Wahre Verbrechen Der Tote aus Baureihe B6

Nichts fasziniert die deutschen Fernsehzuschauer mehr als Krimis. Doch was haben die Drehbücher mit der Wirklichkeit zu tun? Fünf echte Kommissare berichten über die wichtigsten Fälle ihres Lebens.
Beweismaterial in einem Wald bei Venlo 1998

Beweismaterial in einem Wald bei Venlo 1998

Die Spur des Eichenblatts

Am frühen 23. November 1998, nach ein Uhr in der Nacht, passierte ein weißer BMW aus Richtung Wuppertal kommend auf der A67 die deutsch-niederländische Grenze. Im Kofferraum lag, eingewickelt in eine Decke, die Leiche einer jungen Frau. Sie war erdrosselt worden, mit einem "seilartigen Strangulationswerkzeug", so stellte später der Rechtsmediziner fest. Der Täter hatte so fest zugezogen, dass beide Oberhörner im Kehlkopf gebrochen waren.

Kurz hinter der Grenze lenkte der Fahrer den Wagen auf eine kleine Straße, die durch ein Waldstück führt. Dort legte er die Tote in einen Graben. In der Nacht fiel auf den leblosen Körper Laub der dort stehenden Bäume, hauptsächlich Birken, Stieleichen und Rotbuchen.

Ein Radfahrer entdeckte die Tote gegen neun Uhr: Theresa A., im westafrikanischen Togo geboren, verheiratet, Mutter zweier Kinder. Sie war zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger. Trotz der Jahreszeit war sie nur mit Leggings, Socken und Pullover bekleidet, offenbar war sie nicht hier getötet worden. Die DNA, die Rechtsmediziner unter einem Fingernagel gesichert hatten, stammte von Robert F., ihrem Ehemann.

Die Polizei fand schnell heraus, dass sie sich von ihrem Mann hatte trennen wollen. Robert F., der ebenfalls aus Togo stammt, hatte seine Frau immer wieder betrogen und geschlagen, einmal so heftig, dass ihr Trommelfell gerissen war. Vier Wochen vor ihrem Tod war sie in ein Frauenhaus geflüchtet, Robert F. war aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Den Schlüssel hatte er behalten.

Ein gutes halbes Jahr lang saß Robert F. in Untersuchungshaft. Er kam frei, weil sein Anwalt angab, Robert F. und Theresa hätten sich am Tag ihres Todes versöhnt. Er habe seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt, sie habe ihm einen Pickel ausgedrückt, mit einer Hand. Der Richter hielt es nicht für ausgeschlossen, dass dies die Wahrheit war.

Robert F. lebte wieder in Freiheit, fand eine neue Frau, gründete eine Reinigungsfirma. 2003 stellte er einen Einbürgerungsantrag, dabei fiel auf, dass ein Verfahren gegen ihn anhängig war.

Kriminalhauptkommissar Edward Schweda, der sich nun die Akte vornahm, arbeitete erst seit Kurzem beim KK11, zuständig für Todesdelikte. Er suchte Ermittlungsansätze, Dinge, die übersehen worden waren.

Schweda entdeckte zunächst Blut auf dem Pullover von Robert F., auf einem Foto war es deutlich zu erkennen. Er überprüfte die Kontounterlagen und stellte fest, dass F. nach dem Tod seiner Frau größere Beträge nach Togo überwiesen hatte.

Als der Prozess im Sommer 2005 vor dem Wuppertaler Landgericht begann, war die wichtigste Spur gerade erst untersucht worden: Es gab Laubblätter, die Beamte auf der Kofferraummatte im weißen BMW gefunden hatten - ein Birkenblatt, ein Stieleichenblatt, ein Blattfragment.

Die Blätter waren braun und trocken, es gab nur noch wenig Pflanzen-DNA. Aber Schweda wusste, dass beim BKA in Wiesbaden an einem Verfahren geforscht wurde, DNA-Spuren aus pflanzlichem Material zu vervielfältigen.

