Heimat Was ein Schweizer im Ausland vermisst

Alphorn-Wettbewerb in der Schweiz: Welche Heimat meinen wir eigentlich?
Foto: RUBEN SPRICH/ REUTERSIm neuen Werbespot der SBB gleitet eine junge Frau durch eine ästhetische Welt aus Bahnhöfen, Zugabteilen und atemberaubenden Landschaften. Sie fährt Zug. In der Schweiz. Sie ist jung und schön, und sie braucht nicht die Welt zu erobern, denn sie lebt schon im Paradies. Das ist es, was diese Bilder erzählen.
Das Schlimmste, was in ihrem Leben passieren kann, ist, dass sie ihr General-Abo mal nicht gleich findet, wenn der Kondukteur auftaucht. Einmal schläft eine Fremde an ihrer Schulter ein, aber das macht nichts, denn vor dem Zugfenster ist es wirklich sehr, sehr schön. Dazu erklingt ein Duett, das zwei SBB-Angestellte eingesungen haben: This is home. This is where we belong. Welcome home.
Das ist die SBB, das ist die Schweiz, hier sind wir daheim.
Als ich dieses Video sah, wurde mir warm ums Herz. Dann musste ich lachen, weil mir die Selbstliebe so übertrieben erschien. Dann kullerte mir eine Träne der Rührung aus dem Auge, und ich sah es mir noch mal an.
Das Problem der Schweizer ist nie gewesen, dass es uns an Heimatliebe mangelt. Vielleicht hält sie unser vielfältig zusammengesetztes Land mehr zusammen als alles andere: die unbedingte Zuneigung zu seiner Schönheit, seinem Reichtum, seiner Unversehrtheit, zu seiner Geschichte und ihren Mythen. Zu diesem Heimatgefühl gehört die SBB selbstverständlich dazu, weil sie sauber und pünktlich ist, weil ihre Schienen die Lebensadern dieses Landes sind und alle Stationen des Paradieses miteinander verbinden. Sie verkörpert diesen Staat mehr noch als das Bundeshaus.

Was ist Heimat?: Die Antworten der SPIEGEL-ONLINE-Leser in Bildern
Ich wohne seit acht Jahren im Ausland, die meiste Zeit davon in Hamburg, seit kurzem in Paris. Nach Deutschland bin ich damals durch Zufall geraten, es war für mich als Journalist in Deutschland interessanter als zu Hause in der Schweiz. Kurz bevor immer mehr Deutsche sich in die Schweiz aufmachten, um von höheren Gehältern, niedrigeren Steuern und der angeblich weltweit höchsten Lebensqualität zu profitieren, fuhr ich in die entgegengesetzte Richtung.
Nichts Schweizerischeres als die Mischung aus Fern- und Heimweh
Es ist kein Wunder, dass ich, wie jeder Auswanderer, meine Heimat bald zu idealisieren begann, ihre Schönheit, ihre Multikulturalität, ihre Bürgernähe. Das Gesamtwerk von Gölä und Patent Ochsner beweist, dass es nichts Schweizerischeres gibt als jene eigenartige Mischung aus Fern- und Heimweh.
Ich habe auch nie ganz aufgehört, mit dem Land zu hadern, in das es mich verschlagen hat. Mein Verhältnis zu Deutschland ist kompliziert und, seit ich hier lebe, auch mein Verhältnis zu meinem eigenen Land. Aber ich blieb wesentlich länger, als ich geplant hatte, und obwohl Deutschland für einen Schweizer kein Sehnsuchtsland ist, anders als Frankreich, Italien, die USA, habe ich es liebgewonnen. Deutschland hat es schwerer, seinen Bürgern das Gefühl von Heimeligkeit zu bieten, mit dem die Schweiz ihre Bürger umarmt.
Es ist auf dem Boden der Realität gebaut, auf den Trümmern der Bombenangriffe, und es trägt in seinem Innern ein Gefühl von Verlust. Selbst da, wo seine Städte schön sind, kann hinter der nächsten Ecke eine Schneise aus Nachkriegsbauten daran erinnern, wie gezeichnet dieses Land von seiner Geschichte ist. Deutschland kann sich selbst nicht lieben. Es ist ein gebrochenes Land, nicht heil wie meine Heimat, und das Heile ist es, wonach ich mich in der Fremde immer gesehnt habe. Deutschland steht für das Gegenteil des Auserwähltheitsglaubens, den wir Schweizer verinnerlicht haben: dass uns nie etwas passieren könne. Aber wir ahnen ja, dass genau das nicht mehr stimmt.
Je länger ich weg bin, desto unwirklicher erscheint mir die Schweiz mit ihrer prallen Bürgerlichkeit, wenn ich sie besuche. Ich staune über den Reichtum, der sich schon bei der Ankunft im Zürcher Flughafen zeigt, in den Einkaufsstraßen, in der Kleidung der Menschen. Und in den übereinandergestapelten Tablets und iPhones in den Zügen, die den herrlichen Song von Dabu Fantastic bestätigen: "Jedä hät än Mac, näi, näi, er hät siebä." Die Schweiz ist stets frisch gestrichen. In den Augen des Auslandsschweizers, in meinen Augen, gleicht sie zunehmend der Kunstwelt aus diesem SBB-Spot.
Ein Disneyland für die oberen Klassen
Als ich nach Deutschland kam, ärgerte mich das klischeehafte Bild, das dort von der Schweiz herrscht. Das wenige, was man über "die Alpenrepublik" weiß, ist ein verzerrter Witz, es entspricht Bildern aus Urlaubsprospekten und "Heidi"-Filmen. Es ist eine Schweiz, die nicht existiert, bevölkert von lustig sprechenden Bergbewohnern. Wer reich ist, kann dort Urlaub machen, ein Disneyland für die oberen Klassen.
Das Verblüffende ist, wie sich, je länger ich weg bin, die Bilder angleichen, die sich die Schweizer von sich selbst machen, und die sich das Ausland von ihnen macht. Wir ärgern uns, wenn die Deutschen uns für Alpöhis halten, aber wir zelebrieren die Klischees selbst, und ich bin überzeugt, wir identifizieren uns mit ihnen. Wir sind stolz auf sie. Nicht nur ich, der Schweizer in der Fremde, sehnt sich nach der heilen Schweiz, sondern auch die Schweizer, die zu Hause geblieben sind.
Ich frage mich, ob die idealisierte Heimat für die Schweizer nicht zu einem Fetisch wird, der die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ersetzt.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass an diesem Idyll etwas nicht stimmt. Während Europa in der größten Finanzkrise seit Jahrzehnten steckt, während europäische Länder zusammengespart werden und die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien gegen 50 Prozent steigt, erscheint mir die Schweiz als ein Ort abseits der Realität. Ihr geht es so gut wie kaum je zuvor. In welchem anderen Land ließe sich ernsthaft über einen Mindestlohn von 4000 Franken diskutieren? Die Schweiz scheint sich vom Rest der Welt entkoppelt zu haben, und obwohl mich freut, dass mein Land im Europa der Schulden eine Insel ist, liegt darin auch etwas Unheimliches.
Welche Heimat meinen wir eigentlich, wenn wir Heimat sagen?
Wenn ich die Schweiz besuche, spüre ich, dass sich etwas verändert hat, seit ich das Land 2004 verlassen habe. Hinter der Fassade gärt eine Angst. Vor der Zukunft, um den Wohlstand, um das Geld auf dem Bankkonto, vor den Deutschen und der "Massenzuwanderung". Diese Angst zu spüren macht mir die Schweiz fremd. Die Bilder aus dem SBB-Spot erzeugen dagegen das behütete Gefühl, das mir meine Kindheit in der Schweiz gab, die Gewissheit, dass einem nichts passieren kann.
Die Heimat wird derzeit ja auch sonst unablässig inszeniert und von innen bespiegelt, es ist, als ob alle sie ein letztes Mal festhalten wollten: Man braucht sich nur die unzähligen Buchdeckel anzusehen, von denen das Schweizerkreuz prangt, Sendungen wie "SF bi de Lüt" oder Filme wie "Sennentuntschi". Oder die urbanen Hipster, die alle das Jassen entdeckt haben.
Das Ende der linken Schweiz-Kritik
Heimat war in der Schweiz nie ein problematisches Wort. Der Schweizer mag seine Heimat oder liebt sie gar, ob er Christoph Blocher oder Jean Ziegler heißt, die Frage war immer nur, auf welche Weise. Blocher erfand in den neunziger Jahren den Kampfbegriff "heimatmüde", um seine Gegner zu desavouieren. Ziegler ist der letzte verbliebene Schweiz-Kritiker.
In meiner Jugend gab es noch eine ganze Reihe von ihnen, im linken Lager, sie sind aus der Mode gekommen. Das Ende der linken Schweiz-Kritik fällt interessanterweise mit dem Erscheinen des Berichts der Bergier-Kommission zusammen, die auf Druck des Auslands die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg untersuchte. Wenn die Schweiz von außen angegriffen wird, sei es von amerikanischen Anwälten oder einem polternden Peer Steinbrück, rücken alle zusammen.
Es gibt noch ein Video, das mich in den vergangenen Wochen rührte: In einem amateurhaften Wahlspot der FDP Reinach waren Politiker zu sehen, die im Chor sangen: "Gäll du wählsch mi, gäll du willsch mi, mir sind FDP". Das war alles. Natürlich fällt es leicht, sich über Provinzialität lustig zu machen. Aber mir schien bemerkenswert, dass sich in diesem Werk genau das postpolitische Gefühl ausdrückt, das die Schweizer Politik jenseits der lauten SVP auszeichnet: Es geht uns gut, lasst uns nicht über die Wirklichkeit reden. Wählt uns, wir sagen euch aber nicht, warum.
In Wahrheit wissen wir Schweizer seit 20 Jahren, dass es nicht weitergehen wird wie bisher. Es begann mit der Auseinandersetzung über nachrichtenlose Vermögen, es folgten die bilateralen Abkommen mit der EU, die Angriffe auf das Bankgeheimnis. Wenn ich den politischen Diskurs der vergangenen 20 Jahre zusammenfassen soll, würde ich ihn beschreiben als einzigen Streit um das richtige Bild von der Heimat und darum, wie man sie bewahren kann. Christoph Blocher und die SVP haben diese Debatte gewonnen. Nicht, weil alle Schweizer ihre Vorstellungen teilen, sondern weil die SVP ihre defensive Sicht, dass die Heimat von außen bedroht sei, dem ganzen Land aufgezwungen hat. Die Angst vor dem Verlust der Heimat bewegt viele Schweizer tief. Sie gehört nicht einem politischen Lager allein. Sie hat das Land dazu getrieben, den EWR-Beitritt abzulehnen, aber auch der Alpeninitiative und dem Verbot von Zweitwohnungen zuzustimmen. Vor diesem Hintergrund muss man auch die Annahme der Minarett-Initiative sehen und das Verbot von Hochdeutsch in Zürcher Kindergärten.
In Deutschland zum Schweiz-Erklärer geworden
Ich bin in Deutschland zum Schweiz-Erklärer geworden. Wenn ich mich aus der Ferne mit ihr auseinandersetzte, habe ich oft von ihr geschwärmt, aber ich bin auch oft an ihr verzweifelt. Was ist das für ein Land, dessen Politik nur aus Rückzugsgefechten besteht? Noch ein Abkommen zur Aufweichung des Bankgeheimnisses, wieder 10.000 Steuerflüchtlinge an Amerika verraten. Es ist ein Land, das immer noch einen Schritt rückwärts macht, in dem aber niemand eine Idee für die Zukunft hat. Die Frage, über die niemand spricht, lautet: Wird die Schweiz, wenn das Bankgeheimnis eines Tages ganz verschwunden sein wird, immer noch so reich sein?
Als ich nach Deutschland kam, versuchte ich, von der Schweiz zu erzählen, wie ich sie kenne. Von der wahren Schweiz. Von dieser großen Vorstadt zwischen St. Gallen und Lausanne, die Stiller Has in "Walliselle" besingen, vom helvetischen Mittelland in seiner melancholischen Banalität, vom Aargau und vom Shoppyland. Aber natürlich interessierte das niemanden.
Welche Heimat meinen wir eigentlich, wenn wir Heimat sagen?
Die Kunst-Schweiz im SBB-Werbespot rührt mich an, weil sie mich an etwas erinnert, dessen Untergang ich selbst befürchte. Aber wenn ich ehrlich bin mit mir selbst, weiß ich, dass es nicht diese Nostalgie-Schweiz ist, von der ich mir für die Zukunft am meisten verspreche.
Ich bin groß geworden in der Nähe von Olten, zwischen Jurahügeln, Schnellstraßen und Geleisen. Die Alpen liegen von da aus weit am anderen Ende des Nebelmeeres, das wir an Herbstwochenenden von der Belchenflue aus überblickten. In dieser Vorstadt-Schweiz, in der die meisten von uns leben, sah eine junge Schweizerin schon vor 20 Jahren nicht mehr unbedingt aus wie die junge blonde Frau im SBB-Spot, weil sie womöglich kroatische, arabische oder thailändische Wurzeln hatte. Die Schweiz war schon in meiner Jugend multikulturell, heute liegt der Ausländeranteil bei über 22 Prozent. Das ist die wirkliche Schweiz, nicht der SVP-Puurezmorge.
Das ist die Welt, aus der ein Rapper wie Baba Uslender stammt, ein Albaner aus Luzern, der in seinem "Baustellsong" auf YouTube in gebrochenem Schwyzerdütsch zu Handörgeli rappt, ein bitterironischer Song, der vom Streit zwischen einem Italiener und einem Albaner auf einer Baustelle handelt.
Dieses Video treibt mir nicht die Tränen in die Augen. Aber ich weiß, dass es mehr mit der echten Schweiz zu tun hat. Ich würde Baba Uslender am liebsten bitten, den SBB-Werbespot zu remixen. Das ergäbe ein realistisches Bild der S-Bahn-Schweiz, in der es schon lange nicht mehr idyllisch zugeht, die aber voller Energie steckt, in der es manchmal eng ist und dreckig. Sie hat eine Kraft, die größer ist als die Nostalgie. Das ist die Heimat, die ich vermisse.