SS-Massenmörder Brunner Herzliche Grüße aus der Sonne

Mörder Brunner (r.), Mitbewohner Witzke (l.), Karl-Heinz Späth (2. v. r.) und dessen Ehefrau um 1957: Grauenhafte Bridgerunde
Am Spätnachmittag des 9. Mai 1961 schleppt sich ein untersetzter Mann in das deutsche Generalkonsulat in Damaskus. Die Diplomaten kennen ihn, es ist Rittmeister a.D. Curt Witzke. Der Monokelträger zählt zur deutschen Gemeinde in der syrischen Hauptstadt.
Nun sitzt er da, völlig erschöpft, mit zerrissener, fleckiger Kleidung. Vor sechs Wochen hätten ihn syrische Geheimdienstler morgens um drei Uhr aus seiner Wohnung verschleppt, erzählt er unter Weinkrämpfen. Sie hätten ihn verprügelt, seinen Kopf unter Wasser gedrückt, bis er fast erstickte, ihn an den Füßen aufgehängt und dann mit einer Peitsche auf die Sohlen geschlagen, bis diese aufplatzten. Erst jetzt hätten sie ihn gehen lassen.
Witzke glaubt zu wissen, wer ihn als vermeintlichen Spion bei den Syrern denunziert hat: der Mann, mit dem er seit Jahren eine Wohnung teilt, sie hätten sich zerstritten, weil der "öfters Frauenzimmer" mitbringe. Sein Name sei Alois Brunner.
Alois Brunner: Einer der berüchtigtsten SS-Verbrecher des "Dritten Reichs". Holocaust-Organisator Adolf Eichmann bezeichnete ihn als seinen "besten Mann". Mehr als 128.500 Menschen ließ der fanatische Antisemit Brunner in die Gaskammern deportieren. Für seine Grausamkeit war er gefürchtet.
Wann immer, wo immer das Morden stockte, schickte Eichmann ihn los, nach Frankreich, wo er Kopfgeld an Denunzianten zahlte, die Juden auslieferten, nach Bratislava, wo er Menschen mit dem falschen Versprechen, die Deportationen würden ausgesetzt, aus Verstecken lockte, nach Thessaloniki, wo er innerhalb weniger Monate 50.000 Menschen nach Auschwitz abtransportieren ließ. Er habe sogar dafür gesorgt, so prahlte er, dass Menschen abgeholt wurden, die gar nicht deportiert werden sollten. Eine seiner Anweisungen lautete: "Jeder Jude hat, wenn ein Deutschblütiger kommt, aufzustehen. Er hat sich von ihm in einer Entfernung von 2 Schritt zu halten."
Anders als sein Chef Eichmann, den der israelische Mossad 1960 in Argentinien aufspürte, wurde Brunner nie geschnappt. Er war das Phantom der deutschen Nachkriegsgeschichte. Früh tauchten Gerüchte auf, er sei in Damaskus, doch es dauerte Jahre, bis die Bundesrepublik einen Haftbefehl erließ, und noch länger, bis sie ein Auslieferungsersuchen stellte.
Der Fall Brunner ist ein Beispiel dafür, wie wenig Energie die Bundesrepublik in ihren Gründerjahren darauf verwandte, Naziverbrecher aufzuspüren und vor Gericht zu bringen. Während sich die Westdeutschen nach Krieg und Holocaust der Welt als lernfähige Demokraten präsentierten, ließen sie es zu, dass in etlichen Ministerien und Behörden frühere NS-Funktionäre wieder auf guten Posten mitmischten.
Brunner wurde von Syrien nie ausgeliefert. Bis heute ist sein Name in jedem Polizeicomputer gespeichert. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl in Deutschland und Österreich wegen Mordes vor, 50.000 Euro Belohnung sind auf Hinweise ausgesetzt, die zu seiner Ergreifung führen.
Lebt er überhaupt noch? Brunner wäre heute 104 Jahre alt. Mehrfach bereits wurde sein Tod gemeldet, aber nie bestätigt. Erst kürzlich meldete ein französisches Magazin, er sei 2001 in Damaskus gestorben und liege dort auf einem Friedhof. Tatsächlich wurde er zuletzt in den Neunzigerjahren in Syrien gesehen. Dort gab er gelegentlich sogar Interviews, in denen er die Opfer des Holocaust als "menschlichen Abfall" verhöhnte.