Schweda fuhr die Blätter nach Wiesbaden, begleitete die Biologen in die Niederlande zum Blättersammeln. Sie markierten die Bäume in einer Skizze, versahen sie mit Kürzeln: G1, G2, S1, S2 und so weiter.

Er sei nie in dem Wald bei Venlo gewesen, behauptete Robert F. vor Gericht. Aber dann bekam Schweda den Anruf, auf den er gehofft hatte: Das Stieleichenblatt der Spur 102 stammt von dem Baum mit der Markierung S10, er steht zweieinhalb Meter vom Fundort der Leiche entfernt. Eine unter 2,4 Millionen Stieleichen hat diese DNA, sagte der BKA-Experte. Die Wahrscheinlichkeit bezifferte er mit 99,999 Prozent.

Robert F. wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, wegen Totschlags. Es war weltweit das erste Mal in einem Strafverfahren, dass die DNA einer Pflanze einen Täter überführte.

Edward Schweda, 55, kam 1981 zur Polizei, lange arbeitete er im Kriminalkommissariat 11 (Tötungs-, Brand-, Waffendelikte) in Wuppertal. Er ist heute Erster Kriminalhauptkommissar. Sein Traumberuf? Noch immer Polizist.


Hubers Schuss

Ermittler Huber

Ermittler Huber

Foto: Maria Feck / DER SPIEGEL

Eine schallgedämpfte Maschinenpistole des Typs P5, wie Hans Huber sie an jenem Abend in München führt, verschießt ein Neun-Millimeter-Parabellum-Projektil und ist dabei fast lautlos. Parabellum ist die Abkürzung von "Si vis pacem para bellum", was bedeutet: "Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor."

Trifft das Projektil einer MP5 aus kurzer Distanz auf den Schädel eines Menschen, dringt es ein, hinterlässt einen dünnen Kanal, gleitet durch den Kopf, reißt Fleisch und Knochensplitter mit sich, tritt hinten wieder aus und fliegt weiter. Damit ein solcher Schuss handlungsunfähig macht, muss das Projektil das Kleinhirn durchschlagen. Zielt der Schütze von vorn, muss das Projektil circa auf der Höhe der Nasenspitze in den Kopf eindringen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Huber fragte sich, wie es sein würde zu töten, seit er sich für den Beruf des Polizisten entschieden hatte. Er ekelte sich vor Kollegen, die so wirkten, als könnten sie es nicht abwarten, endlich zu töten. Beim Auswahlverfahren für das Sondereinsatzkommando fragte ihn einer der Interviewer, ob er bereit dazu sei, einen Menschen zu erschießen, um Unheil abzuwenden, falls die Umstände dies erforderten. Huber sagte Ja.

Er wurde Polizist, weil sein Vater und sein Großvater Polizisten waren und weil ihm der Gedanke gefiel, den Rechtsstaat zu schützen. Nach seiner Grundausbildung wurde er Präzisionsschütze beim Sondereinsatzkommando in München. In seinen 20 Jahren bei der Polizei hat Huber keinen Strafzettel geschrieben. Er sagt, ein Cellist im Orchester müsse sein Cello beherrschen, weil es sein Instrument sei. Die Instrumente des Präzisionsschützen sind das halb automatische Scharfschützengewehr PSG1 und die MP5.

Der Fall, der sich in Hubers Gedächtnis gegraben hat, beginnt in einer Nacht Anfang Dezember im Jahr 1995.

