Technik-Hype Virtual Reality - ist es jetzt endlich so weit?

Szene aus "Ready Player One": Danach verwandelt sich das Unwohlsein in Staunen, wie detailknisternd die Welt aus Atomen und Alltag doch ist
Foto: COURTESY OF WARNER BROS. PICTURESDie Realität ist ein mieses Drecksloch, aber Parzival lässt sich nicht unterkriegen. Der Waisenjunge lebt in einem Slum aus übereinandergestapelten Wohnwagen. Als einziger Ausweg bleibt ihm die "Oasis": eine digitale Parallelwelt.
Doch auch dieser virtuelle Kosmos ist bedroht; ein totalitärer Datenkonzern will mit seiner verkabelten Söldnerarmee die Kontrolle übernehmen. Parzival kämpft im Netz gegen King Kong, Dinos und Manager. Er mausert sich zum Revoluzzer und erobert schließlich Macht, Geld und das Mädchen seines Lebens.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann wird der Regisseur Steven Spielberg seinem Science-Fiction-Film "Ready Player One", der nun in den Kinos läuft, eine Fortsetzung hinterherschicken.
Fans und Investoren fiebern dem Film entgegen. Denn sie hoffen auf den Einzug der Virtual Reality (VR) in Wohnzimmer, Büros und Schulen.
Konzerne wie Google und Microsoft, Intel und Samsung, Sony und HTC wetteifern um die Hoheit in den neuen Digitalwelten, um die besten Chips, Brillen und Tüftler. Vor vier Jahren preschte Facebook vor, als es für zwei Milliarden Dollar den VR-Brillenhersteller Oculus aufkaufte, eine Klitsche damals, erst 2012 gegründet. Schon 2020 könnten VR-Unternehmen 40 Milliarden Dollar Umsatz machen, schätzen Marktforscher. Doch was ist Hype - und wie steht es wirklich um die Virtual Reality? Zeit für einen Ortstermin im Cyberspace, in einer Art real existierenden "Oasis".
"Wir können Parks gestalten, die schöner sind als das Original", schwärmt Philip Rosedale, während er seine Spielfigur durch eine Traumlandschaft spazieren führt: Birken, Holzbrücken, Täler - ein Idyll in seiner Simulation einer schönen, neuen Welt, die er "High Fidelity" genannt hat. Ein Klick, schon tanzt Rosedale in einem Klub. Noch ein Klick, er schlendert durch ein Kaufhaus, in dem er sich ein neues Aussehen zulegt: eine Dame im Abendkleid.
Im echten Leben ist Rosedale ein charismatischer Endvierziger mit verwuschelter Künstlertolle. Aber davon sieht man gerade nichts, denn sein Kopf steckt unter einer Datenbrille, einem Head-Mounted Display (HMD). Er steht in seinem lichten Büro im Zentrum von San Francisco und gestikuliert ins Leere.
Rosedale ist einer der Helden der virtuellen Realität. Sein Vater war Pilot, die Familie zog ständig um, der scheue Junge träumte von eigenen Welten. Er lernte programmieren, entwickelte Software, mit Ende 20 war er Millionär.
Inspiriert vom Film "The Matrix", gründete er "Second Life", die bislang erfolgreichste Simulation, in der Nutzer Klubs und Shoppingmalls und das Berlin der Zwanzigerjahre nachgebaut haben.
Der Hype um die virtuelle Realität bewegt sich in Wellen: Euphorie und Frust wechseln sich etwa alle zehn Jahre ab. Nach einem großen Medienwirbel um 2007 ist es heute still geworden um "Second Life". Dabei sind rund eine Million Nutzer ihrem Zweiten Leben treu geblieben. Das dortige Bruttoinlandsprodukt beträgt rund 500 Millionen Dollar, mehr als in manch realem Kleinstaat.
Für Rosedale ist das nur ein Vorgeschmack auf die VR-Welt der Zukunft: "Die Nutzerzahlen werden bald von einer Million Menschen auf eine Milliarde explodieren", sagt er. "Virtual Reality ist heute dort, wo das Web Anfang der Neunzigerjahre war."
Statt sich mit der Maus durch Websites oder mit dem Handy durch Apps zu klicken, werden Nutzer schon bald mit Datenbrillen durch virtuelle Büros, Shops oder Landschaften streifen, glaubt Rosedale: "Ich könnte mich online in ein Physiklabor begeben, um dort mit den besten Professoren aus aller Welt Experimente durchzuspielen", sagt er. "Da kann eine reale Schule nicht mithalten."