Wie konnte Brunner die Flucht gelingen? Wer waren seine Helfer? Und wieso wurde er nie ausgeliefert? Zu seinem Leben nach 1945 ist die Beleglage spärlich. Der SPIEGEL hat nun eine Vielzahl bislang unbekannter Dokumente aus US-Beständen und Archiven in Deutschland ausgewertet und mit Zeitzeugen gesprochen.
Es sind vertrauliche Berichte des Auswärtigen Amts (AA), Vermerke des Kanzleramts, Briefe von Altnazis, Personalakten, Vernehmungsprotokolle von Staatsanwälten, Papiere vom Bundesnachrichtendienst (BND), vom Verfassungsschutz und vom US-Geheimdienst CIA.
Die Recherche nährt den bösen Verdacht, dass in der Bundesrepublik bis in die Siebzigerjahre ein geheimes Netz aus Bekanntschaften, Kontakten, Verbindungen aus dem "Dritten Reich" existierte.
Ehemalige oder aktive Diplomaten, Kleinunternehmer, Journalisten, Freiberufler, Militärs oder Geheimdienstler knüpfen die Fäden. Diese sind mal dünner und mal fester gesponnen, und das Netz hat kein Zentrum. Brunner ist nicht die Spinne, die alles steuert. Er profitiert wie andere auch von dem Geflecht nützlicher Verbindungen, ganz konkret, wenn es um Fluchtpapiere und Geld geht, oder grundsätzlich, wenn alte Kameraden mit dazu beitragen, dass NS-Verbrechen nicht verfolgt werden.
Die Verbindungen reichen sogar bis in die Parteien, in den Bundestag und die Bundesregierung, auch in die Medien. Es sind Männer wie Rudolf Vogel, langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter und Staatssekretär im Bundesschatzministerium, die dazugehören. Der kleine Mann mit der markanten schwarzen Hornbrille, Mitbegründer der Deutschen Stiftung für Entwicklungshilfe und Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft, sitzt in den Verwaltungs- oder Aufsichtsräten der Post, der Lufthansa und der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Vogel hilft Brunner mit Geld, wie Mitglieder des Netzwerks berichten.
Oder Karl-Heinz Späth, Direktor der Arzneimittelfirma Thameco in Damaskus und nach CIA-Angaben Mann des BND. Späth stellt Brunner in Syrien als Betriebsleiter an, man verkehrt auch privat.
Oder Horst Mahnke, ehemaliger SS-Hauptsturmführer, der 1941 dem Vorkommando Moskau angehörte, das Juden ermordete. Nach dem Krieg macht er erst beim SPIEGEL Karriere, wechselt dann zum Springer-Verlag und steigt zum Spitzenmanager Axel Springers und Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger auf(*). Der Berliner weiß, wo sich Brunner aufhält. Und er arbeitet mit einem weiteren Journalisten zusammen, Hans Germani, der mit Brunner befreundet ist.
*Hauke Janssen: "Sagen, was war ... Eine ,Stunde Null' der deutschen Presse nach 1945 gab es nicht, auch nicht beim SPIEGEL", in: Klaus Brinkbäumer (Hg.): "70. Der SPIEGEL 1947 - 2017".
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08.06.2023 04.51 Uhr
Keine Gewähr
Man muss bei der Rekonstruktion der Verbindungen vorsichtig sein. Wer sich vor 1945 kannte und auf derselben Seite stand, muss dies nicht unbedingt nach 1945 noch tun. Die Unterlagen sind zudem nicht vollständig, möglicherweise werden Aktenfunde Einzelne noch von dem Verdacht entlasten, Brunner geholfen zu haben.
Am Gesamtbefund wird sich allerdings kaum etwas ändern. Die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft zählt zu den großen Erfolgen in der Geschichte dieses Landes. Der Fall Brunner zeigt, welch starke Kräfte am Werk waren, die dagegen standen.
Die Karriere
Alois Brunner ist ein schmächtiger Mann, 1,72 groß, schlechte Haltung. Er ist nicht sonderlich beliebt, SS-Kameraden verspotten ihn wegen seiner schwarzen, gekräuselten Haare als "Jud Süß", nach dem berüchtigten antisemitischen Propagandastreifen. Über den Rang eines SS-Hauptsturmführers kommt der Bauernsohn aus dem Burgenland nie hinaus.