Um zwei Uhr morgens nimmt der Münchner Berufskraftfahrer Rudolf Böll, ein Sportschütze, seinen großkalibrigen Trommelrevolver und schießt in die Decke seiner Wohnung in der Arminiusstraße 3. Der Abend hat gut begonnen für Böll, er war mit seiner Lebensgefährtin Grazyna im Lokal Giesinger Garten tanzen und trinken. Daheim hat er dann einen Brief geöffnet, in dem seine geschiedene Frau ihn aufforderte, Unterhalt für sie und die gemeinsame siebenjährige Tochter zu zahlen. Böll ist mit dieser Forderung nicht einverstanden, er greift nach dem Revolver, feuert, wählt, aus ungeklärten Gründen, die Nummer 110 und sagt: "Ich habe eine Geisel und schieße auf alles, was sich bewegt."

Die Polizei schickt einen Streifenwagen, um zu prüfen, ob von Böll eine Gefahr ausgeht oder ob er nur mal drohen wollte. Als der Wagen vor der Arminiusstraße 3 hält, tritt Böll auf den Balkon und schießt mit dem Revolver auf die Beamten, die im Streifenwagen vorgefahren sind.

Als Huber und seine Kollegen eintreffen, hat sich Böll ohne die Geisel, also ohne seine Lebensgefährtin Grazyna, in der Tiefgarage verschanzt. Die Polizisten überprüfen erst die Wohnung, gehen dann in die Tiefgarage, werfen ein paar Blend-Schock-Granaten und lassen einen Belgischen Schäferhund von der Leine, der darauf trainiert ist, Menschen in den Arm zu beißen, mit dem sie eine Waffe führen.

Böll erschießt den Hund und nimmt den Hinterausgang. Oben kreuzt sich sein Weg mit dem des Leiters der Verhandlungsgruppe der Polizei, der keine Waffe trägt. Böll hält ihm den Lauf des geladenen Revolvers gegen die Stirn und nimmt ihn als Geisel. Huber, der aus der Tiefgarage nach oben kommt, sieht ein Dutzend Polizisten mit gezückter Waffe, die Böll und seine Geisel umringen und einander in der Schusslinie stehen. Böll packt seine Geisel am Kragen und geht durch den Kreis der Polizisten Richtung Isar. Über Funk hört Huber, wie die Kollegen einen finalen Rettungsschuss diskutieren.

Im Polizeigesetz steht: "Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist."

Huber hat bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Menschen getötet. Einmal, als er mit seinem Großvater im Donaumoos jagen war, hat er einen Fuchs geschossen.

Böll schießt immer wieder auf die Polizisten, die ihn verfolgen, aber er trifft niemanden. Auf einer Isarbrücke zwingt er seine Geisel dazu, sich vor ihm hinzuknien, und richtet den Revolver auf den Kopf des Mannes. Über Funk hört Huber, dass der finale Rettungsschuss freigegeben ist.

Die MP5 ist eine der meistgebrauchten Maschinenpistolen der Welt, günstig im Einkauf und einfach in der Wartung. Sie hat allerdings den Nachteil, dass der Abzug sehr sensibel ist und dass der Schütze jeden Kratzer im Stahl in den Fingern spürt, wenn er abzieht.

Huber sinkt auf ein Knie. Er überlegt nicht, er ruft ab, was er gelernt hat. Als er den Abzug zieht, denkt er: So weich ist der noch nie gegangen.

Huber wird später sagen, dass Böll dalag, so verrenkt und seltsam, wie ein Mensch eigentlich nicht liegt. Böll liegt auf dem Asphalt, im Gesicht, auf der Höhe des Kleinhirns, hat er ein Loch.

Kommissar Hans Huber, 50, heißt in Wirklichkeit anders, er möchte nicht mit seinem echten Namen in der Öffentlichkeit stehen. Er wohnt zusammen mit seiner Familie in Süddeutschland. Huber arbeitete bis zum Jahr 2008 als Polizist. Heute berät er Firmen in der Rüstungsindustrie.


