Fluchtursachen Die Lehre aus der Geschichte

Angesichts steigender Flüchtlingszahlen wird darüber diskutiert, die Fluchtursachen in den afrikanischen Herkunftsländern von außen zu bekämpfen. Doch dieser Glaube ist vor allem eines: naiv.
Immigranten am Grenzzaun von Ceuta, der spanischen Enklave in Nordafrika

Immigranten am Grenzzaun von Ceuta, der spanischen Enklave in Nordafrika

Foto: Reduan/ dpa

Gekenterte Schlauchboote, angeschwemmte Leichen, Menschen, die zu Tode erschöpft die italienische Küste erreichen. Das Mittelmeer ist in diesem Jahr endgültig zum Mare Monstrum geworden, zu einem Meer des Schreckens. Nach groben Schätzungen sind 2016 mindestens 5000 Menschen auf der Überfahrt nach Europa ertrunken, mehr denn je.

Und immer mehr Flüchtlinge und Migranten wählen diese Route, trotz des tödlichen Risikos.

Die meisten von ihnen kommen aus Afrika. Aus einem Erdteil, der in Europa als Bedrohung wahrgenommen wird, als K-Kontinent. K für Katastrophen, Kriege, Krankheiten, Korruption. 50 Millionen Afrikaner säßen auf gepackten Koffern, behaupten Rechtspopulisten. Solche Fantasiezahlen schüren in postfaktischen Zeiten die Ängste der Bevölkerung vor einer "Flüchtlingsflut", und die konfuse Migrationspolitik der EU verstärkt die allgemeine Verunsicherung.

Wir sollten uns viel mehr für das Schicksal unseres Nachbarkontinents interessieren, Afrikas Wohlergehen sei im Interesse Deutschlands, mahnt Bundeskanzlerin Angela Merkel und wiederholt ihr Mantra zur Lösung des Problems: Man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, um den Migrationsdruck zu vermindern. Im Klartext heißt das: Die Afrikaner sollen bleiben, wo sie sind. Seit dem Beginn der Flüchtlingskrise haben Rettungsvorschläge für Afrika wieder Konjunktur. Wie realistisch ist das?

Unter dem deutschen Vorsitz des Klubs der G-20-Staaten will die Kanzlerin den maroden Kontinent zu einem Schwerpunkt machen. Der angestaubte Club of Rome empfiehlt einen Marshallplan für die afrikanischen Staaten. Entwicklungshilfeminister Gerd Müller unterstützt diese Idee und fordert einen "neuen umfassenden Zukunftsvertrag" mit Afrika.

Solche Anläufe gab es immer wieder mal. Aber wer kann sich heute noch an die Nord-Süd-Kommission unter Willy Brandt oder an die Afrika-Initiative eines gewissen Tony Blair erinnern?

Alle wohlmeinenden Mammutpläne wurden schnell wieder zu den Akten gelegt. Oder sie sind gescheitert. Denn sie beruhten auf der schlichten Philosophie des Big Push: Viel hilft viel. Doch die auf insgesamt zwei Billionen Dollar geschätzten Entwicklungsgelder, die in den vergangenen 60 Jahren geflossen sind, haben wenig bewirkt. Warum sollte nun plötzlich gelingen, was seit Jahrzehnten nicht funktioniert?

Wirtschaftsexperten warnen vor einem Marshallplan nach amerikanischem Modell. Er habe Europa in einen Absatzmarkt für US-Firmen verwandelt, stellt Asfa-Wossen Asserate fest. Der deutsche Unternehmensberater mit äthiopischen Wurzeln befürchtet, ein derartiger Plan könnte Afrika mittelfristig mehr schaden als nutzen.

In den Niederungen der Realpolitik fallen die Rettungsinitiativen bescheidener aus: Merkels Regierung hat lediglich punktuelle Maßnahmen anzubieten, die mit Blick auf die nächste Bundestagswahl wohl eher zur Beruhigung gedacht sind. Die Kanzlerin will an der Macht bleiben, sie muss zeigen, dass sie nach dem stillen Abschied von der Willkommenskultur etwas gegen das Flüchtlingsproblem tut, kein anderes Thema wühlt die Bürger so sehr auf.