SS-Täter Brunner im "Dritten Reich": Eichmanns bester Mann
Foto: DÖWBrunner lernt Kaufmann und versucht sich als Kaffeehauspächter. Mit 19 Jahren tritt er 1931 der NSDAP in Österreich bei, "ein begeisterter Kämpfer für die Idee", wie es in einer Beurteilung heißt. Seine Zeit kommt nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das "Dritte Reich" 1938. Eichmann holt ihn in seine Wiener "Zentralstelle für jüdische Auswanderung".
Dort im Palais Rothschild entsteht das sogenannte Wiener Modell, eine besonders effiziente Methode, Juden auszuplündern, bevor man sie aus dem Land treibt oder - ab 1941 - in großer Zahl ermordet.
Brunner zwingt die Opfer, in sogenannte Judenbezirke zu ziehen, und macht die jüdischen Gemeinden dafür verantwortlich, dass die Deportationsquoten eingehalten werden. Die Todgeweihten müssen ihre Wohnungsschlüssel abliefern; ihr Geschirr, ihre Bilder, ihre Möbel werden verstaatlicht oder unter Parteigenossen verteilt. Brunner selbst zieht mit seiner Verlobten, einer Stenotypistin der "Zentralstelle", in eine prachtvolle Villa aus jüdischem Besitz.
Als Eichmann nach Berlin wechselt, übernimmt Brunner die Nachfolge, bis er Wien 1942 als "judenfrei" meldet. Eichmann holt ihn nach Berlin in sein "Judenreferat" im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), der Terrorzentrale der SS. Später fällt auf, wie oft RSHA-Veteranen in dem Netzwerk zu finden sind.
Brunner eilt nun der Ruf voraus, er sei der Mann, der das "jüdische Problem in Wien gelöst" habe. Eichmann schickt ihn quer durch Europa. Der spätere israelische Historiker Saul Friedländer und der spätere französische Anwalt Serge Klarsfeld, der durch das Aufspüren von NS-Tätern bekannt wird, entkommen ihm in Frankreich nur knapp, sie sind zwölf und neun Jahre alt.
Die Flucht
Als das "Dritte Reich" zusammenbricht, taucht der Massenmörder unter. Er wechselt mehrfach die Identität und meldet sich Ende der Vierzigerjahre als Alois Schmaldienst in Essen an. Seinen Lebensunterhalt verdient er unter Tage und als Kellner.
Brunner profitiert davon, dass es eine wirkliche Stunde null nicht gibt. Quer durch die junge Bundesrepublik finden sich Politiker, Journalisten, Diplomaten, Geheimdienstler, die den demokratischen Neuanfang ablehnen. Manche fürchten schlicht um ihre bürgerliche Existenz, sollte bekannt werden, was sie in Hitlers Deutschland getrieben haben. Andere lösen sich nur schwer vom "Dritten Reich".

NS-Verbrecher Eichmann (3. v. r.) bei antijüdischer Razzia in Wien 1938: Effizient Juden ausplündern
Foto: Friedrich Franz Bauer/ BPKSadisten wie Brunner werden auch in solchen Kreisen nicht sonderlich geschätzt. Doch alle eint der Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Ebenfalls in Essen wohnt der Anwalt und langjährige Bundestagsabgeordnete Ernst Achenbach (FDP). Im Nationalsozialismus war er als führender Diplomat an der Botschaft in Paris "mit Judenangelegenheiten" befasst.
Achenbachs Kanzlei ist eine "Schnittstelle", so der Historiker Ulrich Herbert, zwischen der FDP und ehemaligen NS-Funktionären. Achenbach gehört zum rechten Flügel der Partei, die um die Stimmen der Millionen Wehrmacht- und SS-Veteranen buhlt. Diese Liberalen fordern eine Generalamnestie für NS- und Kriegsverbrecher, und Achenbach ist einer der Organisatoren der Kampagne.
Hilft Achenbach dem Mörder? Einige seiner Mandanten haben Verbindungen in Brunners unmittelbares Umfeld. Und Brunner selbst erzählt später in Syrien, er habe einen Vertrauten Achenbachs um falsche Papiere gebeten. Vergebens. Angezeigt wurde er allerdings auch nicht.