Der Tote aus Baureihe B6

Suchaktion bei Grefrath 2010

Suchaktion bei Grefrath 2010

Grefrath am Niederrhein, 3. September 2010, ein Freitag: Nachdem er lange scheinbar ziellos umhergefahren ist, lenkt Olaf H., 45 Jahre alt, sein Auto von der Landstraße auf einen Feldweg. Es dämmert schon, als sich der zehnjährige Mirco S. auf seinem Dirtbike nähert. Olaf H. stellt sich dem Jungen in den Weg. Er befiehlt ihm, vom Rad zu steigen und sich ins Auto zu setzen. Dann fährt er mit seinem Opfer davon.

Am nächsten Abend klingelt bei Willy Theveßen, dem Pressesprecher der Polizei Mönchengladbach, das Telefon. Ingo Thiel ist dran, der Leiter der Mordkommission. Mirco wird seit mehr als 24 Stunden vermisst. "Hier läuft etwas mächtig schief", sagt Thiel. "Ich brauche dich."

Die Polizisten suchen ein Kind, das vielleicht noch lebt - gleichzeitig suchen sie einen Mann, der jederzeit ein zweites Kind entführen kann. Sie beschließen deshalb, Druck aufzubauen. Der Druck soll den Täter zu Fehlern zwingen, der Druck soll die Öffentlichkeit wachsam machen. Sie wollen an diesen Fall "mit großem Besteck rangehen", so nennen sie das.

Theveßen, den die Kollegen respektvoll "Schmierfink" nennen, übernimmt die Aufgabe, den Druckaufbau zu orchestrieren. Theveßen soll die Öffentlichkeit so geschickt lenken, dass Thiel sie als Instrument einsetzen kann: die Nachbarn in Grefrath, die für Mirco beten und um ihre eigenen Kinder bangen; die Menschen am Niederrhein; Journalisten aus ganz Deutschland; Polizeiführer und Politiker.

Um 0.25 Uhr in der Nacht zum Sonntag schickt Theveßen die erste Pressemitteilung raus. Hundertschaften werden am Sonntagmorgen nach dem Jungen suchen. Journalisten, das ist neu, dürfen mitlaufen. Einzige Bedingung: Sollten die Beamten etwas finden, müssen die Journalisten Rücksprache halten, bevor sie darüber berichten.

Weil der Täter Wege nutzt, die nur ein Einheimischer kennt, sind sich die Spezialisten der Operativen Fallanalyse sicher, dass der Gesuchte in der Gegend lebt. Sie gehen davon aus, dass eine solche Tat einen Menschen verändert, dass der Täter nervös wird, dass er sich zurückzieht oder bei der Arbeit fehlt.

Im Video: Das Rätsel der Villa Horten

SPIEGEL TV

Nach zwei Tagen wird Mircos Fahrrad gefunden. Eine Autofahrerin entdeckt an einem Rastplatz Mircos Sporthose, wenig später tauchen weitere Kleidungsstücke auf. Labortechniker sichern an den Kleidungsstücken DNA-Spuren und an der Sporthose Fasern von einem Autositz.

Ein Zeuge meldet sich, jung und autointeressiert. Auf dem Feldweg hat er an jenem Freitagabend einen Kombi gesehen, mit runden Rückleuchten, quer angeordnet, einen VW Passat der Baureihe B6.Wegen der Fasern von der Sporthose weiß die Polizei, dass sie nach einem Passat der Ausstattungsvariante AR suchen muss. Ein typischer Vertreterwagen; rund 105.000 dieser Autos sind zum Zeitpunkt der Tat in Deutschland zugelassen.

Jeder B6-Passat-Fahrer ist verdächtig, also müssen möglichst alle Autos der Baureihe B6 spurentechnisch untersucht werden. Ohne das Verständnis der Öffentlichkeit, ohne die Mithilfe der Menschen am Niederrhein ist das nicht zu schaffen.