Rosedales härteste Konkurrenz ist die Mutterfirma von Second Life, die er vor knapp acht Jahren verlassen hat. Die Kollegen, mehr als 70 Mitarbeiter sind es, sitzen zwei Meilen entfernt und basteln eine neue Spielwelt namens "Sansar". Dort gleiten Avatare durch hyperrealistische Stadtszenen, so düster wie im Film "Blade Runner", oder sie beamen sich zur "Apollo"-Landefähre auf dem Mond, wo am Horizont gerade die ferne Erde aufgeht.
"Sansar" setzt auf Perfektionismus und zentrale Kontrolle. Rosedale dagegen wettet mit "High Fidelity" auf offene Standards. Jeder Nutzer soll seine eigenen virtuellen Räume bauen. "Das wird das neue Internet", schwärmt Rosedale.
Diese Prophezeiung ist nicht ganz neu. Der Durchbruch der VR steht unmittelbar bevor - und das seit fünfzig Jahren.
"Das ultimative Display" nannte der Ingenieur und Harvard-Professor Ivan Sutherland in den Sechzigern seinen Traum eines VR-Systems, das nicht nur das Umherschauen und Greifen ermöglichen sollte, sondern echte Körperlichkeit: In diesem "Wunderland" würden "Handschellen wirklich fesseln", "Kugeln wirklich töten". Sutherlands Schnittstelle wäre nicht mehr unterscheidbar vom echten Leben.
1968 baute Sutherland einen Prototyp, der aussah wie ein Kronleuchter aus Kabeln und Monitoren, so schwer, dass er an der Decke montiert war, um die Nutzer nicht zu erschlagen. Der Spitzname des Ungetüms: "Damoklesschwert".
Industrie und Militär griffen ein paar der Damokles-Ideen für Flugsimulatoren auf; sie helfen auch beim Entwerfen von Autos. Architektur- und Ingenieurbüros nutzen virtuell begehbare Modelle, dazu ein paar Hotels und Immobilienmakler, und natürlich Computerspieler.
Doch abgesehen von diesen Nischen ist der Durchbruch auf dem Massenmarkt bislang ausgeblieben, stellten die Marktforscher von Deloitte vorigen Herbst fest. Die Verbreitung von Cyberbrillen dümpelt bei rund drei Prozent der Deutschen.
Denn bislang fehlt ein kleines Detail: der Nutzen für Nutzer. VR ist eine brillante Lösung auf der Suche nach einem Problem. Was fehlt, ist eine "Killer App", wie es die Navigation für Smartphones ist (abgesehen natürlich vom Selfie). Ende März trafen sich deshalb mehr als 500 Experten aus über 20 Ländern, um darüber zu reden, wie es um die Kunstwelttechnik bestellt ist. Diese Konferenz, die weltgrößte zum Thema wissenschaftliche VR-Forschung ("IEEE VR"), fand an einem überraschend kleinen Ort statt: in Reutlingen, einem Städtchen bei Stuttgart, voll schwäbischer Bodenständigkeit.
Etwa die Hälfte der globalen VR-Forschung komme aus Europa, sagt Betty Mohler, amerikanische Informatikerin und leitende Organisatorin des Kongresses, "vor allem aus Frankreich und Deutschland - besonders in der Autoindustrie wird das viel eingesetzt".
Mohler erforscht an der TU Darmstadt mithilfe von VR, wie die Körperwahrnehmung das Denken einfärbt. Wenn man zum Beispiel in Experimenten Frauen einschüchtert, schneiden sie in Gedächtnistests schlechter ab. Lässt man sie dann in männliche Spielfiguren schlüpfen, bringen sie wieder eine bessere Leistung.
Die starke Grundlagenforschung hat Mohler einst nach Deutschland gelockt. Sie kam von Utah als Doktorandin ans "Cyberneum", ein Zentrum der VR-Forschung am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen.

Probandin im "Cyberneum" in Tübingen: Blümerant nach 20 Minuten
Foto: Max Planck Institute for Biological CyberneticsDort, an einem Hang am Rande der Studentenstadt, thront der Campus mit einer Industriehalle, in der ein fast deckenhoher Roboterarm menschliche Probanden in der Luft herumwirbelt, bis ihnen schwindlig wird. Die Quälerei dient dazu, den Gleichgewichtssinn zu ergründen.
Was sich nach Kirmesgaudi anhört, ist fundamental für das Verständnis der sogenannten Cybersickness, eines der größten ungelösten Probleme der VR: Vielen Nutzern wird nach rund 20 Minuten blümerant, weil das Auge und der Gleichgewichtssinn im Innenohr widersprüchliche Signale empfangen, ähnlich der Reisekrankheit im Auto. Warum also sollte man sich dem aussetzen? Die ersten Anwendungen dürften kaum dem Vergnügen dienen.