Jahrzehnte danach, kurz vor dem Mauerfall, ist ausgerechnet ein Sohn Achenbachs als westdeutscher Diplomat in Damaskus mit der Auslieferung Brunners betraut - und schreibt der Zentrale in Bonn, es habe keine Aussicht auf Erfolg, sich weiter bei den Syrern zu bemühen. Klaus Achenbach sagt heute, er könne sich daran nicht erinnern.
Brunners Vorteil: Ihm fehlt die übliche Blutgruppentätowierung unter dem linken Arm, an der SS-Leute zu erkennen sind. Auch hilft ihm, dass er bei der Jagd auf Juden in Wien mit einem Namensvetter zusammenarbeitete: Anton Brunner, genannt Brunner II. Dieser wird geschnappt und in Wien hingerichtet. Beide Fälle werden fortan häufig verwechselt. Erst 1961 stellt die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main einen Haftbefehl aus. Doch da ist Brunner I schon längst über alle Berge.
Die Bridgerunde
1954 wird Brunner unruhig, er will in den Nahen Osten und braucht einen Pass. Der ehemalige Sportlehrer Dr. Georg Fischer in Bonn hilft, ein Schlesier mit ebenfalls dunkler Vergangenheit: Er diente in der Einsatzgruppe A in der Sowjetunion, die vor seinem Eintreffen bereits über 300.000 Juden ermordet hatte.

Bridgepartner Rademacher 1952
Foto: Imago/ ZUMA/ KeystoneSpäter meldet sich Fischer beim SPIEGEL-Redakteur Mahnke. Der war wie Brunner beim Reichssicherheitshauptamt. Die beiden Männer treffen sich, und dann erzählt Ex-SS-Hauptsturmführer Fischer dem Ex-SS-Hauptsturmführer Mahnke, dass Ex-SS-Hauptsturmführer Brunner ihm den Pass geklaut habe. Allerdings kursiert noch eine andere, wohl realitätsnähere Variante: Danach hat Fischer das Reisedokument freiwillig hergegeben.
Immer wieder trifft Brunner auf Männer, zu denen es Verbindungen aus früheren Zeiten gibt. Er ist in Geldnot und wendet sich an Vogel, den CDU-Bundestagsabgeordneten. Während der Nazizeit hatte sich Vogel als Antisemit hervorgetan: "Der jüdische Einfluss muss schwinden."
Brunner und Vogel kennen sich laut Brunner aus Griechenland 1943. Der NS-Verbrecher trieb dort Juden zur Deportation zusammen, Vogel gehörte zur Propaganda-Abteilung Südost der Wehrmacht. Der CDU-Mann habe mit 300 Mark geholfen, etwa der Hälfte seiner monatlichen Grunddiät, erzählt Brunner später einem Vertrauten. Offenbar weil er seinerseits, wie er an anderer Stelle berichtet, Vogel einst "sehr gefällig gewesen" sei.

Abrechnung "Liquidation von Juden in Belgrad"
Foto: Michael Kappeler/ dapdMit Fischers Pass und Vogels Zuschuss flieht der NS-Mörder nach Ägypten und zieht dann nach Syrien weiter, für Hitler-Anhänger ein gutes Pflaster. Antisemitismus ist dort weit verbreitet, zu Nazizeiten war "Mein Kampf" ein Bestseller. Viele arabische Nationalisten erinnern sich wehmütig an die engen Beziehungen zu Nazideutschland, von dem sie sich ein Ende der französischen und britischen Kolonialherrschaft erhofften.
Der nun 42-jährige Brunner behält den Namen Fischer bei und vertritt Firmen wie die Dortmunder Actien-Brauerei oder die Schnapsfirma Mampe. Irgendwann steigt er in den Waffenhandel ein. Einer seiner Geschäftspartner: ein früherer Kollege aus dem Reichssicherheitshauptamt.
Mitte der Fünfzigerjahre ist die deutsche Gemeinde in Damaskus überschaubar: Wehrmachtveteranen, die von den Syrern geworben wurden, um die Streitkräfte auszubilden. Auch einige ehemalige Nahostexperten der SS, die ihre alten Kontakte vergolden wollen, sind dabei.
Von den Syrern, die den Deutschen misstrauen, lässt sich Brunner als Spitzel anwerben, wie ein Oberst aus dem syrischen Innenministerium in einem Brief schreibt, den die CIA abfängt. Der Oberst sagt, er habe einst freiwillig in der Waffen-SS gekämpft, mit Brunner spricht er Deutsch. Seine Söhne studieren in der Bundesrepublik.