Theveßens Ziel war es von Anfang an, den Fall "auf die emotionale Ebene" zu bringen. Er hat den Kameraleuten spektakuläre Bilder ermöglicht und die Öffentlichkeit über Details informiert, irgendwann hat er in der Lokalzeitung eine tägliche Kolumne begonnen, damit die Suche nach Mircos Entführer nicht in Vergessenheit gerät. Jetzt bittet die Polizei die Menschen in der Region darum, alle Passats zu melden. Kinder notieren Kennzeichen, Busfahrer erstellen Listen, Erwachsene schicken Excel-Dateien an die Polizei.

Willy Theveßen erlebt diese Wochen als bedrückend und erhebend zugleich. Einen Fall mit großem Besteck angehen, das bedeutet: Überstunden, keine Wochenenden, keinen Urlaub, kaum Ruhe. Selten ist er vor elf, halb zwölf zu Hause.

Viereinhalb Monate dauert es, dann haben sie den Passat. Es ist ein Leasing-Wagen, der Vertrag ist ausgelaufen, beinahe wäre der Wagen nach Russland verkauft worden. Zwei Polizisten klingeln Olaf H. frühmorgens aus dem Bett. Er arbeitet für die Telekom, ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Er ist nervös geworden, die Tat hat ihn krank gemacht, aber er hat sich nicht zu einem Fehler verleiten lassen. Er hat sich einfach verkrochen. Er gesteht, Mirco entführt, missbraucht und mit einer Schnur erdrosselt zu haben.

Bis zu 80 Beamte haben ermittelt, 146 Tage lang, knapp 9000 Hinweisen sind sie nachgegangen, 50 Quadratkilometer haben sie abgesucht. Als alles vorbei ist, ist Theveßen stolz und erschöpft. Es sei beeindruckend, sagt er, was die Polizei herausfindet, wenn sie es wirklich will, selbst für einen Polizisten.

Am 29. September 2011 verurteilt das Landgericht Krefeld Olaf H. wegen Mordes, sexuellen Missbrauchs und Freiheitsberaubung zu lebenslanger Haft, der Richter erkennt auf besondere Schwere der Schuld.

Zweimal saß Theveßen in der Verhandlung. Hat er Verachtung empfunden? Mitleid?"

Als Mensch war der mir total gleichgültig", sagt Theveßen. "Der war für mich einfach ein Nichts."

Willy Theveßen, 62, kam 1973 zur Polizei, mit 19 Jahren. Zuerst war er Kraftfahrer, später wechselte er in die Funkleitstelle und noch später zum Staatsschutz. Zuletzt war Theveßen Pressesprecher der Polizei in Mönchengladbach. Nach 43 Dienstjahren geht er diesen Monat in den Ruhestand.


Schweinefamilie

Brandruine in Lengede 2009

Brandruine in Lengede 2009

Zwei Tage nachdem Oliver Meyer(*) eine Telefonzelle in Salzgitter mit einem Baseballschläger demoliert hatte, stand er vor einem Einfamilienhaus in Lengede, vor dem Fenster zum Kinderzimmer. Meyer lebte zu jener Zeit von Hartz IV. In seinen Händen hielt er den Baseballschläger und einen Molotowcocktail. Es war kurz nach vier Uhr in der Nacht.

Er schlug seinen Baseballschläger gegen das Doppelglas des Kinderzimmerfensters. Meyer warf den Brandsatz durchs Fenster, Sekunden später brannte es im Zimmer, auch der Himmel des Kinderbetts, in dem der vierjährige Sohn der Familie schlief, fing Feuer.

Meyer flüchtete, sobald die Flammen loderten, und er konnte zuversichtlich sein, nie gefasst zu werden, denn sein Motiv für diesen versuchten Mord war so abwegig, so krank, dass es nur ihm allein plausibel schien.

Sechs Stunden nach dem Anschlag, am Morgen des 15. Juni 2009, stand Kriminalhauptkommissar Martin Wachtmeester, Brandermittler der Kripo Peine, mit einem Kollegen im rußgeschwärzten Kinderzimmer. Es war Wachtmeesters erster Fall als Brandermittler.