So begeben sich traumatisierte Soldaten als Teil einer Therapie in fast lebensecht wirkende VR-Szenen aus dem Krieg, der ihre Seelen verletzt hat. "In einer Gesprächstherapie kann der Patient die unangenehmen Erinnerungen leichter verdrängen als in VR", sagt Albert Rizzo, ein Psychologe von der University of Southern California, den bei der Reutlinger Konferenz alle nur "Skip" rufen.
Rizzo manipuliert nicht Maschinen, sondern menschliche Sinne. Schlaganfallpatienten gaukelt er mit VR-Brillen einen funktionierenden Arm vor. Das Gehirn akzeptiert das Trugbild als Teil des eigenen Körpers. Eine fromme Lüge, die den Heilungsprozess unterstützt. An Worte, Bilder und Filme sind wir gewöhnt und haben gelernt, sie auf Distanz zu halten. Aber wenn wir uns selbst durch einen Raum bewegen, werde das Erleben körperlich, sagt Rizzo: Vor allem Kinder können die digitale "Immersion" oft kaum von wirklichem Erleben unterscheiden.
Die Konferenz der VR-Forscher zeigt: 50 Jahre lang ist die Branche dem "ultimativen Display" hinterhergejagt. Doch selbst die avanciertesten Traumwelten wie "High Fidelity" oder "Sansar" schaffen es nicht einmal, die eigenen Hände und Füße realistisch abzubilden. Geschweige denn Tastsinn, Geruch, Geschmack.
Vielleicht liegt die Stärke der VR derzeit weniger in der technischen Perfektion als in der Erkundung menschlicher Fehlwahrnehmungen. Dem ganz alltäglichen Irrsinn eben, der Real Virtuality. "Jahrelang wurde VR total überverkauft, die Leute haben überzogene Erwartungen", sagt Jim Rüggeberg am Rande der Konferenz. Der Unternehmer bastelt in Berlin gemeinsam mit Studenten der TU Wien und seinem Bruder ein sogenanntes Holodeck: eine virtuelle Welt, die man nicht nur mit dem Controller erkundet, sondern indem man darin herumläuft.
Im Mai will Rüggeberg seine digitale Spielwelt, sie heißt "Illusion Walk", testweise eröffnen. Ähnliches gibt es in New York, Toronto, London und Dubai unter dem Namen "The Void".
Seine virtuelle Welt ist flexibel, derzeit hat Rüggeberg sie in eine Büroetage in Berlin-Charlottenburg projiziert. Vier Spieler schultern den speziellen VR-Computer wie einen Rucksack, setzen die Brille auf, und los geht es durch verwinkelte Gänge in ein Raumschiff. Wer nicht aufpasst, rempelt physisch mit den Körpern der anderen Figuren zusammen, denn die Mitspieler sind ja real. Es ist ein Schock, die ungefilterte Wucht eines neuen Mediums.
Die Türen des Raumschiffs befinden sich genau dort, wo auch die echten Bürotüren sind, man kann sie anfassen - "Mixed Reality" heißt dieser Trick. Der "Illusion Walk" endet heute mit dem Balancieren über einen immensen Abgrund. Zittriges Vortasten. Der Kopf weiß, dass dies nur eine Illusion ist, aber das Unbewusste spürt die Präsenz in der Traumwelt. "Limbo" wird dieser Zustand genannt, eine Art Klartraum, halb real, halb surreal.
Geschafft. Die Brille abnehmen, durchatmen. Bloß mag man plötzlich dem Fußboden und den Wänden nicht mehr so recht trauen. Ob man durch sie hindurchgehen kann? Nur wenige Minuten haben die Sinne nachhaltig erschüttert.
Die neueste Technik wirft die ältesten Fragen auf, denen schon Immanuel Kant und Aristoteles nachgingen - und vor ihnen vielleicht die Steinzeitmenschen, als sie Höhlenwände bemalten: Was ist das, Realität?
Nach ein paar Atemzügen verfliegt das Unwohlsein und verwandelt sich in Staunen: wie hochauflösend und detailknisternd die Welt aus Atomen und Alltag doch ist. Staubfussel im Gegenlicht, der Duft von Tulpen und Bohnerwachs - großes Kino. Da ist es, das ultimative Display.
Hilmar Schmundt, 51, berichtet seit 2000 für den SPIEGEL über Wissenschaft und Technik. Für diesen Artikel über Virtual Reality recherchierte er in Berlin, San Francisco und Reutlingen, auch bereiste er fantastische Digitalwelten. Am besten gefiel ihm der Spaziergang im Berliner Holodeck-Raumschiff, das er bald mit seinen Patenkindern erkunden will.