nicht viel verpasst. Gleich auf meiner ersten Demonstration traf ich Ricardo, den Leiter von PAUCAB. Er und zwei, drei weitere Personen versorgten Verletzte. Sie brauchten offensichtlich weitere Hilfe, also packte ich mit an. Ricardo sagte uns, was zu tun war. Wir haben vor allem verletzte und verängstigte Personen aus der Schusslinie gebracht, damit die anderen sie besser versorgen konnten. Das war mein Einstieg in die Gruppe.
Meine Aufgabe: die Erstversorgung von Verletzten. Wichtig ist, die Personen zu beruhigen und herauszufinden, ob und, wenn ja, wie sie verletzt sind. Viele standen unter Schock oder fühlten wegen des Adrenalins gar nicht, dass sie etwas abbekommen hatten. Die Schrotkugeln der Polizei haben regelmäßig zu offenen Fleischwunden geführt. Die haben wir gereinigt, mit Wundsalbe versorgt und verbunden. Wenn noch Projektile in der Wunde steckten, haben wir die Verletzten ins Krankenhaus gebracht - da können wir Ersthelfer nichts tun.
Alle meine Einsätze waren immer auch von Angst begleitet. Denn wir wissen, dass wir keine Superhelden sind und uns jederzeit etwas passieren kann. Eine Freundin wurde von einer Tränengasgranate an der Hand getroffen. Die Dinger sind aus Metall und ziemlich hart. Ihr Finger musste genäht werden. Nach solchen Tagen fällt es mir schwer, umzuschalten und die Erlebnisse hinter mir zu lassen. Trotzdem fühle ich mich gut mit dem, was ich hier mache. Ich leiste einen Beitrag, das ist mir wichtig. Und es fühlt sich definitiv besser an, als Steine zu schmeißen.
Sofia González, 19, studiert Kommunikationswissenschaften

Meine Mutter und ich sahen bei einem der Proteste Demonstranten, die sehr viel Tränengas abbekommen hatten. Sie bekamen keine Luft, es gab weit und breit keine Sanitäter. Also haben wir versucht zu helfen: Wir haben ihnen die Augen mit Wasser ausgespült und ihnen zu trinken gegeben. Da habe ich gemerkt, wie wichtig Ersthelfer sind. Deshalb habe ich mich der Sanitätergruppe angeschlossen. Anfangs bin ich nicht mit raus auf die Straße, aus Angst. Ich hatte die Bilder im Kopf von den Sicherheitskräften, die gegen Demonstranten vorgingen - gegen Leute, die sie eigentlich beschützen sollten. Die Polizei lief mit ihren militärischen Uniformen auf, wie im Krieg. Es ist nicht leicht, Tag für Tag mittendrin zu sein in diesem Konflikt und mitzuerleben, wie sehr sich die Stimmung in der Bevölkerung verschlechtert hat, bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Das macht mich traurig.
Bei PAUCAB habe ich gelernt, dass Angst auch etwas Gutes haben kann. Sie macht mich vorsichtig und erinnert mich daran, nicht unbedacht zu handeln. Nach einem Monat habe ich mich dann doch getraut. Mit der Gruppe unterwegs zu sein, hat mir Sicherheit gegeben. Wir gingen immer mit 20 bis 40 Personen los. Die Gruppe teilte sich dann in zwei oder drei Teams auf, jedes Team besteht aus zwei Einheiten. Eine Einheit ging in die rote Zone, das Zentrum des Protests, wo es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften kommen konnte. Die andere Einheit kümmerte sich in der orangefarbenen Zone - hier war es ein wenig ruhiger - um die Verletzten, die aus der roten Zone herausgebracht wurden. Ich war meistens in der roten Zone. Bei unseren Schulungen habe ich unter anderem gelernt, wie man eine Schusswunde versorgt oder eine Blutung stillt. Diese Dinge wusste ich vorher nicht - ich habe dort auch fürs Leben gelernt.
Dariana Gutiérrez, 20, studiert Management

Ich bin für die Logistik zuständig. Ich stelle sicher, dass alle Teams eine vollständige Ausrüstung haben, wenn sie rausgehen. Neben dem Erste-Hilfe-Set gehören ein Helm, eine Gasmaske und eine Schutzbrille, Knieschützer, Umhängetaschen und manchmal auch schusssichere Westen dazu. Da kommt einiges an Gewicht zusammen, das wir mit uns herumtragen müssen. Die Gasmasken sind zudem ziemlich unbequem. Aber ohne sie wäre es zu gefährlich.
Immer wieder habe ich auch bei den Einsätzen auf der Straße geholfen, oft in der roten Zone. Ich gehörte dann zu den "motovoluntarios", übersetzt heißt das "Freiwillige Helfer auf Motorrädern". Wir haben Schwerverletzte aus dem Schussfeld geholt und ins Krankenhaus gebracht. Mein Vater hatte Angst um mich, weil wir ja praktisch mitten in der Schusslinie unterwegs waren. Es hat ja bei den Protesten auch Tote gegeben. Aber ich habe gelernt, die Angst für mich zu nutzen. Sie half mir, mich zu konzentrieren. Wenn wir viel zu tun hatten, hat mich das einerseits motiviert, weil ich das Gefühl hatte, etwas Sinnvolles zu tun und Leuten zu helfen. Gleichzeitig wusste ich, dass diese Dinge eigentlich gar nicht passieren dürften.
Die Proteste haben mein Leben und das meiner Freunde verändert. Es ist unsicherer geworden, das Geld ist knapp. Zum Ausgehen etwa reicht es oft nicht. Mein Studium möchte ich trotzdem zu Ende bringen. Das Tolle ist: Was ich bei PAUCAB über Logistik gelernt habe, kann ich sicher später gebrauchen.
Israel Contreras, 23, studiert Management

Ich habe die Sanitätergruppe über Twitter gefunden - und wollte unbedingt mithelfen. Als Sicherheitsbeauftragter habe ich dafür gesorgt, dass alle, mit denen wir rausgehen, abends wieder unbeschadet zurückkamen. Mit einem Motorradteam fahre ich die Protestzone ab, um zu checken, wo es für das Team problematisch werden könnte oder wo sich Hindernisse befinden. Ich war aber auch als Ersthelfer unterwegs. Alles, was ich dafür wissen muss, habe ich in den Schulungen gelernt: wie man verschiedene Verletzungen behandelt oder Verwundete auf einem Motorrad transportiert.
Nach unseren Einsätzen kam ich mit sehr gemischten Gefühlen nach Hause. Da war zum einen die Freude darüber, dass alle Teammitglieder den Tag überstanden hatten. Gleichzeitig war ich sehr müde und frustriert von dem, was sich Tag für Tag auf den Straßen abspielte. Ich war in ständiger Anspannung, weil wir ja nie wussten, was der nächste Tag bringen würde.
Angst hatte ich bei den Einsätzen trotzdem nie, weil die Gruppe mir viel Sicherheit gegeben hat. Extremsituationen, wie wir sie erleben, schweißen zusammen. Ich habe nicht nur viel über medizinische Grundlagen, über Organisation und Koordination gelernt, sondern auch, was es heißt, aufeinander aufzupassen. Auch wenn wir nicht verwandt sind, sind wir wie eine Familie.
Jetzt, wo die Proteste nachgelassen haben, bestimmt das Team noch immer meinen Alltag. Wenn es ein Treffen gibt, versuche ich zu kommen. Zum Glück habe ich immer wieder Freistunden zwischen den Vorlesungen.