Der vierjährige Junge, dies war das Wichtigste, war unversehrt, sein Vater hatte ihn aus dem Bett gezerrt, bevor die Flammen ihn erreichen konnten.Der Vater hatte den oder die Täter nicht gesehen, es war nicht einmal sicher, ob es überhaupt Täter gab. Spuren vor dem Fenster gab es nicht, die Auffahrt war gepflastert, die Feuerwehr hatte nach dem Löschen des Brands vor dem Haus gefegt.

Vielleicht war ein Kurzschluss Ursache des Feuers. Vielleicht hatte ein Elternteil oder das Kind selbst den Brand gelegt. Vielleicht war es jemand anders gewesen. Alles schien möglich für Wachtmeester.

Nach zwei Monaten erreichte ihn eine Laborprobe des Brandschutts. Sie wies Benzin, Paraffin und Petroleum nach. Nun war das Feuer plötzlich kein Feuer mehr, sondern versuchter dreifacher Mord, und es musste einen Täter geben, irgendwo.

Den ersten Hinweis lieferte ein Satz der Mutter. Sie sagte, dass es Monate vor dem Feuer einen seltsamen Anruf gegeben habe. Ein Unbekannter habe "Schweinefamilie, Schweinefamilie, Schweinefamilie" in den Hörer gerufen und aufgelegt. Da auf den Anruf nichts weiter folgte, hatte die Familie ihn nicht weiter beachtet. Die Eltern konnten sich nicht daran erinnern, wann der Anruf erfolgt war, sie wussten nur noch, dass sie an diesem Tag eine mobile Radarfalle nahe Lengede gesehen hatten.

Die Radarfalle war am 15. März im Einsatz gewesen. Wachtmeester schrieb alle Telekomprovider in Deutschland an und bat um die Verbindungsdaten von Anrufen, die an diesem Tag zum Festnetzanschluss der Familie führten. Ein Provider lieferte eine Nummer. Und einen Namen. Oliver Meyer."Er war Kunde in unserem Geschäft in Salzgitter", erinnerte sich der Vater. Aus Salzgitter war die Familie drei Jahre zuvor fortgezogen, und Meyer hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu ihnen. Das Ehepaar konnte sich nicht vorstellen, warum Meyer versuchen sollte, sie und ihren Sohn umzubringen. Wachtmeester hatte auch keine Idee, er steckte fest.

Der Anruf eines Kollegen, der zufällig von seinen Ermittlungen hörte, brachte ihn weiter. In Salzgitter ermittelte man wegen Sachbeschädigung gegen Meyer. Seine Kontoauszüge zeigten, dass er am Tag des Brandes 3,6 Liter Benzin gekauft hatte. Außerdem berichtete der Kollege, dass sich Meyer weigerte, Aussagen zum 15. Juni, dem Tag des Brandanschlags, zu machen.

Nun hatte Wachtmeester immerhin einen Verdächtigen, der sich in der Tatnacht 30 Kilometer vom Tatort gut drei Liter Benzin gekauft hatte. Ein Motiv konnte Wachtmeester immer noch nicht bieten, aber er ging trotzdem zum Staatsanwalt. Aber der sagte, wenig überraschend, 3,6 Liter Benzin und ausweichende Antworten während eines Verhörs reichten nicht für einen Haftbefehl.

Wachtmeester fuhr mit Meyer am Haus der Familie vorbei, ließ Vater, Mutter und Sohn vor dem Haus antreten, während der Polizeiwagen vorbeirollte, und Wachtmeester sah, wie Meyer den Blick beschämt abwandte.

Wachtmeester setzte auch speziell ausgebildete Spürhunde ein, die in der Lage sind, auch nach Monaten die Wege und Aufenthaltsorte von Menschen nachzuvollziehen. Beide Hunde zeigten an, dass Meyer in der Nähe des Hauses gewesen sein musste. Aber der Staatsanwalt war nicht überzeugt vom Ergebnis der Spurensuche, weil kein Experte erklären kann, wie die Hunde dieses Wunder vollbringen.