Die bevorzugte Medizin sind sogenannte Migrationspartnerschaften, Abkommen mit afrikanischen Staaten, die die Zuwanderung eindämmen sollen. Auf dem Beipackzettel könnte auch stehen: Wir zahlen, ihr haltet uns eure Armen vom Leib.

Au Revoir - Auf Wiedersehen. Dies Plakat wurde anlässlich des Besuch von Bundeskanzlerin Merkel im Niger aufgestellt

Au Revoir - Auf Wiedersehen. Dies Plakat wurde anlässlich des Besuch von Bundeskanzlerin Merkel im Niger aufgestellt

Foto: Michael Kappeler/ dpa

Der Deal mit dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan zeigt, dass man mit solchen Abwehrbündnissen viel Geld verdienen kann - Ankara erhält bis zu sechs Milliarden Euro, um Flüchtlingen den Weg in die EU zu erschweren oder zu versperren. Niger, das wichtigste Transitland für afrikanische Migranten, bekommt für denselben Zweck bereits eine Budgethilfe aus Brüssel, insgesamt gut 600 Millionen Euro. Und schon fordert der nigrische Präsident eine weitere Milliarde. Flüchtlinge als Währung - ein profitables Geschäft.

Derartige Migrationspartnerschaften sind, genau betrachtet, nur eine Art vorverlagerte Grenzsicherung, an der sich korrupte Politiker bereichern. Im Falle Eritreas alimentiert man sogar eine Despotie, die Zehntausende Menschen aus dem Land treibt. So werden nicht Fluchtursachen bekämpft, sondern Flüchtlinge.

Überdies zeigen afrikanische Machthaber trotz gegenteiliger Beteuerungen wenig Interesse, die Abwanderung zu begrenzen. Denn die Rücküberweisungen der afrikanischen Diaspora - jährlich rund 58 Milliarden Euro - sind willkommene private Entwicklungsleistungen, die ihre Staaten entlasten. Zugleich werden sie dank Migration unzufriedene und rebellische junge Männer los.

Aber die sind in den Wohlstandsfestungen des Nordens unerwünscht. Grenzen dicht!, schreien dort nicht nur die Fremdenfeinde. Das Vorbild der Abschottungspolitik liefert der künftige US-Präsident Donald Trump, der elf Millionen illegale Einwanderer deportieren und eine gewaltige Grenzmauer zu Mexiko errichten will.

Wir scheinen vergessen zu haben, dass in Zeiten, in denen es Europa schlecht ging, 60 Millionen Menschen emigrierten. Dass die Geschichte der Menschheit auch eine Geschichte der Völkerwanderungen ist. Der Homo migrans, der umherziehende Mensch, sucht nach einem besseren Leben. Das wird so bleiben und sich durch extreme globale Ungleichheiten verschärfen. Man kann nur versuchen, diese Kluft einzuebnen und auf lange Sicht den Wohlstand zu globalisieren - das ist die eigentliche Jahrhundertaufgabe der Weltgesellschaft.

Migration sei das wirksamste Mittel gegen die Armut, sagt Angus Deaton, Nobelpreisträger für Wirtschaft. Deshalb braucht die EU dringend eine neue Einwanderungspolitik, die legale Migration in größerem Ausmaß zulässt und den temporären Austausch von Arbeitskräften, Schülern, Studenten und Auszubildenden verstärkt.

Zu einer solchen Politik gehören andererseits auch Restriktionen, die nicht den Beifall der liberalen Öffentlichkeit finden werden. Zum Beispiel striktere Grenzkontrollen, um die Zahl illegaler Einwanderer zu reduzieren.

Es geht dabei keineswegs um jene Obergrenze, wie sie die CSU fordert. Aber es müssen Aufnahmekontingente für Migranten festgelegt werden, um den sozialen Frieden in den Zielländern zu bewahren und die Anreize für einen Massenexodus einzuschränken, bei dem die Herkunftsländer junge, hoch motivierte Menschen verlieren. Denn es sind oft gerade die besser ausgebildeten und wohlhabenderen, die gehen.