Von den Bonner Vertretungen in der Region muss Brunner nichts befürchten. Der Generalkonsul in Damaskus war als Diplomat am Holocaust in Bratislava beteiligt, der Botschafter im Libanon an der Judenverfolgung in Monaco. Sein Nachfolger war wiederum ein persönlicher Mitarbeiter von Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop gewesen.
Für Brunner sind es entspannte Zeiten. Jeden Morgen um acht Uhr schlägt er den Weg zum Hotel Kassion ein, wo er ein Büro hat. Nach einiger Zeit lernt er bei einem Arztbesuch Witzke kennen, den späteren Mitbewohner. Witzke versucht sich in verschiedenen Jobs, zuletzt unterrichtet er Deutsch am Goethe-Institut. Als ein gemeinsamer Bekannter Damaskus verlässt, übernehmen Brunner und Witzke dessen Wohnung in der Rue Haddad.
Die Männer bleiben beim "Sie", und doch scheint der misstrauische Brunner Vertrauen zu fassen. Er nimmt Witzke mit zum Bridgespielen. Es ist die wohl grauenhafteste Kartenspielrunde der Weltgeschichte.
Am Tisch sitzt Franz Rademacher, einst "Judenreferent" des Auswärtigen Amts, 1952 verurteilt wegen Beihilfe zum Totschlag in 1300 Fällen. Nachdem er vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, floh er nach Syrien. Von ihm stammt die berüchtigtste Spesenabrechnung des "Dritten Reichs". Als Grund für eine Reise gab er an: "Liquidation von Juden in Belgrad".
Ein weiterer Mitspieler ist der Euthanasie-Arzt Emil Gelny. Auch er ist flüchtig. Auf sein Konto geht die Tötung einiger Hundert Behinderter in zwei österreichischen Heil- und Pflegeanstalten. Und Brunner mit seinen über 125.000 Opfern.
Beziehungspflege
Brunner hat Frau und Tochter in Österreich zurückgelassen. Er schickt ihnen Geld und prahlt vor Mitbewohner Witzke, dass er sie auch schon in Südtirol getroffen habe. Als Witzke 1957 in die Heimat fliegt, bittet Brunner ihn, einige deutsche Bekannte anzulaufen, darunter den CDU-Mann Vogel.
Für ihn gibt er Witzke eine Notiz mit, mit der er "recht herzliche Grüße" sendet. Er fragt nach Unternehmen, deren Interessen er "wahrnehmen könne". Im Jahr darauf kommt Vogel nach Damaskus. Ob er Brunner getroffen hat, ist unbekannt.
Angesichts der vielen Kontakte erstaunt nicht, dass Brunners Anwesenheit in der syrischen Hauptstadt kein Geheimnis bleibt. Am besten ist vermutlich der BND informiert, dem bis heute nachgesagt wird, Brunner angeheuert zu haben, wofür es allerdings keine Belege gibt. Aus den jetzt vorliegenden Unterlagen geht hervor, dass Pullach mehrere Quellen unter den Deutschen und Syrern im Umfeld des Mörders unterhält. Zudem gibt es einige Journalisten, die wissen, wo Brunner steckt, und zugleich zu Pullachs Informanten zählen.
Auch die Bonner Vertretung in Damaskus weiß Bescheid, obwohl sie 1982 behauptet, Brunner sei mit ihr "nie in Kontakt" getreten. Ein Blick ins Archiv des Auswärtigen Amts zeigt indes: Der Massenmörder meldet sich schriftlich oder schickt Bridgepartner Rademacher, wenn er etwas will, etwa seinen Pass verlängern. Da beruft er sich sogar auf seine "Bekanntschaft mit MdB Vogel". Immerhin, Reisepapiere scheint er nicht bekommen zu haben.
Brunner fliegt auf
Im Netzwerk der Ewiggestrigen macht man Geschäfte miteinander, empfiehlt sich gegenseitig beim BND als Informanten, hilft sich im Job. Vieles bleibt undurchsichtig. Wann helfen sich die alten Kameraden, wann nutzen sie einander aus oder erpressen sich sogar? Was ist Journalismus, was Geheimdienstarbeit oder Strafvereitelung?