Wachtmeester konnte Meyer schließlich verhaften, weil ein psychiatrischer Gutachter Meyer "eine Gefahr für die Allgemeinheit" nannte, und zwar in einem weiteren Prozess, der gegen Meyer lief, wegen ganz profaner Sachbeschädigung.

Zum Prozess kam es im Sommer 2010, im Landgericht Hildesheim. Hier wurde auch klar, warum Meyer versucht hatte, Eltern und Sohn zu töten: Er litt unter einer schweren Persönlichkeitsstörung, und diese Persönlichkeit war gekränkt worden. Meyer hatte den Vater einmal um Hilfe beim Umzug gebeten. Und der hatte die Bitte abgelehnt, weil er gerade keine Zeit hatte.

* Name geändert.

Martin Wachtmeester arbeitet seit 16 Jahren bei der Polizei. Ab und an hadert er mit seinem Beruf, vor allem wenn er beschimpft, beleidigt oder angegriffen wird. Seine Entscheidung, nicht Lehrer, sondern Kripokommissar zu werden, bereut er trotzdem nicht. Er glaubt fest daran, als Polizist in Rente zu gehen.


Der Fund vom Maschsee

Ermittler Nowatius

Ermittler Nowatius

Foto: Maria Feck / DER SPIEGEL

Ende September 1975, spät an einem Freitagabend, entdeckt ein Arbeiter an einem Wehr in der Nähe des Maschsees in Hannover den Torso einer jungen Frau.

Die Frau, das stellen Gerichtsmediziner fest, war 23 bis 25 Jahre alt, als sie starb. Sie hatte mindestens ein Kind zur Welt gebracht. Beine und Brüste sind abgetrennt, vermutlich mit einem scharfen Messer; der Unterleib ist ausgeräumt. Um den Brustkorb ist eine Kordel geschlungen.

Obwohl es der Polizei gelingt, Fingerabdrücke zu nehmen, kann die Tote nicht identifiziert werden. Niemand weiß, wer sie ist, woher sie kommt, wo sie starb; weshalb sie zerstückelt wurde. Das Mittel der DNA-Analyse gibt es damals noch nicht, elektronische Datenbanken stecken noch in der Entwicklung; die Polizei, beschäftigt vom Terror der RAF, legt den rätselhaften Fund irgendwann beiseite.

Fünf Monate später entdeckt die Besatzung eines Streifenwagens, wiederum am Maschsee, zwischen geparkten Autos eine rechte Thoraxhälfte und kurze Zeit später, wenige Meter entfernt, die linke. Wieder ist das Opfer eine Frau, etwa 25 Jahre alt. Auf einem Schulhof finden Kinder ein rechtes Bein.

Die Leiche hat zwei, vielleicht auch drei Wochen gelegen, vermutlich in einem feuchten Keller. Neben einem scharfen Messer hat der Täter eine Säge verwendet. Wieder kann die Tote nicht identifiziert werden. Schien es beim ersten Fund noch wahrscheinlich, dass der Täter den Torso ins Wasser geworfen hatte, weil er ihn loswerden wollte, so wirken die Funde vom Februar wie abgelegt, freigegeben zur Präsentation. "Der wollte, dass wir das finden", sagt Günter Nowatius.

Nowatius ist damals Leiter der Mordkommission in Hannover, 36 Jahre alt, ehrgeizig. Seine Leute beginnen damit, Krematorien und Friedhöfe zu überprüfen. Ist es denkbar, dass jemand Leichen stiehlt - dass bei Einäscherungen leere Särge verbrannt werden?