Nachhaltig helfen aber kann Afrika nur eine grundlegende Reform unserer Handels- und Entwicklungspolitik. Die EU müsste etwa die Abkommen mit dem trügerischen Namen "Economic Partnership Agreements" (EPA) überdenken. Denn in der jetzigen Form haben sie wenig mit Partnerschaft zu tun, im Gegenteil: Es sind aufgezwungene Freihandelsverträge, die es den Europäern ermöglichen, afrikanische Märkte mit hoch subventionierten Agrarprodukten zu überfluten. Den Schaden haben die einheimischen Bauern: Sie können gegen die Billigimporte nicht konkurrieren, verlieren ihre Lebensgrundlage - und brechen irgendwann Richtung Europa auf.

Sogar Günter Nooke, der Afrika-Beauftragte der Bundeskanzlerin, kritisierte die Handelsverträge: Sie sollten nicht kaputt machen, was man durch Entwicklungshilfe aufgebaut habe. Konsequenzen will man aus dieser Einsicht allerdings nicht ziehen, denn dann müsste man ja das globale Raubwirtschaftssystem und all die neoliberalen Glaubensdogmen infrage stellen, die viele Probleme erst heraufbeschworen haben.

Auch im Umgang mit afrikanischen Regimen, die ihre Länder plündern und Hilfsgelder in großem Stil veruntreuen, wie im Südsudan, in der Demokratischen Republik Kongo oder Burundi, hat man nichts gelernt. Dabei gäbe es durchaus Druckmittel. Man könnte einem Vorschlag der Afrikanischen Union folgen und die enormen Summen konfiszieren, die Kleptokraten auf ausländische Schwarzkonten geschleust haben.

Nimmt man die Steuerbetrügereien multinationaler Rohstoffkonzerne hinzu, durch die Afrika pro Jahr geschätzte hundert Milliarden Dollar verlieren soll, wäre reichlich Kapital für große Aufbauprogramme vorhanden.

Ohne einen Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik werden sie allerdings scheitern. Afrikaner und Europäer müssen deshalb gemeinsam eine kohärente Strategie entwerfen, die die Fehler der Vergangenheit korrigiert. Zuallererst bedarf es wirksamer Kontrollinstrumente, damit Machtcliquen in Ländern wie Simbabwe oder Nigeria die Hilfe nicht weiterhin missbrauchen.

Entscheidend aber ist: Entwicklung lässt sich nicht wie eine Impfkampagne exekutieren. Sie kann nicht von außen aufgepfropft werden, sondern muss von innen kommen, und junge Menschen sind dabei die wichtigste Triebkraft. Doch die meisten Regierungen Afrikas zerstören deren Zukunftschancen und sehen gleichgültig zu, wie junge Afrikaner massenhaft abwandern.

Denkmal zur Unabhängigkeit Senegals: Blick in den Norden

Denkmal zur Unabhängigkeit Senegals: Blick in den Norden

Foto: Nic Bothma/ dpa

In der jetzigen Krise gab es keinen einzigen Migrationsgipfel der Afrikanischen Union, keine nennenswerte Anstrengung eines Staates, um den Aderlass zu drosseln.

Dabei könnten die Eliten Afrikas viel tun - wenn sie nur wollten. Zum Beispiel besser regieren, knappe Mittel gerechter verteilen, die Korruption bekämpfen, den innerafrikanischen Handel ankurbeln, ein stabiles Investitionsklima schaffen. Vor allem aber: das rapide Bevölkerungswachstum verlangsamen, denn es macht kleine Entwicklungsfortschritte schnell wieder zunichte und erhöht den Migrationsdruck.

Schon im Jahr 2050 werden in Afrika voraussichtlich 2,4 Milliarden Menschen leben - doppelt so viele wie heute. Bei ungebremster Zunahme der Bevölkerung ist es noch keinem Land gelungen, sich aus der Armut zu befreien.

Diese Lehre aus der Geschichte hat man in Afrika noch nicht gezogen oder will sie nicht ziehen. Die meisten Regierungen scheinen sich lieber an die Botschaft des "Monuments der afrikanischen Renaissance" zu halten. Das gigantische Denkmal am Rande der senegalesischen Hauptstadt Dakar stellt eine afrikanische Familie dar, die in den Norden schaut: Denn dort liegt ein Paradies namens Europa, dort ist die Zukunft.

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