SPIEGEL-Mann Mahnke bezieht nach eigenen Angaben seine Informationen über Brunner von Hermann Schaefer, einem FDP-Mann, der Geschäfte macht und zugleich als Journalist arbeitet. Schaefers Geschichten darüber, wie er Brunner gefunden hat, variieren. Nachweisen lässt sich, dass er einen pensionierten Diplomaten mit Nahosterfahrung aufsucht, der seinen Ruhestand an der Ostsee genießt. Der Pensionär empfiehlt Schaefer weiter an Brunners Bridgepartner Rademacher. Rademacher stellt ihn dann wohl in Damaskus bei Brunner vor.
Schaefer trifft Brunner nach eigenen Angaben 1959/60 ein knappes Dutzend Mal, und nicht nur Mahnke zeigt Interesse, auch die Anwaltskanzlei Gustav Heinemann/ Diether Posser, zu deren Mandanten Schaefer zählt. Heinemann wird später Bundespräsident, Posser Justizminister in Nordrhein-Westfalen. Die beiden Sozialdemokraten vertreten einen NS-Verbrecher vor Gericht und erhoffen sich von Brunner eine entlastende Zeugenaussage. Posser bittet Schaefer, Brunner darauf anzusprechen. Doch Brunner verweigert die Kameradenhilfe.
Ob Schaefer ihn aus Rache im SPIEGEL outen will? Er liefert jedenfalls dem Nachrichten-Magazin 1959 die Information, wo Brunner lebt, und ein Foto, das erste nach Kriegsende. Doch der SPIEGEL veröffentlicht zunächst nichts. Liegt das an Mahnke? Nachdem er zu Springer wechselt, bringt der SPIEGEL die Nachricht.
In der Ausgabe vom 1. Juni 1960 berichtet das Blatt über den inzwischen geschnappten Eichmann und das Geheimleben Brunners, mit Foto und Angabe des Decknamens "Dr. Georg Fischer".
Der "Stern", für den inzwischen der Brunner-Freund Hans Germani arbeitet, hält dagegen und schreibt, der SPIEGEL sei von Schaefer geleimt worden. Dieser wird mit Foto abgebildet und als Säufer geschildert, dem nicht zu trauen sei, da er im Auftrag des Ostens "die Schwerindustrie mit den Gräueln des Dritten Reiches in Verbindung bringen und sie so diffamieren möchte".

Gesprächspartner Genscher, Hafis al-Assad 1985 in Damaskus: Fall Brunner gar nicht erwähnt
Foto: Hartmut SchulzeDer Autor des "Stern"-Artikels ist unbekannt, die Vermutung liegt nahe, dass Germani dahintersteckt. Verbreitet er öffentlich Unwahres, um Brunner zu schützen? Will er Schaefer strafen?
Dass Germani den Kollegen Schaefer am liebsten mundtot machen würde, ist belegt. Er denunziert ihn beim syrischen Innenministerium. Zweimal planen die Syrer, Schaefer aus Beirut zu entführen. Zum Glück kommt es nicht dazu. Germani ist ein überzeugter Rassist und langjähriger BND-Informant, er wird später bei Springer Karriere machen.
Würstchen und Sauerkraut
So langsam wird es für Brunner eng. Die Israelis machen inzwischen Eichmann den Prozess. Die Weltöffentlichkeit interessiert sich nun auch für dessen Stellvertreter.
Am 13. September 1961 holt Brunner ein Paket auf dem Hauptpostamt ab. Als er es öffnet, explodiert ein Sprengsatz. Zwei Postbeamte sterben, Brunner überlebt schwer verletzt. Vielleicht war der Mossad der Absender, vielleicht ein anderer Dienst, den die Waffengeschäfte stören.
Der Vertrauensarzt der deutschen Botschaft behandelt Brunner, der mehrere Finger und das linke Auge verloren hat. Im Wartezimmer arrangiert der Mediziner ein Treffen mit einem Legationsrat. Dieser soll angeblich herausfinden, ob es sich bei dem Verletzten wirklich um Brunner handelt. Der Diplomat - ein ehemaliger Nazi - berichtet mitfühlend, der Nazimörder sei ein "Gebrochener und Verfemter, der in Ruhe gelassen sein will".
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Brunner vermutlich besser gefahren wäre, hätte er sich der westdeutschen Justiz gestellt. Ihm wäre nicht nur das Attentat erspart geblieben, er wäre wohl auch sonst glimpflich davongekommen. Keiner von Brunners Holocaust-Helfern erhält in der Bundesrepublik eine hohe Freiheitsstrafe.
Im Krankenhaus wird er bewacht, und es ist unklar, ob die Syrer ihn schützen oder eine Flucht verhindern wollen. Nach einem Staatsstreich teilt die syrische Regierung im Juli 1962 mit, sie halte es nicht "für ausgeschlossen", Brunner abzuschieben.
Doch das Blatt wendet sich. Auf einmal tischt Damaskus die Lüge auf, Brunner habe das Land verlassen. Ein Diplomat der Botschaft vermutet, die syrische Regierung könne es sich nicht erlauben, "einen in ihren Augen als Todfeind Israels Angesehenen auszuliefern". Und die Bundesregierung nimmt das hin.
Syrien ist ein Schlüsselland im Nahostkonflikt, zeitweilig bekommt das Regime Entwicklungshilfe, die Geheimdienste kooperieren, syrische Offiziere werden ausgebildet. Der Fall Brunner steht bei allen Bonner Regierungen auf der Prioritätenliste weit unten.
Die Botschaft solle in der Sache Brunner "nicht verstärkt" insistieren, "da dies den deutsch-syrischen Beziehungen schaden könne", schreibt 1982 ein Nahostexperte des AA. Im gleichen Jahr kommt ein junger Diplomat nach Damaskus, der Brunner vor Gericht bringen will: Guntram von Schenck. Eine Ortskraft verrät ihm, dass Brunner die Botschaftsleute mit "Kartoffeln, Sauerkraut, Würstchen" versorgt habe. Als sich herumspricht, was Schenck plant, versiegen die Informationen. "Ich bekam nichts mehr heraus", erzählt er heute.
Erst 1984, über 20 Jahre nach Brunners Enttarnung in Damaskus, stellt Bonn einen Auslieferungsantrag, den die Syrer ignorieren. Warum sollen sie ihn ernst nehmen? Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) spricht den Fall nicht einmal an, als er 1985 Syrien besucht.
Brunner spricht nun mit Journalisten aus aller Welt. Sie schildern hernach einen immer noch hasserfüllten Antisemiten. Er ist im Rentenalter, geht frühmorgens im Zenobia-Park spazieren, hält Kaninchen.
Kurz vor der Jahrtausendwende kommt noch einmal Bewegung in den Fall. Deutsche und französische Ermittler starten einen letzten Versuch. Sie wollen beweisen, dass Brunner in Syrien lebt, hören das Telefon seiner Tochter ab, kontrollieren ihre Post (SPIEGEL 40/1999).
In Berlin regiert nun Rot-Grün, und Außenminister Joschka Fischer bedrängt seinen syrischen Kollegen, Brunner zu überstellen. Der Syrer verspricht eine Antwort und lässt dann ausrichten: "There is no such person in Syria." Hat Brunner das Land verlassen? Ist er tot?
Die Nachrichtenlage ist verwirrend. Eine Ortskraft der Botschaft und ein syrischer Flüchtling in Deutschland erzählen, sie hätten Brunner gesehen. An den Verstümmelungen ist er gut zu erkennen.
Es gibt allerdings auch gegenteilige Meldungen. Ein französischer Journalist berichtet, Brunner sei 1996 im Krankenhaus verstorben. Später verbreitet das Simon-Wiesenthal-Zentrum, der SS-Mann sei seit 2009 tot.
Das französische Magazin "XXI", das vor wenigen Wochen meldete, Brunner sei 2001 verschieden, beruft sich auf ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter. Danach liegen die Überreste Brunners, gewaschen nach islamischen Geboten, auf dem Friedhof Afif in Damaskus.
Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht. Solange der Bürgerkrieg in Syrien tobt, kann die zuständige Kölner Staatsanwaltschaft die Angaben nicht überprüfen. Dass das Assad-Regime Rechtshilfe gewährt, sei nicht zu erwarten, so die Ermittler.
Möglicherweise erledigt sich der Fall Brunner aber auch von selbst. Sein Haftbefehl erlischt in Deutschland 110 Jahre nach der Geburt des Verdächtigen. Bei Alois Brunner wäre das der 8. April 2022.