Über ein Jahr ermittelt die Polizei, ohne Ergebnis. Die Kriminalistik kennt viele Gründe, aus denen ein Mensch einen anderen Menschen zerteilt. Oft geht es darum, eine sperrige Leiche handlicher zu machen für den Transport; meist soll die Identifizierung erschwert werden. Mitunter spielt Hass eine Rolle, häufiger Lust. Ohne brauchbare Spuren, ohne Identitäten jedoch bleibt alles Spekulation.

Um Pfingsten 1977 herum werden vier weitere Leichenteile gefunden. Diesmal waren die Toten Männer: der eine mindestens 50 Jahre alt, der andere jung, 18 etwa, auf seinem linken Unterarm ist laienhaft ein Eisernes Kreuz tätowiert. Auch sie können nicht identifiziert werden.

Die Polizei weiß nicht, woher die Toten stammen, wie sie gestorben sind, ob sie einen Mörder suchen oder einen Leichenschänder. Sie kennen keine Tatzeit, keinen Tatort, sie haben keine Zeugen, nur Vermutungen. Haben sie es mit einem Bestatter zu tun, der einer makabren Leidenschaft nachgeht? Mit einem Totengräber? Mit einem Arzt, der eine dunkle Seite auslebt - oder mit Medizinstudenten, die sich einen Spaß machen, auf Kosten der Polizei? Oder mit einem Täter, der das Machtgefühl genießt, Polizei und Öffentlichkeit vor ein Rätsel zu stellen, dessen Lösung nur er selbst kennt?"

Eine Logik festzustellen war unmöglich", sagt Nowatius heute. "Der Täter handelte nicht rational."

Zwei weitere Tote finden sich im selben Jahr, im Juli der Unterkörper einer Frau, im Dezember der Torso einer Frau, sechs Tage vor Heiligabend: Dieses eine Mal können die Rechtsmediziner mit Sicherheit sagen, dass das Opfer gewaltsam zu Tode gebracht worden war.

Dann ist Schluss. Die Serie hört auf, warum auch immer. Möglich, dass der Täter fortzog, dass er wegen eines anderen Delikts ins Gefängnis musste, dass er starb. Auf YouTube kann man sich einen Ausschnitt aus der Sendung "Aktenzeichen XY" ansehen, mit dem jungen Günter Nowatius, der die Baumwolldecke beschreibt, in die das letzte Opfer gewickelt worden war: anderthalb mal zwei Meter groß, darauf ein geometrisches Muster in den Farben Hellblau, Gelb, Rosé und Weiß, an mehreren Stellen beschädigt. Mehrere Lösegelder seien ausgelobt, sagt er, insgesamt 9000 Mark.

Offenbar handelte es sich um einen Einzeltäter, denn wenn es zwei waren, sagt Nowatius, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass der eine den anderen irgendwann verrät. Offenbar hatte der Täter anatomische Kenntnisse, die Schnitte waren sauber ausgeführt. Er zerlegte die Körper mit einer Kreis- oder Bandsäge - an einem Ort, an dem er ungestört arbeiten konnte, ohne die Angst, entdeckt zu werden.

Ganz offensichtlich besaß er die Möglichkeit, die Leichen kühl zu lagern, bevor er ihre Teile in der Stadt verstreute - einige von ihnen waren im Abstand mehrerer Wochen abgelegt worden, ohne dass die Verwesung fortgeschritten gewesen wäre. Möglicherweise arbeitete er unter der Woche; die Leichenteile wurden ohne Ausnahme am Wochenende entdeckt.

Günter Nowatius hat den Täter nie gefunden. Bis heute ist der Fall ein Rätsel, ungelöst.

Günter Nowatius ging gleich nach der Schule zur Polizei, im Jahr 1958. 1975 übernahm er das Kommissariat für Todesermittlung, Kindesmisshandlung, Vermisstenstelle und ärztliche Kunstfehler in Hannover. Nowatius verließ den Polizeidienst 1982 und machte sich mit einer Sicherheitsfirma selbstständig. Er ist 77 Jahre alt und lebt in Süddeutschland.

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten